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Viel Sympathie trotz Dreck und Gestank

Der Streik der Beschäftigten der städtischen Müllabfuhr in Rio de Janeiro 2014

Es ist der 28. Februar 2014. Karneval, eines der größten Feste in Rio de Janeiro, sowie der Jahrestag der Stadtgründung stehen vor der Tür. Die Gewerkschaft der Müllabfuhr der Stadt Rio unterschreibt nach einer Sitzung mit ihren unzufriedenen Mitgliedern ein Dokument, das für den 1. März eine 24-stündige Arbeitsniederlegung festlegt. Was zunächst nur als befristetes Druckmittel für die Verhandlungen mit dem Rathaus gedacht ist, entwickelt sich zu einem heftigen Arbeitskampf, bei dem die Stadtregierung, aber auch die Gewerkschaftsführung, ziemlich schlecht aussehen.

Renan Monteiro Marques

Bereits am Morgen des 1. März 2014 sind die Straßen Rios voller Abfall und die Gewerkschaft revidiert ihre Entscheidung für den Streik. Noch am gleichen Morgen wird die Arbeitsniederlegung vom städtischen Arbeitsgericht für verfassungswidrig erklärt, weil sie, so Rosana Salim Villela Travesedo vom lokalen Arbeitsgericht, „mindestens 72 Stunden im Voraus hätte angekündigt werden müssen“. Für den Fall der Fortsetzung des Streiks wird eine Geldstrafe in Höhe von 25 000 Reais (damals rund 8000 Euro) pro Tag festgesetzt. Die Leistungen der Müllabfuhr dürften vor zwei wichtigen Festen wie Karneval und dem Stadtjubiläum nicht eingestellt werden.

Trotz des Verbots demonstrieren viele MüllarbeiterInnen am Nachmittag des gleichen Tages auf der Straße, werden jedoch von der Polizei vertrieben. Die Schätzungen über die Teilnehmerzahl liegen weit auseinander. Laut Polizei handelte es sich um 500 Demonstrierende, die MüllarbeiterInnen meinen, sie seien 3000 gewesen.

Am nächsten Tag behaupten Regierung und Gewerkschaft einhellig, es gebe keinen Ausstand, die Streikenden werden als „kleine Gruppe ohne Repräsentativität“ bezeichnet. Doch an diesem Tag werden die Straßen noch schmutziger. Einige StreikbrecherInnen arbeiten unter Polizeischutz. Die Medien und die Stadtregierung erklären, dies sei eine Sicherheitsmaßnahme, die Streikenden wollten die Nichtstreikenden an der Arbeit hindern. Gleichzeitig nimmt der Druck auf die Streikenden zu, ihnen wird mit Kündigung gedroht.

Unterdessen werden die Straßen immer schmutziger, bei 40 Grad Hitze quillt die Stadt langsam vor Müll über, der Gestank ist unerträglich. Doch der Streik wird von Regierung und Medien noch immer als „Gerücht“ bezeichnet. Laut Aussage der MüllarbeiterInnen beläuft sich die Zahl der Streikenden auf 6000, laut Stadt sind es 300, ihnen solle gekündigt werden, wenn sie den illegalen Streik fortsetzten. Am 3. März legen die Arbeitgeber das erste Angebot vor: neun Prozent Gehaltserhöhung und andere Zusatzleistungen. Die Gewerkschaftsführung akzeptiert das Angebot, doch die streikenden KollegInnen lehnen ihn ab. Die Gewerkschaft vertritt ihre Mitglieder nicht mehr.

„Wir wollen 1200 Reais (eine Erhöhung von 49 Prozent) plus weitere Leistungen. Ich finde es gerecht. Wir arbeiten in der Sonne, bei Regen und Wind und auch an Feiertagen wie Silvester und Weihnachten“, erklärt Célio Viana, ein Vertreter der Streikenden. An den folgenden Tagen, dem 6. und den 7. März, gibt es weitere Demonstrationen. Der Müll häuft sich weiter. Im Westen der Stadt wird ein Platz zur Müllhalde umfunktioniert, einige dort liegende Geschäfte schließen aus diesem Grund. Der Abfall wird zur Krankheitsgefahr. Der Bürgermeister empfiehlt den BürgerInnen, ihren Abfall zu Hause zu lagern. Es scheint, dass keine Verhandlungen und keine Lösung in Sicht sind.

Am 7. März findet der Streik dann doch ein Ende. Am Morgen gibt es eine erste Verhandlungsrunde, in der es noch zu keiner Schlichtung kommt. Am Nachmittag gibt es eine zweite große Sitzung, an der Rathaus, Gewerkschaft, Arbeitsgericht und drei Vertretern der Streikenden teilnehmen. Die MitarbeiterInnen der Müllabfuhr setzen eine Lohnerhöhung um 37 Prozent durch, von 803 auf 1100 Reais (von rund 260 auf rund 350 Euro) im Monat. Der tägliche Essenszuschlag wird von zwölf auf 20 Reais erhöht. Schließlich werden 300 schon beschlossene Kündigungen für Streikende zurückgenommen.

Interessant war die Rolle der Stadtregierung während des Streiks. Obwohl rund 70 Prozent der 15 000 Müllmänner an dem Streik teilnahmen und obwohl die Straßen rasch von Abfall überquollen, stritt die Stadt lange Zeit ab, dass es überhaupt einen Streik gegeben habe. Nach offizieller Darstellung handelte es sich lediglich um eine kleine Gruppe vereinzelter Streikender. Am Morgen des 7. März, dem Tag des Streikendes, bezeichnete der Bürgermeister Eduardo Paes (der wie viele brasilianische PolitikerInnen die Parteizugehörigkeit schon mehrfach gewechselt hat und nun der Mitte-Rechts-Partei PMDB angehört) den Streik noch als „Aufstand“. Nur sechs Stunden später, nachdem ein Abkommen beschlossen war, nannte er die MüllarbeiterInnen die „Seele der Stadt“. Seinen raschen Meinungsumschwung begründete er mit der Erfahrung während der Verhandlungen: „Es ist das erste Mal, dass wir eine organisierte Sitzung hatten. Es ist schwierig, mit einer Bewegung zu diskutieren, deren Vertreter wir nicht kennen. Bisher gab es keine klaren Ansprüche.“
Überraschenderweise erhielten die MüllarbeiterInnen von der Bevölkerung großen Zuspruch und Solidarität, und das obwohl die Zustände während der Karnevalsfeiern teils katastrophale Ausmaße annahmen. Den streikenden KollegInnen wurde von den KarnevalistInnen zugejubelt, sie wurden zu einem Symbol des Widerstands. Der Polizeischutz für die StreikbrecherInnen wurde von Teilen der Bevölkerung negativ bewertet, obwohl vielen auch klar war, dass diese Menschen arbeiteten, weil sie Angst hatten, den Job zu verlieren, von der Polizei angegriffen zu werden oder ins Gefängnis zu gehen.

Da die große Mehrheit der MüllarbeiterInnen in Rio schwarz ist, verbreitete sich im Internet schnell die Parallele zur Sklaverei: Schwarze, die unter Bedrohung und Überwachung arbeiten. „2014 und 2015 konnten wir die Ketten der Sklaverei brechen und fingen an, bessere Arbeitsbedingungen und einen besseren Lohn zu fordern“, meinte auch Célio Viana, der Vertreter der streikenden KollegInnen.

Widersprüchlich war die Rolle der Gewerkschaft der MüllarbeiterInnen von Rio de Janeiro während des Streiks 2014. Die Mehrheit der ArbeiterInnen fühlte sich schon lange nicht mehr von ihr vertreten, ein Konflikt, der während des Streiks offen zutage trat. Seit 2001 wurde die Gewerkschaft der MüllarbeiterInnen von der gleichen Person geführt, von Luciano David de Araujo.

2015 erklärte Célio Viana in einem Interview auf der Onlineseite der Zeitschrift Forum, dass die KollegInnen über anstehende Wahlen nicht informiert wurden. So sei es David de Araujo immer gelungen, sich an der Spitze der Gewerkschaft zu halten, obwohl er das Vertrauen der Mehrheit der MüllarbeiterInnen verloren hatte. Für sie vertrat er längst nicht mehr ihre Interessen, sondern die der Stadtverwaltung.

Im gleichen Interview berichtet Célio Viana, dass 2014 mehr als 200 KollegInnen gekündigt wurde, 2015 seien es über 70 gewesen. Auch er gehört zu den Entlassenen: „Meiner Meinung nach sind all diese Kündigungen Strafen und sollen die ArbeiterInnen einschüchtern, damit sie nicht an anderen Mobilisierungen teilnehmen, insbesondere weil es 2016 die Olympischen Spiele gibt.” Die Angst vor Vergeltung der COMLURB, des Unternehmens der Stadtreinigung, sei weiterhin groß.

Tatsächlich wurde der Streik der MüllarbeiterInnen von vielen KollegInnen als beispielhaft angesehen, andere Streiks wurden durch seinen Sieg gestärkt. Nicht alle waren jedoch so erfolgreich. Zahlreiche Streiks der LehrerInnen und DozentInnen im ganzen Land erzielten beispielsweise nur selten befriedigende Erfolge.
Unter den MüllarbeiterInnenn Rios ist die Stimmung gut. Sie sind sich sicher, dass sie weiter für ihre Rechte kämpfen werden, und fest davon überzeugt, dass alle ArbeiterInnen sich vereinen sollten.

Renan Monteiro Marques ist Student im Fachbereich „Portugiesische und deutsche Sprach- und Literaturwissenschaften“ an der Universidade Federal do Rio de Janeiro (UFRJ).