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Goethe goes Cumbia

Omar Saavedra Santis' neues Theaterstück „Fausto Sudaca“ sorgt in Chile für ausverkaufte Häuser

Wer zu den glücklichen Lesern und Leserinnen gehört, die das Werk von Omar Saavedra Santis kennen, weiß, dass es sich bei dem 1944 in Valparaíso geborenen Autor um einen jener großen lateinamerikanischen „Vertilger" der Weltliteratur handelt, die aus der Lektüre eine Kunst und zugleich die Grundlage ihrer eigenen Werke gemacht haben. In seinen Romanen wie „Die große Stadt“, in dem eine Gruppe von Lesewütigen die großen Klassiker rezitierend bis in die hintersten Winkel Chiles trägt, oder Theaterstücken wie „Borges tötet Jünger scheinbar ohne Motiv“ hat Saavedra die rätselhaften Verbindungen von Literatur und Leben auf ebenso hintersinnige wie unterhaltsame Weise ausgelotet. Saavedra, der nach dem Putsch in Chile bis 2009 im deutschen Exil lebte (s. ein Lebenswege-Interview in ila 163), ist ein ebenso produktiver wie origineller und preisgekrönter Vielschreiber, der in quasi allen Genres zwischen Reportage, Roman und Drehbuch zu Hause ist. In seinem jüngsten Stück verfrachtet er die Figur des Doktor Faustus aus seiner mitteldeutschen Studierstube mitten hinein in die lateinamerikanische Wirklichkeit unserer Tage: Fausto Sudaca feierte im Dezember Premiere in Santiago de Chile und wurde von der Kritik überschwänglich gefeiert, ausverkaufte Vorstellungen in der Hauptstadt und anderen Orten des Landes waren die logische Folge.

Dabei besinnt sich Saavedra auf die volkstümlichen Ursprünge der Faust-Sage, indem er die Erhabenheit und Patina des Klassikers destilliert und seinen Gelehrten mit außerordentlichem Sprachwitz und schwarzem Humor in die allzu menschlichen Abgründe des Stücks führt. Denn auch wenn sich der Osterspaziergang von Faust und Wagner in der südlichen Hemisphäre in den Besuch einer Fonda während der chilenischen Fiestas Patrias und Gretchen in eine Empanadas verkaufende Wirtstochter verwandelt, so erschöpft sich das Stück keineswegs in dieser originellen Transformation des Goetheschen Klassikers. Der Kern der Tragödie bleibt erhalten und Saavedras Kunstgriff erweist sich in der Tatsache, dass er die Zeitlosigkeit dieser Menschheitsparabel offen legt, indem er ihre Aktualität auch und gerade für die lateinamerikanische Gegenwart herausstellt: Wenn Gott selbst als bigotter und dampfplaudernder Entertainer im Stile eines Don Francisco auftritt, der dem Publikum eine Abtreibungsklinik empfiehlt, während das von Faust geschwängerte Gretchen auf der Bühne kauert, wird die gesellschaftskritische Kraft von Saavedras Bearbeitung augenfällig. Ebenso erlangen die Geschichten vom korrumpierten Intellektuellen Faust oder der allein dem Geld hörigen Marthe Schwertlein vor dem lateinamerikanischen Hintergrund der Inszenierung eine ganz eigene Bedeutung. 

Darüber hinaus ist Fausto Sudaca ein mitreißendes und faszinierendes Stück Theater, was vor allem auch der Inszenierung Alejandro Quintanas geschuldet ist. Dem Chefregisseur am Theater Heilbronn, einem langjährigen Weggefährten Saavedras aus dem gemeinsamen Exil in der DDR, gelingt es, seine Ansprüche an das Bühnenspiel glänzend einzulösen: „Das Theater muss durch Augen und Ohren dringen, auf den Magen schlagen und den Kopf erreichen. Sehen, fühlen, eine Katharsis ermöglichen und das Denken anregen." All dies glückt auch dank des glänzenden Ensembles der Inszenierung: Catalina Saavedra – die Tochter des Dramaturgen und eine der derzeit unverzichtbaren Charakterdarstellerinnen Chiles – glänzt in der Rolle des oder besser gesagt der Mephistophela  (auch diese Besetzung stibitzt Omar Saavedra bei einem seiner Brüder im Geiste: Heinrich Heine). Francisco Melo als Fausto und Mario Bustos in der Rolle des fragwürdigen Gottes ergänzen die kraftvolle Trias der Protagonisten in einem Stück, das in der Sudaca-Version Saavedras zudem über ein allen europäischen Inszenierungen gänzlich unzugängliches Element an die Welt der Populärkultur gebunden ist: Die musikalische Vielfalt des Kontinents vom Bolero über die Cumbia bis zum Tango verleihen dem Faust des Südens seinen eigenen Klang und begleiten quasi in einer lateinamerikanischen Version des antiken Chors dessen Reise durch das wilde Leben. Und so ist Fausto Sudaca eine ebenso tiefgründige wie begeisternde Reflexion über den Menschen und die zwiespältige lateinamerikanische Wirklichkeit, in der Omar Saavedra Santis, dieser großartige Erzähler zwischen den Welten, einmal mehr die zwei Seelen ausstellt, die in seiner Brust wohnen: das Auge für die großen Klassiker der Weltliteratur und das feine Ohr für die Stimmen der viel- und unstimmigen Wirklichkeit Lateinamerikas.

Benjamin Loy ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Romanischen Seminar der Universität Köln und Redaktionsmitglied der Zeitschrift „alba - Lateinamerika lesen“.