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Eine unermüdliche Kämpferin

Die Bonner Solidaritätsaktivistin Ruth Schlette für ihr Engagement geehrt

Im letzten Jahr entschied die chilenische Regierung, die Bonner Historikerin Ruth Schlette mit dem Orden Al Mérito de Chile auszuzeichnen, der höchsten Auszeichnung, die die Republik Chile an AusländerInnen verleiht. Die heute 83jährige war über Jahrzehnte eine der Köpfe der Bonner Kinderhilfe Chile, einer Frauengruppe, die die Familien politischer Gefangener unterstützt hat. Kurz nach dem Putsch Pinochets gegründet, blieb sie auch dann noch für die Menschenrechte und die Opfer des Staatsterrors aktiv, als sich der größte Teil der linken Gruppen längst nicht mehr für Chile interessierte. Die ila hat seit ihren Anfängen mit Ruth Schlette zusammengearbeitet, gelegentlich hat sie auch Beiträge in unserer Zeitschrift veröffentlicht. Neben ihrer Arbeit in der Chile-Solidarität hat sie sich in der „Beueler Initiative gegen Fremdenhass“ engagiert und die Geschichten jüdischer Familien aus dem heutigen Bonner Stadtteil Beuel recherchiert. Der Orden Al Mérito de Chile wurde ihr am 4. April 2016 im Rahmen einer Feierstunde vom chilenischen Botschafter Mariano Fernández Amunátegui verliehen, der während der Diktatur selbst als politischer Flüchtling im Rheinland lebte. Im Anschluss an die Laudatio des Botschafters hielt Ruth Schlette eine Ansprache, die wir an dieser Stelle veröffentlichen.

Ruth Schlette

Zu viel der Ehre – Zu viel des Lobes – Zu viel für eine Einzelne. Wie kann ich für diese überwältigende Ehrung danken? Mit Worten? Das ist nicht genug, trotzdem: Ich danke Ihnen, Herr Botschafter. Ich danke der Regierung der Republik Chile, die mir den Orden zugedacht hat. Ich danke allen Chileninnen und Chilenen, die noch nach 30, 40 Jahren die Erinnerung an den Widerstand gegen die Diktatur am Leben erhalten.

In meinem Dank für diese Ehrung sind alle eingeschlossen, die mehr als ich Lob und Ehre verdienten, die damals Ernst machten mit der Solidarität, eine große Zahl von Frauen und Männern in Chile und in Deutschland, allen voran die chilenischen und die deutschen Frauen von der damaligen „Kinderhilfe Chile Bonn“. María Angélica Morales, Laura Acuña und Martine Metzing-Peyre, die unvergessliche Cora Penselin oder Oriana Rodríguez. Ich gehörte zu ihnen, sie gehörten zu mir. Gemeinsam haben wir die Idee von Hortensia Bussi de Allende aufgegriffen, auf das Schicksal der Kinder in Chile hinzuweisen, denen die Militärdiktatur die Väter, oft auch die Mütter, geraubt hatte.

Ich hätte große Lust, hier viele Namen aufzureihen, Namen von Menschen, denen ich begegnet bin, die mich auf einem Stück meines Lebensweges begleiteten, wie zum Beispiel Patricio Pietropaolo vom Servicio Paz y Justicia auf der Aachener Friedenswallfahrt im November 1985, Menschen, die mir in schwierigen Situationen halfen, hier in Westdeutschland, in Ost-Berlin, vor allem aber in Chile, zum Beispiel Juan de Castro, Enrique Palet, Winnie Lira und Sra. Karoline Mayer. Ohne Henny Engels, ein anderes Beispiel, hätten wir die Ausstellung im Bonner Landesmuseum nie geschafft.

Seit mich letzten Herbst ein Brief der Botschaft mit der Ankündigung dieses Ordens überrumpelte, hole ich Namen aus meinem Gedächtnis, längst vergessen geglaubte Namen, und schreibe sie nieder. Es ist eine lange Liste geworden, ich kann sie leider hier nicht vorlesen.

Ausdrücklich nennen aber will ich meinen Mann und unsere Töchter Sophia und Felicitas, denen ich damals die Last meiner vielen Abwesenheiten aufbürdete: die Reisen nach Chile in meinen Urlauben, hier in Deutschland viele Abende und Wochenenden mit Treffen, Aktionen, Festen.

Zu den guten Erinnerungen an erlebte und gelebte Solidarität – hier und besonders in Chile – gesellen sich die schmerzhaften. Soll ich sie verschweigen um der Atmosphäre willen, die uns heute Abend umgibt?

Ich kann sie nicht ausblenden. Sie fügen sich ein in die Schmerzen unserer Gegenwart und werden von ihnen verstärkt. Damals traten wir für die Menschenrechte ein, die in Chile und in vielen anderen Ländern außer Kraft gesetzt waren. Damals liefen wir Sturm gegen eine interessengesteuerte Politik, die in Pinochet vor allem den Antikommunisten sah, vielleicht auch einen einträglichen Partner im neoliberalen Wirtschaftssystem. Deutschland lieferte ihm U-Boote und sah gern über den staatlichen Terror hinweg.

Heute behandelt Europa flüchtende Menschen wie eine Ware; die „Festung Europa“ nimmt Gestalt an. Um unseren Wohlstand zu retten, nehmen wir Elend und Tod von Millionen Menschen in Kauf.

In den 70er-, 80er-Jahren hatten wir noch Hoffnung: Wir stellten uns eine Welt ohne Folter und Unterdrückung vor. Ein kleines Stückchen unserer großen Hoffnung ist in Chile 1989 in Erfüllung gegangen. Aber um welchen Preis? Erinnern wir uns, auch wenn es schmerzt.

In diesen Wochen, in denen ich mein Gedächtnis nach Erinnerungen an Chile und die Chile-Solidarität durchsuchte, fand ich unvermutet zwei Begleiter: Patricio Guzmán und seinen Film „Der Perlmuttknopf“ und Antonia Torres mit ihrem Gedicht „Denkmal“.

Den Film werden die meisten von Ihnen kennen; nie habe ich abgrundtiefe Trauer und überwältigende Schönheit, Reflexion über menschliche Bosheit und Lebensjubel so unvermittelt nebeneinander gesehen.
Antonia Torres lief mir vor kurzem über den Weg. In Bonn, in der Buchhandlung Böttger, las sie aus ihrem gerade erschienenen zweisprachigen Gedichtband Mudanza1 (Umzug). Ein Text hat sich mir eingeprägt, als hätte ich ihn selbst geschrieben. Im spanischen Original lautet sein Titel „Denkmal“.

Denkmal
Wenn du genau darüber nachdenkst ist hier eine Erinnerung
halte inne
denk genau darüber nach
eine Folterkammer ein Kerker
einige rauchende Soldaten

ein kühler Nachmittag ein warmes Museum
ein Weihnachtsbaum riesengroß und hell erleuchtet

wenn du genau darüber nachdenkst
der Geruch nach Kaffee Plätzchen frisch aus dem Ofen
der Leichnam eines Mannes verschwindet durch den Hinterhof 

wenn du es wirklich schaffst
dich zu konzentrieren

denk darüber nach
mit dem Fluss verrinnt die Nacht
ein großer Kahn befördert Trümmer
eine Frau zeichnet mit einem Nagel an die Wand 

aber denk darüber nach 

wo zusammengekauert und stumm
eine schmutzige Schaufensterpuppe schläft
schwebt die Stadt auf einer Postkarte
unbeweglich an einem steinernen Denkmal 

halte inne und denk darüber nach
heute Abend werden sie deinen Todeskampf überwachen1

Ich lasse den hier ausgegrabenen Schmerz zu, wenn ich mein Gedächtnis öffne: Der Wagen mit den schwarzen Fensterscheiben auf der Fähre von Chiloe nach Puerto Montt. Darinnen: ein Mensch. Ich kann ihm nicht helfen.
Die Hakenkreuzfahne im Deutschen Club von Puerto Montt.
Beatriz im Frauengefängnis von Valdivia. Äußerlich unversehrt.
Mónica Echeverría. Die Tochter gefoltert, der Sohn ermordet.
Eine Friedhofsmauer in Santiago. Vor ein paar Tagen haben sie dort José Carrasco ermordet.

So nah der Schmerz, so nah aber auch „das Rettende“:
Die Frauen in den Talleres (Workshops), ungebeugt und widerständig. Ihre Männer: verschwunden, im Gefängnis, verbannt.
Yo te nombro libertad – Hunderte tauchen vor dem Militärgefängnis auf, singen das Lied von der Freiheit, stieben auseinander, wie vom Erdboden verschluckt.
Die Radiowerkstatt in der Kordillere im Süden: Wie weit kann Protest gehen? Die Kreativität, das gegenseitige Vertrauen in den Arbeitsgruppen.
Die frechen regimekritischen Murales in Antofagasta.
Beatriz Brinkmann und ihr Kampf gegen die Straflosigkeit.

In Bonn, in Sankt Augustin, in Köln, in der Eifel usw.: auf den Plätzen, in Schulen, in Galerien unsere Stände. Vorträge. Feste. Übermut. Konzerte, zum Beispiel: Quilapayun. Die Cueca getanzt. Die Ausstellung im Landesmuseum „Kinder in Chile malen ihr Leben“, gegen alle Widerstände aufgebaut, zusammen mit der Katholischen Jugend in der Erzdiözese Köln, unterstützt von SPD-Politikern wie Hans Matthöfer und Herta Däubler-Gmelin. Die großen Treffen in Walberberg. Kirchentage. Chile-Treffen in Rotterdam, Paris. Das anspornende Beispiel der Chile-Solidarität Münster. Und immer wieder Besuche aus Chile, viele Briefe aus Chile.

Es gab eine Zeit, da wünschte ich mir, Chilenin zu sein. Aber es gab ein Hindernis, ein großes sogar: Ich verstand die chistes nicht, diese sehr chilenischen Wortspiele, Witze.
Heute werden Sie es mir nachsehen. Danke.

  • 1. Der Gedichtband Mudanza von Antonia Torres ist 2015 in der Reihe „Düsseldorf übersetzt“ in der düsseldorf university press erschienen. Die Übersetzung ist von Karolin Viseneber. Das Buch hat 120 Seiten und kann zum Preis von 14,80 Euro über den Buchhandel bezogen werden.