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Machtwechsel in Brasilien

Demokratischer Werteverfall und das Ende einer politischen Ära

Schwere Zeiten haben in Brasilien begonnen. Mit dem dramatischem Schauprozess um das Amtsenthebungsverfahren gegen die demokratisch gewählte Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT verliert das Land an politischer Integrität und demokratischer Glaubwürdigkeit. Mit einem strengen Sparkurs, drastischen Einschnitten im Sozialbereich und bei der Verwaltung, vor allem aber einem umfangreichen Privatisierungsprogramm möchte Brasiliens neue Regierung unter Michel Temer (PMDB) dem langhaltenden Konjunkturtief im Land begegnen. 

Constanze Lemmerich

Nach 13 Jahren Regierung der Arbeiterpartei PT vollzieht sich in dem größten Land Lateinamerikas eine Wende um 180 Grad. Dabei trägt die PT durchaus mit Schuld an der Misere. Setzte sie anfangs noch auf die Mobilisierung der Massen und mit ambitionierten Sozialprogrammen und der Suche nach wirtschaftlichen Alternativen unter der Regierung Lula (2003-2011) und auch zu Beginn der Präsidentschaft Rousseffs (2011-2016) auf die Überwindung sozialer Ungleichheit und die Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten, so entfernte sie sich in den letzten Jahren immer weiter von ihren eigenen Grundsätzen, verspielte die Chance für tiefgreifende Reformen, verstrickte sich in politische Machenschaften und ging politische und wirtschaftliche Bündnisse ein, die ihr nun das Genick brechen sollten.

Nachdem bereits im März dieses Jahres mit einer Abstimmung im Parlament die Grundlage für ein Amtenthebungsverfahren gelegt wurde, sprach sich am 29.August mit 61 zu 20 Stimmen auch der brasilianische Senat für die Absetzung Rousseffs aus. Ihr wird vorgeworfen, Haushaltzahlen verschönert und Staatsfinanzen verschleiert zu haben – eine in Brasilien übliche und bis dato nicht geahndete Regierungspraxis. Auch wenn die brasilianische Verfassung eine Amtsenthebung als legitimes Mittel vorsieht, konnte das Vergehen der Präsidentin in dem Prozess bislang nicht bestätigt werden. Das Impeachmentverfahren entzieht sich folglich jeglicher rechtlicher Grundlage, vielmehr war das Vorgehen politisch motiviert.

Zuvor hatte es breit angelegte Destabilisierungsversuche der 2014 unterlegenen neoliberalen PSDB gegeben sowie aggressive Kampagnen der Monopolmedien – allen voran dem TV-Riesen „Rede Globo“ – sowie eine Reihe von politischen und juristischen Intrigen rund um den Korruptionsskandal „Lavo Jato” und das halbstaatliche Unternehmen Petrobras. Mit Massendemonstrationen gegen die Regierung seit März 2015 gewann zudem eine neue Rechte in Brasilien an Popularität. Die beiden führenden Gruppen – „Vem Pra Rua“ und „Movimento Brasil Livre“ (MBL) – profitierten von der Welle der Anti-Dilma-Stimmung im Land, nicht zuletzt wegen der anhaltenden wirtschaftlichen Krise.

Nach der Abstimmung im Parlament übernahm am 12. Mai der ehemalige Vizepräsident Michel Temer1 stellvertretend die Regierungsgeschäfte der Präsidentin, die wegen des eingeleiteten Amtsenthebungsverfahrens vorerst für 180 Tage von ihrem Posten suspendiert wurde. Seine Partei, die rechtsliberale PMDB (seit 1979 bislang in allen Regierungen vertreten), hatte bereits im März die Koalition mit der PT aufgekündigt und ebnete somit den Weg für die Zuspitzung der politischen Krise.

Ersten öffentlichen Aufruhr gab es, als Temer sein rein männliches und weißes  Kabinett vorstellte. Auschließlich Politiker der alten Riege wurden für die 20 Ministerposten nominiert. Gegen nicht wenige von ihnen, wie auch gegen die gut 80 Prozent der Abgeordneten im Parlament, die mit ihren Stimmen das Impeachment unterstützten, wird derzeit wegen Veruntreuung von Geldern ermittelt. Kurz nach der Amtsübernahme tauchten Gesprächsaufnahmen des Interimsministers für Planung, Romero Jucá, ein enger Vertrauter Temers auf, die bestätigen, was viele bereits vermuteten: Beim Impeachmentverfahren handle es sich nicht um die Bekämpfung der Korruption, sondern um die Bekämpfung der Aufklärung der Korruption. In dem Gespräch ist außerdem davon die Rede, dass auch der Oberste Gerichtshof und die Militärführung in das Komplott involviert seien. Kurz davor wurden Listen gefunden, auf denen PolitikerInnen jeglicher politischer Coleur als EmfpängerInnen von Schmiergeldern aufgeführt wurden.

Auch Rousseffs Vorgänger, Luiz Inácio Lula da Silva, aber­mals als Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2018 gehandelt, steht nun am Pranger. Der Expräsident soll von dem Ausmaß der Geldwäsche informiert, selbst in dubiose finanzielle Transaktionen verwickelt gewesen sein und sich persönlich bereichert haben. Eine Verurteilung Lulas gilt als immer wahrscheinlicher. So dünn die Beweislage auch sein mag, so umfassend ist das Bestreben, die Arbeiterpartei zu diskreditieren. Einzelne Politiker fordern sogar ihr Verbot!

Neben der Durchsetzung in Parlament und Senat sorgt eine alles andere als neutrale und unabhängige Justiz mit der medienwirksamen Festnahme eines weiteren PT-Politikers und der Anklage gegen Lula kurz vor den Kommunalwahlen Anfang Oktober für Aufruhr. Auch wenn zahlreiche hochrangige VertreterInnen von vielen anderen Parteien, praktisch die gesamte politische Klasse Brasiliens, nachweisbar in die Schmiergeldaffäre verwickelt sind, sind es vor­nehmlich Vorwürfe gegen die Regierungspartei PT, die politisch ins Gewicht fallen.

Die „Haushaltstricks“, die Rousseff vorgeworfen wurden, also die interne Kreditaufnahme zwischen verschiedenen öffentlichen Stellen, wurden im Übrigen in der Zwischenzeit vom Parlament legalisiert. Ebenso ist geplant, mit einem neuen Gesetz illegale Parteienfinanzierung, die nicht zu persönlicher Bereicherung geführt hat, als Kavaliersdelikt zu behandeln. Justiz, Medien, Polizei, Parlament und Regierung ziehen hier an einem Strang.

Seit Temers Amtsübernahme im Mai sind breit angelegte Umstrukturierungen im Sozialsystem angekündigt worden. Meldungen über Einschnitte im Sozial-, Arbeits-, Bildungs- und Gesundheitssystem finden sich fast täglich. Nicht nur die Arbeiterrechte sind von dem Reformprogramm betroffen. Auch die Ausgaben für Gesundheit und Bildung sollen gekürzt, das Rentensystem reformiert und die Wochenarbeitszeit erhöht werden. Die verfassungsmäßige Verpflichtung, 18 Prozent der Steuergelder in Bildung sowie 15 Prozent in Gesundheit zu investieren, sowie die Demarkierung indigener Gebiete und die Zuweisung von Land will die Regierung Temer aufheben.

Die Anzahl der Ministerien wurde von 31 auf 21 gekürzt. Im Gegensatz dazu sollen Ausgaben für nationale und zivile Sicherheit sowie die Agrarindustrie erhöht werden. Das Sekretariat für Menschenrechte ging in das Justizministerium über. Das Ministerium für Ländliche Entwicklung, das für die lange geforderte Agrarreform zuständig war, wurde dem Landwirtschaftsministerium unterstellt. Minister ist mit Blairo Maggi nun der größte Sojaproduzent der Welt.

Die Entscheidung, das Kulturministerium abzuschaffen, nahm die  Regierung nach landesweiten Protesten von KünstlerInnen wieder zurück. Gleich im ersten Gespräch ließ der neue Minister allerdings verlauten, dass Kultur in Brasilien zwar vielfältig, aber keinesfalls politisch sein solle.

Den unzähligen Sozialmaßnahmen aus der Regierungszeit der Arbeiterpartei PT wird mit dem Programm Criança ­Feliz (Glückliches Kind) ein Charityprojekt von Michel Temers Ehefrau Marcela, einer ehemaligen Schönheitskönigin, entgegengesetzt.

Bezeichnend für die Entwicklungen ist auch die Neubesetzung der Wahrheitskommission, die die Verbrechen der Militärdiktatur (1964-1985) aufklären soll. Nur zwei Tage nach dem Verfahren gegen Rousseff wurden 19 der 25 Mitglieder des Gremiums ersetzt. Neuer Berater soll ein Armeeoffizier des einstigen Militärregimes sein.

Bei internationalen Autritten gab sich Michel Temer bisweilen eher zurückhaltend. Noch als Interimspräsident eröffnete er – aus Befürchtungen vor lautstarken „Fora Temer!“ (Temer raus!) Rufen – mit wenigen Worten die Olympischen Spiele. Bei einem seiner ersten internationalen Auftritte als de facto Präsident vor der Vollversammlung der UN Mitte September, den mehrere lateinamerikanische Delegierte aus Protest verließen, legte er beihahe besonnen seine „Verpflichtung gegenüber der Demokratie“ dar und nutzte die Bühne, um seinen Kurs zu verteidigen.

Wie die Reise zum G20-Treffen im chinesischen Hangzhou Anfang September nutzte Temer auch den Aufenthalt in den USA, um sich mit der dortigen Wirtschaftslobby zu treffen. Bei den Gesprächen wurde abermals seine politische Motivation gegen Rousseff deutlich: So legte er mit dem Projekt Ponto pelo Futuro (Brücke der Zukunft) „einen Plan für die Gesundung Brasiliens” vor. Rousseff habe sich diesem Programm nicht unterstellt und hätte daher ihr Amt räumen müssen.

Landesweit gehen nach der Absetzung Rousseffs Tausende von Menschen auf die Straße, um gegen die Putsch-Regierung zu demonstrieren. Die Stimmen, die  „Fora Temer” rufen, die Neuwahlen und die Wiederherstellung der demokratischen Verhältnisse fordern, werden lauter. Auch die Gewerkschaften setzen wieder verstärkt auf Konfrontation. Der brasilianische Gewerkschaftsverband CUT rief Ende September zum Generalstreik auf. Wie bereits Ende 2015, als es im Bundesstaat São Paulo zur Schließung und Restrukturierung von Schulen kommen sollte, demonstrierten derweil auch Studierende und Schülerinnen gegen die Reformpläne der Regierung. Neben der Streichung von Philosophie und Soziologie sollen auch Fächer wie Kunst und Sport aus dem Curriculum genommen werden, die Stundenanzahl erhöht und Lehrkräfte ohne entsprechende Ausbildung eingestellt werden.

Für die noch junge Demokratie in Brasilien stellen die aktuellen politischen Entwicklungen und die Demontage von Dilma Rousseff einen gravierenden Rückschritt dar. Schon jetzt ist deutlich, dass der über ein Jahrzehnt lang dauernde Prozess in Richtung universeller Teilhabe und Sozialstaatlichkeit zu einem Ende gekommen ist. Die Wirtschaftspolitik Brasiliens wird auf Austerität und Ausverkauf setzen, was die Privatisierung von staatseigenen Unternehmen, neue geopolitische Allianzen und den großflächigen Verkauf von Infrastruktur und Land an ausländische Investoren genauso umfasst, wie den Rückzug des Staates aus grundlegenden Bereichen wie Bildung und Gesundheit. Brasiliens Demokratie hat bereits jetzt einen schwer zu reparierenden Schaden genommen.

Noch demonstrieren vor allem die Mittelschicht und die AnhängerInnen sozialer Bewegungen. Wenn die Einschnitte im Sozialsystem im Alltag der Menschen spürbarer werden, könnten die Proteste durchaus breiter werden.

  • 1. Der 76-Jährige wurde wegen Unregelmäßigkeiten bei der Finanzierung seines letzten Wahlkampfs für acht Jahre von der Ausübung des passiven Wahlrechts ausgeschlossen, kann also nicht für das Präsidentenamt kandidieren.

Die Autorin ist Mitglied des Kollektivs Menschenrechte Brasilien des Allerweltshaus Köln e.V. und lebt derzeit in São Paulo.