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Die offenen Wege Lateinamerikas

Neuer Sammelband zu Linksregierungen: Bilanz und Ausblick
Alix Arnold

Auf Initiative des brasilianischen Politologen Emir Sader kam ein Buch mit sieben Beiträgen aus Ländern mit Linksregierungen zustande, das versucht, Bilanz zu ziehen, und der (eher rhetorischen) Frage nachgeht, ob die aktuelle Situation das Ende eines Zyklus markiert oder nur einen temporären Rückzug. Für den Vizepräsidenten Boliviens, Álvaro García Linera, ist der Fall klar: „Ende des Zyklus“ ist ähnlich wie Fukuyamas „Ende der Geschichte“ vor 25 Jahren ein Gerede interessierter Kreise, die emanzipatorische Veränderungen für unmöglich erklären möchten. Trotzdem müsse das aktuelle Kräfteverhältnis genau analysiert werden. Nach der üblichen Aufzählung der Errungenschaften dieser Dekade (mehr Demokratie, weniger Ungleichheit, Zurückdrängen des Neoliberalismus und lateinamerikanische Internationale) kommt er zu fünf kritischen Punkten. Zuallererst die Ökonomie, deren Bedeutung oft vernachlässigt werde, einerseits als materielle Grundlage für eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Massen, die sich sonst von den Linksregierungen abwenden würden, aber auch als Experimentierfeld für eine Sozialisierung der Produktion, nicht als Verstaatlichung per Dekret, sondern als kollektive Erfahrung. Schließlich wird diese Fähigkeit zur Selbstbestimmung ausschlaggebend sein für den Schritt vom Postneoliberalismus zum weltweiten Postkapitalismus. Zum zweiten fehle aber auch eine permanente kulturelle Revolution. Wenn die Ausweitung des Konsums nicht von einer sozialen Politisierung begleitet wird, entsteht eine neue Mittelschicht, die alte konservative Werte vertritt. Die Herausforderung besteht darin, einen neuen Gemeinschaftssinn zu schaffen. Wer könnte dies besser als die BasisaktivistInnen, die sich im Stadtteil, in den Betrieben und in der Uni bewegen. Aber mit der Regierungsübernahme steigen viele von ihnen in die Verwaltung auf. Eine Linksregierung sollte darauf achten, dass sich ihre besten Kader nicht alle im Regierungsgeschäft verschleißen. Drittens sei eine moralische Reform notwendig, um die grassierende Korruption zurückzudrängen. Ein weiteres Problem seien die Führungspersonen, die sich in revolutionären Prozessen herausbilden und zu lange an der Macht bleiben. Neue Ideen kollektiver Führung sind gefragt. Und fünftens ist die ökonomische Einheit auf dem Kontinent noch schwach. Hier herrscht zu viel nationales Denken, von einem kontinentalen plurinationalen Staat ist Lateinamerika noch weit entfernt. Aber García Linera sieht die Entwicklung positiv, die nächste revolutionäre Welle wird kommen und in der Zwischenzeit gilt es, sich mit offenen Diskussionen darauf vorzubereiten. Trotz seiner Regierungssicht und einigen diffamierenden Ausfällen gegen weniger staatstragende Linke könnten einige dieser Gedanken nützlich sein.

Ein zweiter Beitrag zu Bolivien kommt von Manuel Canelas, dem ersten offen schwulen Abgeordneten des Landes. Auch er hebt auf den fehlenden kulturellen Kampf ab. Der Begriff „Freiheit“ wurde von der Rechten und ihrer Medienübermacht neoliberal besetzt und monopolisiert. Deren Konzept von individualisierter und kommerzialisierter Freiheit wurde kein progressives von sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit entgegengesetzt. Welchen Begriff wird sich ein Jugendlicher bilden, der durch die neue ökonomische Stabilität als erster seiner Familie auf eine Uni geht? Die heftigen Kämpfe gegen die Privatisierung öffentlicher Güter wie Wasser und Gas kamen mit dem Wahlsieg 2005 in den Institutionen an und die staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft brachten einige Erfolge. Widersprüchlicher sieht es aber im Gesundheitssystem und bei der Bildung aus. Private Schulen und Krankenhäuser gelten nach wie vor als die besseren, auch bei den Linken, wodurch der Diskurs gegen die Privatisierung unterminiert wird. Zum neoliberalen Alltag wurden wenig Alternativen geschaffen. Wo hat sich der Staat positiv auf die Prozesse von Selbstorganisierung während der Kämpfe bezogen? Mit den besseren Lebensbedingungen haben auch die kulturellen Aktivitäten zugenommen. Jugendliche haben sich öffentliche Plätze für Tanz und Straßenkultur genommen. Aber wo stellt der Staat öffentlichen Raum für Sport und Kultur zur Verfügung? Stattdessen machen immer mehr Fitnessstudios auf. Niemand bestreitet die wirtschaftlichen Erfolge, aber Politik darf sich nicht auf Wirtschaft beschränken. Wer hat sich um die Migration in die Städte in diesen Jahren gekümmert, um die neuen Identitäten, die so entstehen, und die prekären Jobs, in denen die Jugendlichen landen? Die Politik von Evo Morales hatte außergewöhnlich hohe Zustimmung, aber auf Dauer reichen die ökonomischen Verbesserungen nicht aus. Für die nächste Etappe heißt es, die neuen Koordinaten in den Städten, die Wünsche und Bedürfnisse besser zu verstehen.

Einen weiterreichenden Ausblick enthält der materialreiche und mit fast 80 Seiten längste Beitrag von René Ramírez (Staatssekretär für Bildung) und Juan Guijarro zu Ecuador. Sie beschreiben zunächst die Entwicklung von Neoliberalismus und sozialer Lage im Land. Ab 1996 gingen Legitimation der Parteien und Wahlbeteiligung kontinuierlich zurück. Es entstanden unabhängige Bewegungen, die stark genug waren, das politische System lahmzulegen, und sich 2006 zu dem losen Wahlbündnis Alianza PAÍS (AP) formierten. Nach dem Wahlsieg von Rafael Correa wurde eine Verfassunggebende Versammlung einberufen. Die neue Verfassung schreibt Inklusion und Gleichheit sowie das Buen Vivir als Ziele fest; die Natur bekommt den Status eines Subjekts mit Rechten. Die AP-Regierung warf den IWF aus dem Land, erklärte einen Teil der Auslandsschulden für illegitim und stellte deren Zahlung ein, richtete eine Kommission ein, um die Bereicherung der Banker aufzudecken und rückgängig zu machen, und verhandelte mit den Multis die Verteilung der Erdölerträge neu. Mit einer längeren Perspektive von Gesellschaftsveränderung wurde besonders in die Universitäten und Stipendien investiert, um sowohl die Qualität als auch die Zugangsmöglichkeiten zu verbessern. Aber wie kommen wir von antineoliberalen zu postkapitalistischen Perspektiven, von alternativer Akkumulation zu Alternativen zur Akkumulation? Den Schlüssel sehen die Autoren im Umgang mit dem Wissen, das im Kapitalismus immer größere Bedeutung bekommt. Wissen ist keine Mangelware, es wird durch Teilen nicht weniger, aber es darf nicht privatisiert werden. Die meiste Wissensproduktion findet in den Industrieländern des Nordens statt, während sich die Biodiversität größtenteils in den Ländern des Südens befindet. So ist es kein Zufall, dass der Diebstahl „geistigen Eigentums“ mit allen möglichen internationalen Normen verfolgt wird, während die Natur als frei zugängliches Gut gilt und Biopiraterie straffrei bleibt. Anstelle der bisherigen Politik der verschiedenen Länder, wo Wissen entweder kein Thema oder zur Privatisierung freigegeben war, sollten Linksregierungen es als Gemeingut von öffentlichem Interesse betrachten, das gefördert und zum allgemeinen Nutzen eingesetzt werden muss. Schließlich kommen die Autoren noch zur Arbeitszeit, die unter dem Neoliberalismus noch zugenommen hat, und der Frage, wie wir die „gut gelebten Zeiten“, die wir gemeinschaftlichen Aktivitäten widmen, ausweiten können. Auf diese Fragen habe die Rechte keine Antwort. Zukunft habe dagegen die revolutionäre Poesie, die in der Verfassung von 2008 festgeschrieben ist.

Zu Uruguay schreibt die Senatorin der Frente Amplio, Constanza Moreira, die als einzige Frau 2014 bis zu den Vorwahlen zur Präsidentschaftskandidatur kam. Ihre Bilanz von elf Jahren Frente-Amplio-Regierung (2005 bis 2010 und wieder seit 2015 unter Tabaré Vázquez, dazwischen unter „Pepe“ Mujica) fällt eher negativ aus. Zwar habe Uruguay im kapitalistischen Sinne eine enorme Entwicklung durchgemacht, aber die Abhängigkeit von ausländischen Investitionen blieb und die Freihandelszonen wurden vervielfacht. Die selbstverwalteten Betriebe, deren Förderung Mujica als „Kerze für den Sozialismus“ bezeichnete, waren wenig erfolgreich. Statt Sozialismus gab es Sozialpolitik. Das Einlassen auf den Sicherheitsdiskurs der Opposition führte zur Beschränkung von Freiheiten, mehr Gefangenen und längeren Strafen. Nur dank einer breiten Jugendbewegung konnte der Versuch, das Strafmündigkeitsalter auf 16 Jahre zu senken, gestoppt werden. Die Fortschreibung der Straffreiheit für die Militärs und Äußerungen von Mujica und Verteidigungsminister Fernández Huidobro ließen viele einen „Pakt“ der alten Guerilleros mit den Militärs vermuten (siehe dazu die Besprechung des Buches von Jorge Zabalza in dieser Ausgabe). Auch beim Feminismus und Antirassismus sieht es nicht gut aus: „Unsere Formen, dort, wo wir an der Regierung waren, etwas 'von oben' aufzubauen, waren machistischer, rassistischer, zentralistischer und oligarchischer, als wir es uns hätten vorstellen können, als wir uns noch in der Logik des Widerstandes befanden und an den ‚neuen Menschen‘ glaubten.“ Moreira fordert eine aktive Reflexion der entstandenen „politischen Bürokratie“ und eine wieder verstärkt lateinamerikanische Sicht.

Emir Sader zeichnet die Entwicklung in Brasilien von der Diktatur über die Regierung von Lula bis zur Absetzung von Dilma Rousseff nach, in einem kurzen informativen Artikel, der aber wenig zur Diskussion beiträgt. Zu Venezuela listet Alfredo Serrano Mancilla einmal mehr die Errungenschaften des Chavismus auf, ohne irgendwelche kritischen Fragen, und der Beitrag zu Argentinien von Ricardo Forster ist leider auch nur eine lange Lobrede auf die Kirchners und ihren progressiven Peronismus.

Dass die Zukunft offen ist, ist eine gute und richtige, aber bei Linken nicht gerade unerwartete Aussage. Die Anspielung des Titels auf das Meisterwerk von Eduardo Galeano „Die offenen Adern Lateinamerikas“ wirkt allerdings angesichts der doch sehr unterschiedlichen Qualität der Beiträge in diesem Buch ziemlich anmaßend.