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Die Unerzogenen und andere Libertäre

Anarchismus und Buen Vivir in Ecuador

„Anarchistisches Gedankengut verändert die Gesellschaft, indem es Subjekte und organisierte Gruppen in den Vordergrund der Betrachtung stellt. Bestimmte elementare Ideale fließen aktuell in der Idee des Buen Vivir zusammen – dieses Konzept geht über die Struktur des Staates hinaus und verankert sich direkt im Herzen der selbstorganisierten Zivilgesellschaft”, sagt Sebastián Endara, freier Autor verschiedener Texte über anarchistische Theorie. Buen Vivir – ein umstrittenes und umkämpftes Konzept, das der ecuadorianischen Verfassung von 2008 zugrunde liegt, die wiederum betont, dass es „der andinen Kosmovision” entspringe. Gut leben anstatt „besser” leben, den Menschen aus dem Fokus rücken und stattdessen die Harmonie zwischen allem Lebendigen in den Vordergrund stellen – was als Staatskonzept im Kontext von massivem Extraktivismus eher paradox anmutet, ist in der Zivilgesellschaft präsent. Auch Libertäre eignen es sich an.

Carlos Tacuri
Mirjana Jandik

Dass es überhaupt Libertäre gibt, die sich jener Ideen annehmen könnten, ist ein zugleich altes und junges Phänomen in Ecuador. Jahrzehntelang waren freie bzw. antiautoritäre Linke in Ecuador praktisch inexistent oder doch zumindest so unsichtbar, dass sich heute niemand mehr an sie erinnert. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts spielten sie noch eine Rolle im linken Spektrum – eine Nebenrolle zwar, doch immerhin eine Rolle. Wie in mehreren lateinamerikanischen Ländern entwickelten sich neben marxistischen Arbeiter*innenbewegungen auch jene, die vom elitären Staat nichts erwarteten und die, wie etwa die Sociedad Cosmopolita de Cacahueros „Tomás Briones“, die der anarchosyndikalistischen Regionalen Vereinigung der Arbeiter in Ecuador (FTRE) angehörte, „Brot, Freiheit, Liebe und Wissenschaft für alle“ forderten. Die noch in den Kinderschuhen steckende anarchosyndikalistische Bewegung wurde jedoch im Keim erstickt: Während des sogenannten Massakers von Guayaquil, bei dem der im November 1922 ausgerufene Generalstreik der Handwerker*innen und Arbeiter*innen im Industrie- und Dienstleistungssektor blutig niedergeschlagen wurde, starben 800 Menschen – und mit ihnen die anarchosyndikalistische Bewegung. In den (alternativen) Geschichtsbüchern der darauffolgenden Jahrzehnte hinterlassen Menschen – seien es Individuen oder Kollektive –, die sich als anarchistisch bezeichnen, keinerlei Spuren.

Doch die Gedanken von autonomer Organisation, gegenseitiger Hilfe und Hierarchiekritik verschwinden nicht so einfach aus den Köpfen. So konsolidieren sich in den letzten Jahren vereinzelt wieder Gruppen und Bewegungen, die sich libertäre Ansätze aneignen und zur gelebten Praxis werden lassen. Diese noch verschlafene Wiederauferstehung ist verknüpft mit dem Aufkommen und der Verbreitung eines bestimmenden Faktors in Ecuador: des Anarchopunks. Die guayaquilenische Band Los Descontrolados sind die ersten, die den Punk als Medium nutzen, verhasste Zustände der traditionellen Gesellschaft in Ecuador zu kritisieren: Kapitalismus, Autoritarismus, die dominierende Rolle der katholischen Kirche, Intoleranz gegenüber Andersartigkeit. Die Musik wird zum Dreh- und Angelpunkt einiger weniger Organisationen, die sich konkret auf anarchistische Ideen beziehen oder doch immerhin mit ihnen sympathisieren. Von dieser neuen ersten Welle von Anarchist*innen sind jedoch lediglich ein paar Einzelkämpfer*innen übrig, unter denen Jaime Guevara hervorsticht, heute quasi Kultsymbol einer Handvoll malcriadxs – der „Unerzogenen”. Lieder wie Bandera Negra (Schwarze Flagge) drückten offen Kritik an einem er- und unterdrückenden Staat aus, in dem freie Meinungsäußerung nur soweit zugelassen ist, wie sie den Herrschenden nicht ernsthaft gefährlich wird. Guevara ist fester Bestandteil der meisten kleinen und großen Demonstrationsveranstaltungen – eine feste Form der Organisation steht jedoch nicht dahinter. Dennoch ist es unerlässlich, anarchistische Ideen in Ecuador eng und direkt mit kulturellen Ausdrucksformen in Verbindung zu bringen: Poesie, Musik, Kunst im weitesten Sinne. So sind etwa in Cuenca, der drittgrößten Stadt Ecuadors, die malcriadxs in weiten Teilen Autor*innen, Filmemacher*innen und (Aktions-)Künstler*innen.

Diese Form der Organisation wäre jedoch nicht möglich gewesen ohne zwei entscheidende Ereignisse. Zum einen organisierten sich Leute der Anarchopunk-Szene 2002 gegen das Freihandelsabkommen mit den USA, zum anderen vernetzten sich im Verlauf der 2000er-Jahre Aktivist*innen des amerikanischen Doppelkontinents in virtueller Form zur Unterstützung der Zapatist*innen in Mexiko. Sebastián Angulo, der die Wiederbelebung des Anarchismus miterlebt hat und heute einer der aktiven Anarchist*innen des Landes ist, berichtet, wie daraus 2006 die Initiative eines Kollektivs aus Bogotá, Kolumbien, entstand, ein libertäres virtuelles Informationsnetz aufzubauen, was seinerseits den Anstoß für jornadas libertarias (Libertäre Tage) in den drei größten Städten Ecuadors gab. Auf diesen Treffen kam es nun erstmals zu einer landesweiten Vernetzung verschiedener Individuen, Bewegungen und Kollektive mit libertären Gedanken und Ansätzen – auch wenn sich keine der Gruppen grundsätzlich als anarchistisch bezeichnet. Allerdings gibt es sich selbst als Anarchist*innen definierende Individuen, die sich in verschiedenen Gruppen einbringen und staats- und hierarchiekritische Positionen in den Aktionsalltag einbinden. Die Kategorisierungsscheu kennzeichnet die Gruppierungen bis heute. Anstatt sich mit dem verbrannten Wort des Anarchismus zu betiteln, betonen sie eher konkrete Aktionen und ihre herrschaftsfreie Form der Organisation und Kapitalismuskritik. So halten es auch die malcriadxs: Horizontalität, Solidarität und gegenseitige Hilfe stehen im Vordergrund, weniger das eigene Hineinkatapultieren in die Ecke der Anarchist*innen. Angulo hebt zudem hervor, dass aus den jornadas libertarias – die im letzten Jahr in Cuenca eine Neuauflage erfuhren – keine definierbaren festen Gruppen hervortraten. Vielmehr handelt es sich um Individuen mit libertären Ideen, die sich dynamisch in immer wieder neuen Zusammensetzungen für konkrete Aktionen zusammenfinden. So gab es diesen Sommer die kapitalismuskritische künstlerische Aktion Patacón con Mote, welches die Arbeit des Cuencaner Kollektivs Lakomuna im öffentlichen Raum erlebbar machte und Gewohntes auf den Kopf stellte: Künstler*innen wurden zu Pommesverkäufer*innen, Schaulustige zu Künstler*innen, das Museum zum Proberaum und der Alltag zur Ausstellung. Auch explizitere Protestaktionen gehören zum Aktionsradius: So waren es hauptsächlich malcriadxs, die im November 2016 das Cajascampa, ein kulturelles Demonstrationscamp gegen den Bergbau im angrenzenden Naturschutzgebiet, organisierten.

Das Spektrum konkreter Themen, in dem sich Libertäre in Ecuador betätigen, ist weit: Neben Naturschutz, freier Meinungsäußerung und Kapitalismuskritik engagieren sie sich in LGBTI-Bewegungen, Veganismus- und Tierschutzkollektiven oder im Aufbau von Kooperativen. Die Trennlinien zwischen Arbeiter*innen und Intellektuellen sollen dabei zunehmend aufgehoben werden.

Auch eine gemeinsame Ästhetik der Anarchist*innen ist schwer auszumachen, wenn auch viele sich die punkige Schreibweise mit „K” angeeignet haben: Kito statt Quito, Kasa Okupa (besetztes Haus) statt Casa Ocupa. Letztere gibt es einige wenige in Quito. Die einzige explizit anarchistische, die Turbina, wurde im Juni 2016 geräumt. Die noch bestehende Casa Uvilla ist ein weiteres jener Beispiele von Projekten, die sich zwar als libertär-links, aber nicht als anarchistisch verstehen. In Kooperation mit dem bloque proletario organisierten sie im Vorfeld der Präsidentschaftswahl Anfang des Jahres eine Veranstaltung, die zum Wahlboykott aufrief, unter dem Motto: „Unser Weg ist kämpfen, nicht wählen!” Des Weiteren unterhalten verschiedene Kollektive Einrichtungen wie libertäre Bibliotheken (in den großen Stadt- und Universitätsbibliotheken findet sich so gut wie kein anarchistisches Material) oder alternative Apotheken mit pflanzlichen Mitteln.

Wichtig ist den ecuadorianischen Libertären aber zunehmend, rauszukommen aus der marginalisierten Ecke der besetzten Häuser. Sie versuchen, Beziehungen zu angrenzenden Vierteln zu knüpfen, und suchen verstärkt die Verbindungen zum Land und den indigenen Gemeinden. Verschiedene Individuen und Kollektive beginnen, sich nicht mehr nur auf europäische und nordamerikanische Theoretiker*innen zu beziehen, sondern ihre Praxis aus andinen Traditionen abzuleiten und zu begründen. Die Wurzeln gemeinschaftlicher Aktionen und gegenseitiger Hilfe sehen sie nicht nur in der Theorie Kropotkins, sondern auch in Bräuchen wie der minga: Hierbei tun sich alle Bewohner*innen einer Gemeinde zusammen, um gemeinsam etwas zu erarbeiten (etwa das Gemeindehaus auf Vordermann bringen oder einen Weg bauen). Oder wie bei der vaca, bei der jede*r die Münzen gibt, die sie/er/* entbehren kann, um am Ende gemeinsam etwas anzuschaffen. Diese allen zugute kommenden und auf Gemeinschaft basierenden Praktiken sind es, die die urbanen Kollektive heute immer wieder mit der organisierten Landbevölkerung zusammenbringen, etwa im gemeinsamen Kampf gegen den Bergbau im Süden Ecuadors, wo die malcriadxs gemeinsam mit Bewohner*innen des akut von einem Bergbauprojekt betroffenen Río Blanco ein Tourismusprojekt ins Rollen bringen, um alternative und solidarische Formen der Ökonomie zu schaffen. So existiert in Ecuador das Buen Vivir außerhalb der Staatspraxis und die libertäre Praxis weitgehend jenseits des Labels „Anarchismus”.