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Mann, Frau, Mord – und umgekehrt

Jacob Ross betreibt Krimiauflösung aus der Geschlechterperspektive
Gaby Küppers

Krimis sind nicht mehr, was sie einmal waren. Passenderweise. Schon lange haben die spannenderen unter ihnen die westlichen Metropolen verlassen. London oder Paris, Chicago oder Berlin waren vorgestern. Als neue Orte von Verbrechen etablierten sich Buenos Aires, Mexico-Stadt, Istanbul, Islamabad oder Köln. Für die Sommerunterhaltung gerne auch Eifel, Hunsrück oder der Niederrhein. Auch die Perspektive hat sich verschoben. Sherlock Holmes, Miss Marple oder andere schrullige, indizienkombinierende Detektive (die Detektivin war die absolute Ausnahme) verschwanden im Antiquariat; der Leser*innenblick fiel fortan auf verkommene Polizeiapparate oder mafiöse Wirtschaftszentralen. Das Whodunit („Who has done it?“) versank hinter dem Whydunit, die Aufklärung hinter der Einsicht, dass das Böse nicht im Detail, sondern in der Struktur steckt.

Und jetzt Jacob Ross mit The Bone Readers (2016). Einer, der die Krimikoordinaten noch viel gründlicher durchschüttelt. Einer, der Gesellschaft als Machtspiel zwischen Männern und Frauen denkt.

Der Schauplatz ist eine karibische Insel namens Camaho, unschwer erkennbar als Grenada, wo Jacob Ross aufwuchs. Der dort politisch aktive Autor verließ die Insel, nachdem 1983 die Revolution auf Grenada zunächst von Putschisten blutig beendet und dann durch eine US-Invasion endgültig eliminiert worden war. Wie im wirklichen Grenada ist im erfundenen Camaho das geschichtliche Erbe präsent, aber es ist nicht Thema des Romans. Die karibische Tradition spiegelt sich in der Allgegenwart mütterzentrierter Familien und der Bedeutung von Religionsgemeinschaften. Der Kampf der Männer um Macht über Frauen mithilfe von direkter sexueller Gewalt oder vermittelt über institutionelle Gewalt in Form von Statusprivilegien ist der Nährboden für Verbrechen. Nur wer diese Motivation durchschaut, kann sich deren Aufklärung nähern.

Und das tun die Hauptpersonen. Da ist zum einen der Ich-Erzähler Michael Digson, im einheimischen Englisch Missa Digger. Als uneheliches Kind eines Polizeichefs ist er vaterlos bei der Großmutter aufgewachsen. Von ihr hat er die Spielregeln und Ämter der Glaubensgemeinschaft einer verbreiteten Sekte, der Fire Baptist Church, gelernt, sozusagen als bei Gelegenheit aktivierbares Wissenskissen. Seine Mutter, einst Dienstmädchen beim Polizeichef, hat, als der Junge zehn war, an einer Demonstration gegen Vergewaltigung teilgenommen und ist seither verschwunden. Missa Digger verdächtigt den Vater, das Verschwindenlassen befohlen zu haben. Polizei bedeutet für ihn gesellschaftlich und persönlich Repression und ist folglich ein rotes Tuch. Dennoch lässt ihn die Frage nicht los, wie seine Mutter umgekommen und wo sie begraben ist. Daher, und weil ihm das Geld ausgeht, lässt er eines Tages vom kategorischen „Nuh“ (Nein) der Polizei gegenüber ab, geht auf das Angebot des versoffenen, dabei cleveren und unkonventionell arbeitenden Detective Superintendent (DS) Chilman ein und verdingt sich im Polizeidienst.

Dann ist da Miss K. Stanislaus. Plötzlich steht sie in Hütchen und grellfarbigem Sommerkleid im Revier: „Missa Chilman send me to help y‘all“. Auch sie wird sich mit ihrem Job an ihrer eigenen Geschichte und erlittener sexueller Gewalt abarbeiten. Natürlich spielen auch hier familiäre Bande eine Rolle, als Strippenzieher DS Chilman, gerade pensioniert, sie dort zum einen platziert, um den Machoallüren seines Nachfolger Malan vorzubeugen. Missa Digger ist da gerade von einem Ausbildungsjahr in London zurück, wo er auf Empfehlung DS Chilmans Forensik lernte, furrin-sick, wie Miss K. Stanislaus sagt.

Aber es geht um mehr. Tatsächlich sollen die Beiden als seltsames Fahnderkollektiv vor allem einem ungelösten Verschwundenenfall nachgehen, dem mysteriösen Verbleib des jungen Nathan. DS Chilman glaubt wie Nathans Mutter nicht an die These, er habe sich ins benachbarte Trinidad abgesetzt. Missa Digger und Miss Stanislaus tauchen ein in eine Welt, in der Verbrechen begangen und verschwiegen werden, weil Männer Macht über Frauen beanspruchen. Eine abgeschiedene Sektion der Fire Baptist Church gerät in den Fokus der Fahnder. Miss K. Stanislaus wird – natürlich ohne ihre Polizeieinheit zu informieren – auf eigene Faust Mitglied, freundet sich zweckdienlich mit den zumeist weiblichen Kirchenangehörigen an und meldet sich zur Taufe. Missa Digger hat derweil mit seinen diversen Beziehungskisten zu tun und spürt zudem unidentifizierte Leichen auf. Nachts kann er im LED-Licht in deren Knochen mehr über das verübte Verbrechen lesen als allein mit den in London erworbenen forensischen Techniken – eine verschmitzte Anspielung auf das Verhältnis von Wissenschaft und Intuition. Dennoch liegt das Gute nicht in Überlieferung, Religiosität und Geisterwissen. Im Gegenteil. Die Fire Baptist Church ist ein Ausdruck von Männermacht.

Es wird brenzlig, auch für unsere Fahnder. Vom neuen DS Malan geächtet und suspendiert, scheinen über beiden tödliche Fallen zuzuschnappen, Auf eine falsche Fährte folgt die richtige, aber nur, weil Miss K. Stanislaus und Missa Digger – unabhängig voneinander – kapieren, wie Geschlechterverhältnisse gehen.

Jacob Ross karikiert lakonisch, wie Ich-Erzähler Missa Digger nun mal ist, alle Konventionen des Genres und bricht mit allen Erwartungshaltungen der Lesenden aus den Metropolen im Hinblick auf eine intuitiv-primitive Naturverbundenheit der Bewohner*innen der ehemaligen Kolonien. Mit entsprechenden Erfahrungen kann Jacob Ross, der seit 1984 in England lebt, sicher aufwarten. Wie schon in seinen vorherigen Büchern, den Erzählungenbänden Song for Simone (1986, dt. Ein Lied für Simone 1993) und A way to catch the dust (1999) und seinem Roman Pynter Bender (2008) zeigt der Autor sich wieder als Meister des Dialogs, was sicherlich nicht nur Englischsprachigen, sondern auch englischen Muttersprachler*innen so einiges an linguistischem Gespür abverlangt. Aber Sprache lebt durch ihre Sprecher*innen, und Dialoge bilden mündliche Sprache ab. So muss man im Grunde den Roman auch laut lesen, womit auch die Oralität im Roman thematisiert wäre.

In allen Büchern von Jacob Ross ist das Geschlechterverhältnis zentral. In The Bone Readers ist es zu einem Kriterium der Verbrechensaufklärung geworden. Daran müssen sich von nun an andere Krimis messen lassen. Bleibt nur noch zu hoffen, dass sich bald eine Übersetzerin oder ein Übersetzer findet, der sich traut, den Roman ins Deutsche (und andere Sprachen) zu übertragen.

Jacob Ross, The Bone Readers, 270 S., Peepal Tree Press Ltd., Leeds 2016 (bei Internetanbietern für 10-12 Euro erhältlich)