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Die Geschichte von Diego und Lizandro

Trump will unbescholtene junge Migrant*innen nach El Salvador abschieben

US-Präsident Trump macht keine neue Einwanderungspolitik, er setzt fort, was seine Vorgänger Clinton und Obama begonnen haben. Bereits während Clintons erster Amtszeit wurde 1996 ein Einwanderungsgesetz verabschiedet, mit dem der Grenzschutz und die Kriminalisierung von Migrant*innen verschärft wurde. Deren einziges Verbrechen besteht darin, keine gültigen US-Aufenthaltspapiere zu haben. Die Errichtung technisch hochgerüsteter Grenzanlagen mit Sensoren, Kameras, Radar und Drohnen wurde vorangetrieben. Und Obama kann mit dem Spitznamen „Abschiebeweltmeister“ in die US-Geschichte eingehen. In seinen Amtszeiten wurden im Durchschnitt jährlich 300  000 Abschiebungen ausgeführt, mehr als unter jedem Präsidenten vor ihm. Es war auch Obama, der 2014 seinen mexikanischen Amtskollegen  Peña Nieto dazu drängte, das Southern Border Program (Programm für die Südgrenze) aufzulegen, in dessen Rahmen Migrant*innen aus Mittelamerika an der Südgrenze Mexikos abgefangen und deportiert werden. Hier ist die Geschichte von zwei jungen Männern aus El Salvador, die 2009 mit elf beziehungsweise 14 Jahren in den US-Bundesstaat Maryland kamen, sich dort integrierten und am 2. August dieses Jahres, in einer Rekordzeit von nur fünf Tagen nach ihrer Verhaftung, in ihr Herkunftsland abgeschoben wurden.

Nelson Rauda Zablah

Diego und Lizandro Claros Saravia sind keine Salvadorianer, sie sind „Marylander“. Sie haben im Bundesstaat Maryland, wo sie von 2009 bis zu ihrer Abschiebung lebten, Abitur gemacht. Hier haben sie ihre Familie, Mutter und Vater, Bruder Jonathan und Schwester Fatima, ihre Freund*innen, ihre Arbeit, ihr Universitätsstipendium und ihre Träume zurückgelassen und sind als Fremde und gegen ihren Willen an ihren Geburtsort Jucuapa, im Departement Usulután in El Salvador, zurückgekehrt. Eine Woche später sitzen sie zusammen mit Emilio Torres, einem US-Amerikaner salvadorianischer Herkunft, auf der Tribüne des Fußballstadions „Juan Francisco Barraza“ in San Miguel, der Metropole im Osten El Salvadors, und plaudern über ihre Schulen und ihre Geburtstage in den Staaten, aber auch über ein ernsteres Thema, das mehr mit El Salvador zu tun hat. „Wie ist das mit den Pandillas?“, fragt Lizandro, ahnungslos und naiv wie ein Tourist oder eine Touristin. Emilio antwortet wie einer, der schon gelernt hat, wie man in dem Land mit den mächtigsten Maras (oder Pandillas, hierzulande leicht beschönigend Jugendbanden genannt) weit und breit überlebt: „Ihr werdet sie schon kennenlernen, aber sie werden euch nichts tun.“ 

Emilio ist seit ein paar Monaten zurück in El Salvador, wo er bereits im Trikot der Sub-20 von „Aguila“ gespielt hat, des Erstligavereins von San Miguel, der fünfzehn Mal die Landesmeisterschaft gewonnen hat. Lizandros Frage verweist darauf, dass er eigentlich kein Salvadorianer ist, auch wenn sein Pass ihn als solchen ausweist, denn ein Salvadorianer weiß seit langem, dass die Pandillas das Alltagsleben im Land prägen, vor allem in den Gebieten, die sie kontrollieren. Aber weder Lizandro noch sein Bruder Diego wissen das, denn ihr bisheriges Leben hat sich in den USA abgespielt, in Gaithersburg, Maryland, 5300 km entfernt von hier. Außer als „Marylander“ könnte man die Brüder Claros auch als dreamer, Träumer bezeichnen, Kinder und Jugendliche, die mit ihren Eltern ohne Visa in die Vereinigten Staaten gekommen sind und dieses Land als ihr Mutterland bezeichnen, weil sie nichts anderes (mehr) kennen. Die Trump-Regierung betrachtet sie aber als Personen, die das Gesetz, das Einwanderungsgesetz gebrochen haben, und hat sie abschieben lassen.

In der Einwanderungsdebatte in den Vereinigten Staaten dreht sich zurzeit alles um die dreamers, vor allem nachdem einige Versuche im Kongress, ihre Zukunft dauerhaft zu sichern, gescheitert sind. Zurzeit existiert noch das unter Präsident Obama 2012 eingeführte Schutzprogramm für Migrant*innenkinder DACA (Deferred Action for Childhood Arrivals, siehe Kasten), das ihnen Schutz vor Abschiebung und Arbeitserlaubnisse gewährt. Die Gebrüder Claros sind aber leider zwei Jahre zu spät nach Maryland gekommen, denn dieses Programm gilt nur für Personen, die vor 2007 gekommen sind. Sie gehören zu den 9000 Salvadorianer*innen, die nach Angaben des salvadorianischen Außenministeriums in den ersten sieben Monaten dieses Jahres deportiert worden sind. Ihre Abschiebung hat Proteste von Migrant*innenorganisationen und Politiker*innen ausgelöst, weil sie sich in den USA nie etwas hatten zu Schulden kommen lassen. In der Washington Post vom 2. August 2017 wird Heather Bradley, eine ehemalige Lehrerin der beiden Brüder, zitiert: „Diese Jungs haben nichts Schlechtes gemacht, im Gegenteil: Sie haben sich als Schüler hervorgetan. Die Latte ist einfach zu niedrig gehängt.“ Der demokratische Senator für Maryland, Chris van Hollen, versuchte, die beiden freizubekommen, nachdem sie an einem Freitag verhaftet wurden. „Ich war sehr wütend“, sagte er, als er am Mittwoch darauf erfuhr, dass sie abgeschoben worden waren. Beide hatten zu diesem Zeitpunkt Universitätsstipendien, Lizandro für seine Leistungen im Fußball.

Diego und Lizandro sind Fremde in dem Land, das sie 2009 als Kinder verlassen haben. Lizandro war damals zehn, Diego zwölf Jahre alt. 2009 war El Salvador bereits ein Land mit epidemischer Gewalt, aber mit einem Funken Hoffnung, denn in jenem Jahr übernahm die FMLN, die Ex-Guerilla, die Regierung, mit einem Wahlprogramm, das Veränderungen versprach nach 20 Jahren Regierungen der rechtsextremen ARENA-Partei. Neun Jahre später kann man sagen, dass diese Veränderungen in puncto Mara-Kriminalität nur kleine Fortschritte brachten. Die Gebrüder Claros wissen nichts von dieser Realität. Keiner von beiden hat Wurzeln in El Salvador. Wenn sie am nächsten Sonntag wählen müssten, wüssten sie nicht, welche Partei. Sie wissen nicht, wer heute Präsident ist, und außer Monseñor Romero, der inzwischen selig gesprochen worden ist, kennen sie keine prominenten Salvadorianer*innen. Als sie gingen, konnten sie kein Wort Englisch, heute verständigen sie sich besser auf Englisch als auf Spanisch. Wenn sie Spanisch sprechen, vermischen sie es mit Englisch oder machen Fehler. Lizandro sagt „indecidido“, wo es „indeciso“ (unentschlossen) heißt, Diego spricht von einer „librería“ (Buchhandlung), wenn er „biblioteca“ (Bibliothek, auf Englisch: library) meint.

Ihr amerikanischer Traum begann 2009, als sie mit gefälschten Pässen in die USA einreisten. Bei den Grenzbehörden in El Salvador kamen sie damit durch, in New York nicht. Sie wurden verhaftet, aber nach einem Tag freigelassen und nie angeklagt, weil sie minderjährig waren. So konnten sie ihre Eltern und Geschwister endlich wieder sehen. Drei Jahre später beantragten sie Asyl. Der Richter lehnte ab, denn die Claros-Brüder waren in El Salvador weder wegen ihrer Rasse, ihres Geschlechts, ihres Glaubens, ihrer politischen Ansichten oder ihrer sexuellen Präferenzen verfolgt worden. Und sie waren auch nicht vor der Gewalt der Maras geflohen.

Ihr Vater war seit 1998 in den USA, wo er auf dem Bau arbeitet, und ist im TPS-Programm (Temporary Protection Status, zeitlich befristeter Schutz), in dem ungefähr 200 000 Salvadorianer*innen sind und das demnächst nicht weiter verlängert werden soll. Ihre Mutter, Lucía, ist zwei Jahre später gekommen, der ältere Bruder, Jonathan, ist Zimmermann und arbeitet ebenfalls auf dem Bau, die Schwester Fatima ist eine „Träumerin“, also im DACA-Programm, dessen Beendigung die Trump-Regierung Anfang September verkündet hat. Über zehn Jahre nach dem Vater kamen Diego und Lizandro, die Familienzusammenführung war abgeschlossen.

Lizandro hat seinen amerikanischen Traum im Fußball erlebt. Mit dreizehn Jahren begann er in der Schule von Ronald Cerritos, einem salvadorianischen Ex-Stürmer, der zehn Spielzeiten lang in der ersten US-Liga gespielt hat, mit dem Fußball. Von dort wurde er als Innenverteidiger von Bethesda, einem Eliteclub, verpflichtet. Dort fügte er sich so gut in die Mannschaft, dass er im April 2017 ein Stipendium bekam, um im Uniteam von Louisburg im Bundesstaat North Carolina zu spielen. Diego spielt auch Fußball, aber seit er sich am Kopf verletzt hat, ist das Spiel für ihn nur noch eine Freizeitbeschäftigung. Am 28. Juli war für die beiden Brüder der Traum zu Ende, als sie sich wie schon seit Jahren turnusmäßig bei der Behörde für Einwanderung und Zoll (Immigration and Customs Enforcement, ICE) meldeten. Diesmal wurden sie zu ihrer Überraschung kurzerhand festgenommen. Ihr Großvater aus El Salvador war gerade zu Besuch und ihre Mutter hatte sie gebeten, nach dem ICE-Termin einkaufen zu gehen. Sie kamen nie zurück.

Wir haben über den Fall mit Philip Miller gesprochen, dem nationalen Operationschef des ICE und der Enforcement and Removal Operations (ERO, für Abschiebungen zuständige Abteilung). Er ist seit zwanzig Jahren im Geschäft und Verfechter einer harten Linie zur Abschreckung. Zum Beispiel soll niemand mehr aus der Abschiebehaft auf Kaution freikommen. Auf unsere Frage, weshalb man die Claros-Brüder ins Land ließ, obwohl man bei ihrer Ankunft entdeckte, dass ihre Pässe gefälscht waren, antwortet er, es habe in der Abschiebehaftanstalt nicht genügend Platz gegeben, man habe sie laufen lassen mit der Maßgabe, vor einem Einwanderungsgericht zu erscheinen. 2012 bekamen die beiden, laut Miller, eine Aufforderung, das Land freiwillig zu verlassen. Sie legten Widerspruch ein, dem aber nicht stattgegeben wurde. Seither leben sie unter dem Fallbeil. Zwar versäumen sie keinen Termin bei der ICE, aber dort geht man offenbar davon aus, dass das nur Schau ist und die beiden nicht die geringste Absicht haben, das Land zu verlassen. Dass Lizandro und Diego Arbeitserlaubnisse haben, nützte ihnen nichts. „Als sie keine Flugtickets nach El Salvador kauften, wozu wir sie angewiesen hatten“, erklärt Miller, „haben sie gegen eine Anordnung verstoßen. Dann nehmen wir sie fest und ihre Arbeitserlaubnisse gelten dann nichts.“

Vier Tage saßen sie im Gefängnis, dann wurden sie mit einem kommerziellen Flug abgeschoben. Der Fall ist ein Beispiel für die verschärfte Kriminalisierung auch noch der kleinsten Migrationsvergehen unter Trump. Unter Obama hatte noch gegolten, dass in erster Linie verurteilte Kriminelle abgeschoben werden sollten, die eine Gefahr für die Gesellschaft darstellten. Miller erklärt, dass diese Prioritäten jetzt nicht mehr gelten. „Der Präsident und der Generaldirektor des ICE haben klar gesagt, dass es jetzt nicht mehr verschiedene Kategorien von Migrant*innen gibt, dass es keine Personengruppen mehr gibt, die von den Einwanderungsgesetzen ausgenommen werden. Es gibt keine Aufenthaltserlaubnisse mehr.“

Aber nicht alle sind mit der US-Einwanderungspolitik einverstanden, waren es in der Vergangenheit nicht und sind es jetzt erst recht nicht. Nachdem die beiden jungen Männer aus Gaithersburg verhaftet worden waren, protestierten zum Beispiel die „Casa de Maryland“, die in diesem Bundesstaat für die Rechte der Migrant*innen eintritt, und der bereits zitierte demokratische Senator Chris van Hollen: „Sie sind hervorragende Bürger Marylands, aktiv in ihrer Gemeinde und bedacht auf ihre Ausbildung. Es ist wichtig, Mitglieder der MS-13 (Mara Salvatrucha, eine der großen Pandillas) zu verfolgen, aber die Deportation von Diego und Lizandro verstößt gegen den Anstand und den gesunden Menschenverstand. Das sind meine Wähler.“

Gaithersburg mit seinen 68  000 Einwohner*innen ist praktisch ein Vorort von Washington, D.C., hat Spaßbäder, Eissporthallen, Minigolf, ein Museum, zwei Jugendzentren, eine Sternwarte und eine Reihe von Technologieunternehmen. Nachdem die Claros-Brüder dort acht Jahre lang gelebt haben, hat es sie jetzt plötzliche nach Jucuapa verschlagen, eine Kleinstadt mit 18  000 Einwohner*innen, 130 km östlich von San Salvador, die selten Schlagzeilen macht. Bekannt ist sie allenfalls für ihr blühendes Geschäft mit Särgen, obwohl es in dem Ort selbst wenige Morde gibt. Im Stadtpark vor der Kirche und dem Rathaus gibt es manchmal Probleme mit dem Smartphone, weil das Gefängnis, dessen Funksignal blockiert ist1, um die Ecke liegt. Am ersten Tag nach ihrer Deportation und ihrer Ankunft in Jucuapa fuhren Lizandro und Diego erst einmal nach San Miguel, um Kleidung zu kaufen, denn nach ihrer Festnahme durften sie nicht mehr nach Hause, um etwas einzupacken. Das Land, in dem sie einst geboren wurden, erkennen sie nicht wieder. Sie sind zurückgekommen wie Touristen, weil sie nach ihrer Rückkehr mit einem kommerziellen Flug nicht vom Außenministerium empfangen wurden, das ein Programm für Deportierte unterhält. „Wir können es noch gar nicht fassen, aber wir überlegen schon, wie wir hier wieder wegkommen“, sagt Diego, der seine Zweisprachigkeit nutzen und Arbeit im Tourismus suchen will. Die Brüder sind sich einig, dass es das Beste wäre, in die USA zurückzukehren, diskutieren aber darüber, wie. Auf legalem Wege würde das sehr lang dauern, weil sie deportiert worden sind. Deshalb denkt Lizandro daran, es über Land zu versuchen. „Wenn es nicht anders geht, ist das eine Option. Meine Jugend, meine Freunde, meine Familie sind dort. Ich würde alles machen, um wieder bei meiner Familie zu sein.“ Diego steht noch unter Schock: „Vielleicht ist es besser hier zu bleiben, denn hier passiert mir nichts. Ich will nicht wieder ins Gefängnis.“

  • 1. Weil verhaftete Mara-Chefs aus dem Hochsicherheitsgefängnis heraus ihre Geschäfte per Handy weiter kontrollierten, wurde um den Knast ein Funkloch geschaffen, sodass die Häftlinge, aber auch die nähere Umgebung des Gefängnisses, nicht telefonisch erreichbar sind.

Der Beitrag erschien am 17. August 2017 in der salvadorianischen Internetzeitung El Faro. Gekürzt, übersetzt und bearbeitet von Eduard Fritsch.