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Nicht nur in Richtung Norden

Inneramerikanische Migrationsströme

Obwohl sie bisher gegenüber der massiven Migration Richtung USA immer an zweiter Stelle stehen, haben die Migrationsströme innerhalb Lateinamerikas eine wachsende wirtschaftliche, soziale und politische Bedeutung. Nach der Studie Internationale Migration in den Amerikas, die von der Organisation Amerikanischer Staaten und der OECD 2015 gemeinsam herausgegeben wurde, macht die Migration innerhalb Lateinamerikas und der Karibik bisher nur ein Viertel der gesamten Migration in der Region aus. Dennoch umfasst sie vier Millionen Menschen und wächst um ca. 17 Prozent pro Jahr, u.a. als Folge der Erschwerung der Migration in die OECD-Länder und der Konsolidierung von regionalen Integrationsprozessen wie dem Mercosur oder der Andinen Gemeinschaft (CAN). Einige dieser Migrationsprozesse sollen hier vorgestellt werden.

Nazaret Castro

Bolivianer*innen und Paraguayer*innen in Argentinien

Trotz der wirtschaftlichen Auf- und Abschwünge ist Argentinien eines der mächtigsten Länder des Kontinents. Deshalb ist es auch das Land mit den meisten lateinamerikanischen Immigrant*innen, wie der Bericht "Panorama der Migration in Südamerika" 2012 zeigt. 1,5 Millionen Lateinamerikaner*innen sind als legale Migrant*innen registriert. Sie kommen aus den umliegenden Ländern und Peru. Bis Ende 2016 war es relativ einfach, in Argentinien eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, es genügte ein einfacher bürokratischer Akt. Vor einigen Jahren kamen vor allem Chilen*innen und Uruguayer*innen, zurzeit sind es vor allem Menschen aus Bolivien, Paraguay und Peru.

Nach der letzten Volkszählung von 2010 stellen die Migrant*innen 4,5 Prozent der Bevölkerung. Die meisten kommen aus Paraguay, 550 700 Personen, gefolgt von Bolivianer*innen (345 000), Chilen*innen (191 000) und Peruaner*innen (157 500). Die Migration aus Paraguay, Bolivien und Peru wächst auch am stärksten an, wobei die meisten Menschen sich im Großraum Buenos Aries niederlassen. Jedes Jahr wurden bis 2016 mehr als 200 000 Aufenthaltserlaubnisse vergeben, 2012 waren es mehr als 300 000. Eine Studie von CEPAL zeigt die klare Arbeitsverteilung nach Nation und Geschlecht. Die Bolivianer*innen arbeiten in der Metropolenregion vor allem im Gemüseanbau und im Textilsektor, oft unter prekären Bedingungen, die Paraguayer arbeiten meist im Baugewerbe, die Paraguayerinnen im Haushalt.

 

Kolumbianer*innen in Ecuador und Venezuela – und Venezolaner*innen in Kolumbien

Viele Kolumbianer*innen haben aufgrund der bewaffneten Konflikte ihr Land verlassen müssen, die meisten optieren für die Nachbarländer, wobei die bilateralen Beziehungen zu Ecuador und Venezuela nicht immer die besten sind. Die Grenzregionen um Nariño (Kolumbien) und Esmeraldas (Ecuador) sind dafür ein gutes Beispiel. Die Pazifikküste in beide Richtungen gehört zu der sogenannten Bioregion Chocó, bekannt für ihre große Biodiversität und ihre ethnische und kulturelle Vielfalt, und wird überwiegend von Menschen mit afrikanischen Wurzeln bewohnt.

Seit den 90er-Jahren überquerten Tausende von Kolumbianer*innen auf der Flucht vor paramilitärischen oder Guerillagruppen die Grenze; andere entschieden sich zur Migration, als Schädlingsbefall die Ölpalmenplantagen vernichtete, die in der Nariño-Region eine der wenigen Arbeitsmöglichkeiten boten. Nicht immer wurden die Neuangekommenen von der örtlichen Bevölkerung willkommen geheißen, die Angst um die wenigen Arbeitsplätze in der Region haben. Laut einer Umfrage von 2010 haben 64 Prozent der befragten Ecuadorianer*innen eine schlechte oder sehr schlechte Meinung über ihre kolumbianischen Nachbar*innen. In Esmeralda mischen sich Vorurteil mit Fakten: Auch Paramilitärs und Drogenhändler haben die Grenze überquert. 2015 explodierte der Konflikt zwischen Venezuela und Kolumbien, als Präsident Nicolás Maduro seinen Plan verkündete, Kolumbianer*innen zu deportieren. Nach Daten der UN verließen daraufhin alleine im August und September 2015 18  000 Kolumbianer*innen das Land, um nicht zur Zielscheibe der venezolanischen Angriffe zu werden. Gleichzeitig behauptete Maduro, dass in den ersten sieben Monaten des Jahres 2015 121  000 Kolumbianer*innen nach Venezuela gekommen seien, um dort zu bleiben, die kolumbianischen Behörden sprechen dagegen von 8000 Menschen. Inzwischen hat sich die Situation vollständig gedreht. Nach einem Bericht von El Pais u.a. überqueren seit Juli 2016 bis heute täglich mehrere Tausend Venezolaner*innen die Grenze zu Kolumbien, vor allem wegen der Lebensmittelknappheit und der politischen Polarisierung. Auch wenn die Zahl möglicherweise etwas übertrieben ist, gibt es derzeit zweifellos massive Migrationsbewegungen von Venezolaner*innen nach Kolumbien und in andere lateinamerikanische Länder.

 

Peruaner*innen in Chile und Ecuador

Nicht nur aus Kolumbien, auch aus Peru zieht es viele Menschen nach Ecuador, denn das Land ist dollarisiert, was die Möglichkeit, remesas (Rücküberweisungen) nach zu Hause zu schicken, sehr erleichtert. Vor allem der Kursanstieg des Dollars gegenüber den einheimischen Währungen hat in jüngerer Zeit diesen Prozess verstärkt. Nach einer Studie von Flacso Ecuador füllten die Peruaner*innen vor allem die Lücken, die durch die massive Ausreise von Ecuadorianer*innen nach Spanien in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts entstanden war, etwa in der Bauwirtschaft. Die meisten bleiben in der Grenzregion, die Kolumbianer*innen im Norden, die Peruaner*innen im Süden. Nach einer Studie der Internationalen Organisation für Migration IOM von 2012 stellen die Kolumbianer*innen mit 18 285 Personen das größte Migrationskollektiv in Ecuador, gefolgt von den Peruaner*innen mit 15 678 Personen.

In Chile bilden die Peruaner*innen die größte Einwanderungsgruppe, sie stellen ein Drittel aller legalen Migrant*innen in Chile, fast doppelt so viele wie die zweite Gruppe, die in Argentinien geboren sind. Schon sehr lange gab es eine Einwanderung von Peru nach Chile, sie ist jedoch aufgrund der wirtschaftlichen Stabilität in Chile in den letzten Jahrzehnten stark angestiegen.

 

Migration innerhalb Brasiliens

Wenn auch die Zeiten der massiven Migration während der Industrialisierung des Landes in den 60er-Jahren, aus dem Nordosten des Landes in den Südosten, vorbei sind, ist diese Route immer noch eine Migrationsroute. Die Bewohner*innen der Bundesstaaten Ceará, Piauí, und Bahia migrieren in Richtung der Metropolenregionen São Paulo und Rio de Janeiro, auf der Suche nach besseren Arbeitsmöglichkeiten in der Industrie oder als Haushaltsangestellte. Brasilianer*innen bleiben meistens innerhalb der Landesgrenzen, zum einen weil diese ein riesiges Gebiet umfassen, zum anderen wegen der Sprachbarriere. Weitere Ziele für die innerbrasilianische Migration sind die Städte Santos, Curitiba und Campinas.

In diesem Land von kontinentalen Ausmaßen sind die einzelnen Regionen sehr unterschiedlich. Die bis heute andauernde ethnische Diskriminierung zeigt sich darin, dass der verarmte Nordosten überwiegend schwarz ist, der reichere Süden weiß. In São Paulo wird sichtbar, wie sich durch Migration das Gesicht einer Stadt verändert, aber die Ungleichheit bleibt: In den mittelstädtischen Stadtvierteln wohnen die Weißen, in der Peripherie und in den Favelas besteht die Bevölkerung überwiegend aus den Nachfahren der früher nach Brasilien zwangsverschleppten Sklav*innen aus Afrika. Sie wanderten in den letzten drei bis vier Jahrzehnten aus dem Nordosten ein, zum Teil ist es auch schon die zweite oder dritte Generation. Obwohl diese Migrant*innen ihren Anteil am Aufbau der Stadt leisteten, hat sich der Rassismus gegen sie nicht geändert, wie die rassistischen Kommentare während der Präsidentschaftswahlen 2014 zeigen. (Dort wurde in den sozialen Medien und auch von rechten Kandidat*innen immer wieder verbreitet, die Nordestinos wählten die PT nur, weil sie unwissend und dumm seien und die kleine Sozialunterstützung Bolsa Familia kassieren wollten, es sollten besser nur Menschen aus dem Süden oder Südosten wählen und Schlimmeres.)

 

Haitianer*innen in der Dominikanischen Republik

Die Migration aus Haiti in die Grenzregion ist schon alt, vor allem seit Anfang des 20. Jahrhunderts die US-Zuckerkonsortien Tausende Arbeitskräfte aus Haiti in die dominikanischen Zuckerrohrplantagen brachten, um die Lohnkosten zu senken. In der jüngeren Zeit führten das Erdbeben von 2010 und die danach verstärkte wirtschaftlich-soziale Krise Haitis zu einem erneuten Anstieg der Migration. Nach einer Studie von 2013 leben 524 600 Migrant*innen in der Dominikanischen Republik, von denen 87,3 Prozent aus Haiti kommen. 2015 begann die Dominikanische Republik einen „Regularisierungsprozess“, der zur Deportation von 180  000 Haitianer*inne führte, viele überquerten die Grenze, bevor sie ausgewiesen wurden. Im Juni 2015 verließen 14 000 Haitianer*innen in nur einer Woche zwangsweise die Dominikanische Republik.

 

Costa Rica, Einwanderungsland

Wenn Argentinien in absoluten Zahlen das Land mit den meisten Migrant*innen ist, so hat Costa Rica im Verhältnis zur Bevölkerung den höchsten Anteil an Migrant*innen. Nach Daten von CEPAL, die auf den Volkszählungen von 2012 basieren, leben 386  000 legale Migrant*innen im Land, neun Prozent der Bevölkerung, obwohl der Anteil sinkt. In den 80er- und 90er-Jahren kamen mehr Menschen ins Land als im 21. Jahrhundert. 2014 stellten Menschen aus Nicaragua, Kolumbien und den USA die größten Einwanderungskollektive. Aus den USA sind es zumeist Rentner*innen, die für ihren Lebensabend einen sonnigen Platz suchen und sich für Costa Rica entscheiden, vor allem weil es als sicheres Land inmitten einer bewegten Region gilt. Nach der Volkszählung von 2011 leben 2262 US-Pensionäre in Costa Rica, 262 aus Kanada und 284 aus Spanien.

 

Mexiko, nur einen Schritt vom amerikanischen Traum entfernt

Mexiko ist das Land, das weltweit die meisten Migrant*innen im Ausland stellt. 2012 waren es 13 Millionen Menschen, und ein großer Teil davon lebt in den USA. Zugleich ist Mexiko aber auch ein Einwanderungsland. Traditionell kommen viele Menschen aus Zentralamerika nach Mexiko, vor allem aus Guatemala – 2010 waren es 35 000 Menschen. In den letzten Jahren kommen sehr viele Menschen auf dem Weg in die USA oder Kanada durch Mexiko. Inzwischen deportiert Mexiko nach einem Bericht des unabhängigen Washington Office on Latin America (WOLA) mehr Menschen als die USA. Allein zwischen Januar und September 2015 deportierten die mexikanischen Sicherheitskräfte 118 000 Menschen aus Guatemala, El Salvador und Honduras in ihre Heimatländer.

Der Beitrag ist zuerst im März 2016 in der spanischen Onlinezeitschrift Esglobal erschienen.

https://www.esglobal.org/los-flujos-migratorios-intrarregionales-en-amer...

Der Abschnitt über die Migration aus Venezuela wurde von der ila-Redaktion ergänzt.