ila

Kleine Geschichten, große Dramen

Die Erzählungen der Kolumbianerin Esther Fleisacher
Gert Eisenbürger

Meistens sind es nur wenige Seiten, auf denen eine kleine Begebenheit erzählt wird. Mal ist es ein Vorkommnis im Haus, mal sind es Episoden aus dem Leben von Verwandten oder Bekannten und immer wieder Besuche auf Friedhöfen oder die Teilnahme an Begräbnissen. In den Geschichten der Kolumbianerin Esther Fleisacher passiert nicht viel, es gibt keinen spannenden Plot. Und dennoch verbergen sich hinter dem, was ganz unaufgeregt erzählt wird, große Dramen von lange gehüteten Geheimnissen und tiefen Verletzungen. Ganz oft stehen hinter merkwürdigen Verhaltensweisen traumatische Erfahrungen von antisemitischer Verfolgung in Europa, Verlust von Heimat oder schwierigem Zurechtfinden in der Fremde. Die „Helden“, überwiegend sind es Heldinnen, der Geschichten sind keine Opfer. Alle haben es geschafft, ihr Leben zu meistern, viele haben es zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Und doch sind es beschädigte Menschen, in deren Leben Erfahrenes tiefe Wunden hinterlassen hat.

Das berichtet die Erzählerin stets aus der Perspektive eines Kindes oder einer jungen Frau, das oder die selbst mehr oder weniger wohlbehalten aufwachsen konnte. Nahezu alle Geschichten spielen sich in dem jüdischen mittelständischen Milieu ab, dem auch die Autorin entstammt. Aber sie haben überhaupt nichts mit den Schilderungen mancher literarischer Texte zu tun, deren Autor*innen nur ihren eigenen bürgerlichen Mikrokosmos wahrnehmen und so tun, als sei das die ganze Wirklichkeit. Bei den Texten von Esther Fleisacher ist dagegen immer spürbar, dass die sehr aufgeräumte, mitunter langweilig erscheinende Welt, in der sich ihre Protagonist*innen bewegen, nur ein Refugium in einer bedrohlichen Geschichte und Wirklichkeit darstellt.

Dabei geht es weniger um die Verhältnisse in Kolumbien. Das Land, in dem sehr viele Menschen in den letzten Jahrzehnten schlimme Gewalterfahrungen machen mussten, war für diejenigen, denen wir in Esther Fleisachers Geschichte begegnen, ein Fluchtpunkt, ein Ort, der ihnen nach den Verfolgungen in Europa Sicherheit versprach und dies auch überwiegend einlöste. Nicht dass die Autorin die Gewalt in ihrem Heimatland völlig ausklammert. In „Die Puppe, die nicht schwimmen konnte“, mit etwas über sechs Seiten eine der längeren im Buch, berichtet die Erzählerin von Inés, die als Dienstmädchen bei ihrer Familie gearbeitet hat. Normalerweise hatte ihre schwierige Mutter an jeder Hausangestellten etwas auszusetzen, was dazu führte, dass es keine länger bei ihr aushielt. Doch mit Inés war sie hochzufrieden und bald von der Sorge beherrscht, sie könnte sie verlieren. Nur widerstrebend gestattet sie der jungen Frau den Besuch der Abendschule, weil sie fürchtet, nach deren Abschluss würde Inés kündigen. Doch dann unterstützt sie sie beim Lernen und hilft ihr, die Schule erfolgreich abzuschließen und ein Studium zu beginnen. Bei Familienbesuchen fürchtet sie, ihr Dienstmädchen könnte sich in ihrem Dorf verlieben und nicht mehr zurückkommen. Inés treiben jedoch ganz andere Sorgen um. Dort wo sie herkommt, bedrohen und vertreiben Paramilitärs die Bewohner*innen. Auch ihre Familie gerät in Gefahr und muss schließlich in die Stadt fliehen. Als die Mutter der Erzählerin, die ansonsten kaum zur Kenntnis nimmt, was außerhalb der Familie und des Bekanntenkreises geschieht, von der Situation der Familie von Inés erfährt, zeigt sie sich solidarisch, unterstützt die Hausangestellte und ihre zu Binnenflüchtlingen gewordenen Angehörigen. Die Erfahrungen von Inés haben einiges in ihr wachgerufen und eines Abends erzählt sie der erstaunten Tochter von der eigenen Familiengeschichte, den antisemitischen Verfolgungen, die sie als Kind in Russland erlebt hat, und der schwierigen Emigration der Familie.

Manchmal spielt die Autorin auch mit den Erwartungen der Leser*innen. Fast durchgängig erleben sie eine Erzählerin, die ihre jüdische Umgebung schildert. Doch in der Geschichte „Mangos vom Camposanto“ schlüpft sie in die Rolle eines katholischen Mädchens, das sich mit einem jüdischen Nachbarskind anfreundet und wahrnimmt, was bei dessen Familie anders ist als bei den Leuten, die es bisher kannte.

Eigentlich gehören Kurzgeschichten und knappe Erzählungen nicht zu meinen bevorzugten literarischen Genres. Ich greife eher zu längeren Geschichten, größeren Erzählungen und Romanen, die es mir gestatten, langsam in eine andere Welt einzutauchen, die Figuren kennenzulernen und mich mit ihnen und ihrem Handeln auseinanderzusetzen. Esther Fleisachers kurze Texte haben dennoch fasziniert, denn auch wenn das eher schmale Buch 27 verschiedene Geschichten enthält, die alle abgeschlossen sind, ging es mir wie bei der Lektüre eines Romans. Zwar sind die Protagonist*innen in jeder Erzählung andere, doch einen sie gemeinsame Erfahrungen und ein ähnliches Umfeld. Nach der Lektüre weniger Texte glaubte ich beim nächsten, die handelnden Personen bereits zu kennen, und war neugierig darauf, was ich diesmal über sie erfahren würde.