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Eine neue Welle des Feminismus

In Argentinien und in ganz Lateinamerika

Die Bewegung #NiUnaMenos („Nicht eine weniger“), die 2015 in Argentinien gegen die Frauenmorde entstanden ist, hat nicht nur am Rio de la Plata ein Bewusstsein für Geschlechterungleichheit auf den unterschiedlichsten Ebenen des Lebens von Frauen geweckt, in den Schulen, den gewerkschaftlichen Organisationen und den Stadtvierteln. Können wir also von der vierten Welle der feministischen Flut sprechen?

Mariana Carbajal

In den Oberschulen von Buenos Aires ist der Atem des Feminismus immer stärker zu spüren. Die Forderung nach einer integralen Sexualerziehung ist eine der Parolen der Studierendenbewegung in der argentinischen Hauptstadt. „Ohne Sexualerziehung keine Bewegung NiUnaMenos“, rufen die Jugendlichen der Julio-Cortázar-Schule im Stadtviertel Flores immer wieder. Im letzten Jahr entstanden Kommissionen zur Geschlechterfrage in den Schulen und von dort aus haben sie verschiedene Projekte angestoßen, die den Einfluss der Bewegung NiUnaMenos ausdrückten. In der Schule Primera Junta in Caballito, einem anderen Stadtviertel von Buenos Aires, forderten die Schüler*innen im Jahr 2017 zum Beispiel, Themen wie „feministische Kämpfe“ und „alltäglicher Machismo“ zu behandeln. In der Schule Claudia Falcone in Palermo wurde das Projekt yo digo les ins Leben gerufen. Es soll dazu anregen, die ausschließlich männliche Form in der Sprache zu hinterfragen, mit der normalerweise Menschen im Plural benannt werden. Weitere Initiativen und Themen, die dort vorangetrieben werden, sind Selbstverteidigungskurse, die Forderung nach Veränderung der Bekleidungsvorschriften beim Schulbesuch, Vorträge zur Abtreibungsfrage, sexueller Missbrauch, Hetzjagden auf der Straße und Männergewalt. Das alles, obwohl die lokale Regierung, neoliberal wie die nationale Macri-Regierung, sich weigert, diese Inhalte offiziell auf die Agenda zu setzen, wie es das Gesetz zur Sexualerziehung von 2006 vorsieht.

Diese Bewegung in den Schulen ist ein deutlicher Ausdruck der Revolution, die die Bewegung NiUnaMenos seit dem 3. Juni 2015 ins Leben gerufen hat, als eine riesige Demonstration in der argentinischen Hauptstadt ein Echo in mehr als 100 Städten des Landes fand.

Andrea Herrera hat schwarzgefärbte glatte, lange Haare und dunkle Augen: „Ich habe mich von meinem Mann getrennt, weil ich in der Gewerkschaft aktiv geworden bin“, erzählt sie, als würde sie eine Grundsatzerklärung abgeben. Ihr Ex-Mann wollte nicht, dass sie sich in der „Männerwelt“ Gewerkschaft bewegt und dort in Kämpfen aktiv wird. „Ich bin völlig zufrieden mit dem Weg, den ich eingeschlagen habe, und meine Kinder unterstützen mich dabei“, sagt Andrea, deren Töchter 14 und 23 Jahre alt sind. Sie hat einen Uniabschluss in Unternehmensführung und arbeitet seit fast zwei Jahrzehnten bei der Firma Mastellone, dem größten Milchunternehmen des Landes. Vor zweieinhalb Jahren begann sie mit ihrer Gewerkschaftsarbeit und seit Januar 2017 ist sie die erste weibliche Delegierte in der Gewerkschaft der Milcharbeiter*innen Argentiniens (Asociación de Trabajadorxs Lecherxs de la República Argentina – ATILRA). Andrea war auch beim ersten Internationalen Frauenstreik aktiv, der in Argentinien vom Kollektiv NiUnaMenos mitorganisiert wurde.

Frauen aus vielen Gewerkschaften fanden sich mit den unausgesprochenen Kräfteverhältnissen ab. „Wir wissen, dass wir die Variable in der neoliberalen Sparpolitik sind. Wir bekommen weniger Lohn als die Männer und machen die prekärsten Arbeiten. Wir fordern gleiche Möglichkeiten“, erzählt Andrea Herrera. Während der kurzen Zeit, in der sie bisher gewerkschaftlich aktiv ist, konnte sie bereits einiges für die Frauen in der Milchfabrik General Rodríguez 60 km von Buenos Aires durchsetzen. Dort sind von den 3000 Beschäftigten kaum fünf Prozent Frauen. Sie verrichten die niedrigsten Arbeiten. „Wir hatten weder eigene Toiletten noch eigene Umkleideräume. Im November 2016 haben wir sie endlich durchsetzen können. Wir haben Unterschriften gesammelt und auch einen Raum zum Stillen bekommen“, zählt Herrera auf.

NiUnaMenos ist mehr als eine Parole, mehr als ein Foto und mehr als ein Frauenkollektiv, das davon träumt, die Welt zu verändern. Es ist eine Bewegung, die Köpfe öffnet. Auch in den Armenvierteln gibt es Hinweise auf diesen Aufruhr. In Villa Fiorito, im Süden des Großraums Buenos Aires, nimmt eine Gruppe von Frauen an einem Kunst- und Aktivismus-Workshop teil. Sie waren bei der letzten Demonstration am 25. November in der Hauptstadt, am Tag der Abschaffung der Gewalt gegen Frauen. Sie liefen stolz mit ihren T-Shirts, auf die sie selber feministische Parolen geschrieben hatten. Claudia Giménez, eine 47-Jährige mit 14 Kindern, trägt zum Beispiel ein großes rotes Herz und die Parole: „Aus Liebe musst du nichts tun, was du nicht willst.“ „Dieser Workshop hat mein Leben verändert", sagt sie. „Ich habe mich immer minderwertig gefühlt, mein Mann hat mich immer gezwungen, das zu tun, was er wollte. Aber heute weiß ich, dass es nicht so sein muss.“ „Uns bewegt das Begehren“ steht auf anderen T-Shirts ihrer compañeras.

Seit Mitte 2015 breitet sich die feministische Explosion in Stadtviertel, Schulen, Universitäten und Gewerkschaften aus. Und das geschieht nicht nur in Argentinien. „Millionen von Frauen setzen sich mit ihrer Subjektivität in Bewegung“, analysiert die Soziologin Dora Barrancos.

Wird diese Veränderung Teil der vierten feministischen Welle sein? Die massiven Frauenmobilisierungen gegen Männergewalt haben sich in den letzten Jahren in Lateinamerika gegenseitig verstärkt. Und es handelt sich nicht um eine isolierte Erscheinung. „Unser Territorium wird von einem enormen Ungehorsam erfasst, seitdem wir vor zweieinhalb Jahren die Parole NiUnaMenos auf die Straße getragen haben. Diese Bewegung wird von immer mehr rebellischen Körpern und Willen befeuert, vor allem unter den Jüngeren. Diese Rebellion hat sich wie eine Flut auf verschiedene Regionen ausgebreitet, vor allem in Lateinamerika und der Karibik“, sagt die Autorin María Pía López, eine der Mitbegründerinnen des Kollektivs NiUnaMenos.

Schon jetzt wird am nächsten internationalen Frauenstreiktag geschmiedet. Wie schon im Jahr 2017 wird die Erde wieder in mehr als 50 Ländern beben. Am 8. März wird die Welt durch einen neuen Internationalen Frauenstreik erzittern. Der Streik soll vor allem die Ungleichheit und ihre Folgen zum Thema machen, die Frauen in ihrem Alltag erleben müssen: die Männergewalt und den Frauenmord als ihr extremster Ausdruck; das Sterben bei Abtreibungen, die in Lateinamerika kriminalisiert werden; die nicht bezahlte Hausarbeit, die vor allem von Frauen geleistet werden muss; die Frauenlöhne, die in Argentinien durchschnittlich 27 Prozent unter den Männerlöhnen liegen; die prekarisierten Jobs, die Frauen eher treffen genauso wie die Arbeitslosigkeit.

„Der Streik richtet sich gegen das Patriarchat und den Kapitalismus, die uns ausbeuten. Wir sehen, wie sich Kraft und Widerstand der Frauen entwickeln. Es geht um einen Prozess des Bewusstseins. Hoffentlich können wir diese neue Gesellschaft erschaffen, nach der wir Frauen uns so sehr sehnen“, sagt Alicia Amarilla Leiva. Die Campesina ist 36 und lebt mit ihrem zehnjährigen Sohn alleine. Seit 13 Monaten ist sie Mitglied in der landesweiten Koordination der Landarbeiterinnen und indigenen Frauen in Paraguay (Conamuri – Coordinadora Nacional de Mujeres Trabajadoras Rurales e Indígenas). Diese Frauen benutzen das Gewerkschaftsinstrument Streik, denn ihre Forderungen sollen schnell durchgesetzt werden, wie sie sagen.

Aber trotz der feministischen Rebellion auf der Straße hört die Männergewalt nicht auf. In Argentinien gab es in den ersten zehn Monaten des letzten Jahres 245 Frauenmorde. Diese Zahl beruht auf den Informationen, die der Verein La Casa del Encuentro (Haus der Begegnung) aus den Medien zusammenträgt. Alle 29 Stunden wird eine Frau umgebracht, weil sie Frau ist. Bei der ersten Demo von NiUnaMenos lag diese Zahl bei 30. Und es liegt mehr Wut in diesen Morden. Die Frauen werden nicht nur getötet, sondern ihre Körper werden zusätzlich zerstört und wie Müll weggeworfen. Oder sie werden lebendig verbrannt, wie Hexen.

Trotz allem wird gewalttätiges Verhalten von Männern inzwischen weniger toleriert. Es gibt mehr Strafanzeigen. Feministische Stimmen werden stärker und stellen sich der Gewalt entgegen. Das Thema ist inzwischen in den Medien verankert, aber Frauen werden weiterhin wie Gegenstände behandelt, die Opfer der Frauenmorde werden weiterhin stigmatisiert und vor allem den jungen Frauen wird weiterhin die Schuld gegeben, weil sie tiefausgeschnittene Kleider tragen, weil sie abends ausgehen, weil sie alleine ausgehen, weil sie gegen die traditionellen Rollen rebellieren.

„Wir können nicht NiUnaMenos sagen und gleichzeitig viele Stimmen weglassen, die Stimmen der Trans- und Travestiefrauen, der Indígenas, der Schwarzen, der Lesben, der Migrantinnen. Wir sollten die Grausamkeiten und die Gewalt sichtbar machen, die schwarze Frauen, Indígenas und Transfrauen täglich erleben, eine Gewalt, die nicht für alle Frauen gleich ist. Denn für diejenigen, deren Körper nicht dem vorherrschenden Bild entsprechen, ist die Bedrohung umso stärker, je stärker die Unsichtbarkeit ihrer abweichenden Lebensweisen ist. Damit wird der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildungswesen und Justiz bis zum bloßen Bewegen im öffentlichen Raum bereits zum Risiko“, steht in einer der letzten Veröffentlichungen der Bewegung NiUnaMenos aus dem Jahr 2017.

Das Aufblühen eines Feminismus, der unter „einfachen“ und immer jüngeren Frauen Fahrt aufnimmt, sich vom akademischen Terrain entfernt und dem täglichen Leben tausender Frauen annähert, ist eine immer deutlichere Realität. Das können wir sehen und fühlen. Unsere Herausforderung besteht darin, diesen Feminismus weiter zu verbreiten.

Die argentinische Journalistin Mariana Carbajal schreibt u.a. in Página 12 und ist Autorin der Bücher Maltratadas. Violencia de Género en relaciones de pareja (Misshandelte Frauen. Geschlechtergewalt in Paarbeziehungen, 2014) sowie El aborto en debate. Aportes para una discusión pendiente (Abtreibung. Beiträge zu einer überfälligen Diskussion, 2009).