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Einsame Welten, unsichere Zeiten – und viele Preise

Die lateinamerikanischen Filme auf der Berlinale 2018

Wie schon im vergangenen Jahr war Brasilien der größte Filmlieferant Lateinamerikas auch auf der diesjährigen Berlinale. Das Filmland stellte zwölf Produktionen vor, darunter auffallend viele Dokumentationen. Auch Argentinien und Mexiko waren mit elf beziehungsweise neun Produktionen stark in den verschiedenen Sektionen des Festivals vertreten, während Chile nur zwei Produktionen zeigte. Dafür präsentierte Paraguay mit Las herederas von Marcelo Martinessi seinen ersten Spielfilm überhaupt im Wettbewerb eines großen internationalen Filmfestivals und sahnte auch gleich mächtig Preise ab, darunter zwei Silberne Bären. Insgesamt 28 Lang- und neun Kurzfilme aus Lateinamerika konnten sich die Zuschauer an zehn Tagen Berlinale ansehen und viele wurden von den verschiedenen Jurys des Festivals ausgezeichnet.

Verena Schmöller

Lustig oder romantisch schön waren jedoch die wenigsten Filme. Die Produktionen im Dokumentar- wie auch im Spielfilmbereich erzählten vor allem von Einsamkeit, Gewalt und Unsicherheit und zeichneten damit ein eher düsteres Bild von der Welt.

Für Paraguay war es das erste Mal, dass es mit einem Spielfilm im Wettbewerb eines so genannten A-Festivals vertreten war. Landsmann Marcelo Martinessi hatte sich zunächst mit seinen Kurzfilmen einen Namen in der internationalen Festivalszene gemacht: Im Jahr 2009 hatte er seinen ersten Film, Karai Norte, im Programm Berlinale Shorts vorgestellt; 2016 erhielt er für La Voz Perdida in Venedig den Kurzfilmpreis. Nun zeigte er seinen ersten Langfilm, Las herederas (Paraguay/Uruguay/Deutschland/Brasilien/Norwegen/Frankreich 2018, Marcelo Martinessi) und überzeugte durch seine feinfühlig erzählte und grandios fotografierte Geschichte um die Mittfünfzigerin Chela. Nicht umsonst wurde er für sein Werk mit dem Alfred-Bauer-Preis ausgezeichnet, der Preis, der jedes Jahr für einen Film vergeben wird, der „neue Perspektiven eröffnet“. Martinessi freute sich gerade über diesen Preis: „Wir kommen aus einer sehr sehr konservativen Gesellschaft und wenn wir neue Perspektiven öffnen, dann wird dieser Film sich auszahlen“, sagte er bei der Preisverleihung.

Las herederas erzählt von der Krise des Großbürgertums in Paraguay anhand eines Frauenpaares. Chela (Ana Brun) und Chiquita (Margarita Irún) sind schon lange zusammen und führen ein schönes Leben miteinander. Chela bleibt am liebsten zu Hause und verbringt die Tage vor ihrer Staffelei, Chiquita kümmert sich um den Rest, um die Einkäufe ebenso wie um das Dienstpersonal oder das Sozialleben der beiden. Doch dann ändert sich das Leben der beiden Frauen, weil sie eigentlich schon lange über ihre Verhältnisse leben und der Verkauf der wertvollen Erbstücke nicht so viel abwirft, wie sie zum Leben brauchen. Chiquita muss wegen Überschuldung in Untersuchungshaft und plötzlich ist Chela auf sich allein gestellt.

In eindrucksvollen Bildern zeigt Las herederas, wie Chela die Außenwelt entdeckt, und übernimmt dabei komplett die Sichtweise der Frau, die quasi auf Entdeckungsreise geht, ganz vorsichtig und zurückhaltend, aber mit zunehmender Neugier. Ebenso wie Chela die Dinge immer nur aus den Augenwinkeln zu betrachten scheint, zeigt auch die Kamera eingeschränkte Blickwinkel, bleibt in der Enge des Zimmers oder des Autos und verwehrt den Blick auf das gesamte Geschehen. Diese Spannung nutzt der Film auf originelle Weise, um sich in die Figur der Chela einzufühlen. Ana Brun ist großartig in der Rolle, sie spielt feinfühlig und nuanciert die Mittfünfzigerin in ihrer großen Krise, aber auch im verhaltenen Aufbruch. Dafür wurde sie von der Internationalen Jury mit dem Silbernen Bären als Beste Schauspielerin ausgezeichnet.

Nebenbei präsentiert Las herederas Paraguays Oberschicht in ihren Widersprüchen. Eines Tages klingelt Nachbarin Pituca (María Martins) mit der Bitte, sie zu einem Gesellschaftsnachmittag zu fahren. Die Dame kommt aus gutem Hause und trägt nicht nur ihren Schmuck spazieren, sondern die Haltung einer ganzen Generation. Ein Taxi zu nehmen, erscheint ihr unangebracht, aber Chela darf sie fahren, und so entwickeln die beiden eine gemeinsame Sache. Chela wird Pitucas private Chauffeuse, Pituca sorgt dafür, dass Chela beschäftigt ist und ein bisschen Geld in die Haushaltskasse kommt. Und dann lernt Chela die jüngere Angy (Ana Ivanova) kennen, die neue Sehnsüchte in ihr entfacht. Der Grundton des Films ist ein melancholischer, aber Martinessi beweist zwischendurch auch immer wieder, dass er humorvoll sein kann oder mit den Szenen im Frauengefängnis auch andere Genres beherrscht. Mit seinem Debüt begeisterte er das Berlinale-Publikum. Las herederas erhielt neben den beiden Silbernen Bären den Filmkritikerpreis der FIPRESCI-Jury und den Teddy Readers‘ Award.

Auch Mexikos Wettbewerbsbeitrag Museo (Mexiko 2018, Alonso Ruizpalacios) wurde ausgezeichnet. Für ihre Geschichte erhielten Regisseur Alonso Ruizpalacios und Drehbuchautor Manuel Alcalá den Silbernen Bären für das Beste Drehbuch. Der Film erzählt von einem der spektakulärsten Museumsraube im Jahr 1985, als zwei Langzeitstudenten, Juan (gespielt von Gael García Bernal) und Wilson (Leonardo Ortizgris), ins Nationalmuseum für Anthropologie einsteigen und die Heiligtümer der Maya, Mixteken und Zapoteken mitnehmen. Während ganz Mexiko Weihnachten feiert, rauben sie im Stil von Meisterdieben das Museum aus, wissen im Anschluss aber nicht, was sie mit dem Diebesgut tun sollen. Erst als die Aktion Wellen schlägt und alle Welt die niederträchtigen Museumsräuber verdammt, wird ihnen die Dimension ihrer Tat bewusst.

So verblüffend wie die reale Begebenheit ist auch der Film. Originell und elegant fotografiert, lässt er immer wieder eine neue Wendung zu, experimentiert mit den Genres und überrascht das Publikum auf unvergleichliche Art. Alonso Ruizpalacios war schon 2014 mit seinem Spielfilmdebüt Güeros (Mexiko 2014) im Panorama der Berlinale eingeladen gewesen und hatte den Preis für den besten Erstlingsfilm erhalten; nun zeigte er mit Museo erneut sein Können.

Außerdem lief im Wettbewerb, allerdings außer Konkurrenz, der neue Film von José Padilha, der 2008 für Tropa de Elite (Brasilien/Argentinien 2007) mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet worden war. 7 Days in Entebbe (USA/Großbritannien 2018) erzählt von der Entführung eines Air France-Flugzeugs durch palästinensische und deutsche linksextremistische Terroristen im Jahr 1976. Wie auch in seinen Regiearbeiten zuvor (Tropa de Elite, Robo-Cop, Narcos) geht es dem brasilianischen Regisseur um die Themen Angst und Gewalt, die er spürbar macht und von denen er in realistischen Bildern erzählt. Bei 7 Days in Entebbe war ihm außerdem wichtig, die Geschichte so wahr wie möglich zu erzählen, wobei er auch zeigt, dass der lange als Held gefeierte Yonatan Netanyahu früh während der Militäraktion stirbt, anstatt heldenhaft 106 Geiseln zu befreien. Abgesehen von der politischen Geschichte überzeugte der Film aber vor allem durch seine Machart und die in die Narration eingeflochtene Tanzvorführung. In kraftvollen Klängen und Bildern überträgt Padilha die Gewalt der dargestellten Wirklichkeit auf die Bühne der Tanzkunst, was wiederum die Geschehnisse noch gewalttätiger erscheinen lässt, ein großartiges Feuerwerk der Sinne.

Auch Altmeister Fernando E. Solanas kehrte nach Berlin zurück. Der Argentinier war schon oft zu Gast auf der Berlinale und wurde 2004 mit dem Goldenen Bären für sein Lebenswerk ausgezeichnet. In der Reihe Berlinale Special feierte er die Premiere seiner neuesten Dokumentation, Viaje a los Pueblos Fumigados (Argentinien 2017). Der Film ist der letzte eines Zyklus und berichtet aus den mit Glyphosat und anderen Pestiziden vergifteten Dörfern Argentiniens. Solanas besuchte Familien, Schulen und Forschungseinrichtungen, um zu zeigen, wie gefährlich die Machenschaften der großen Konzerne für die Landwirtschaft und die Menschen nicht nur in deren unmittelbarer Umgebung, sondern auch für die Konsument*innen dieser Lebensmittel sind. Er habe den Film aus der Notwendigkeit heraus gemacht, zu zeigen und zu enthüllen, was wir nicht sehen wollen, sagte er im Filmgespräch nach der Premiere. Und auch wenn man die Thematik kennt, auch wenn der Film die Geschehnisse teilweise etwas einseitig und allzu subjektiv darstellt, fragt man sich tatsächlich nach dem Film: Was ist das für eine Welt, in der wir leben? Es sind erschreckende Geschichten, die Solanas in seinem Film erzählt, die sich jeder anhören und ansehen sollte.

Die Sektion Panorama, in der sich sonst oft die schönsten und besten Filmperlen aus Lateinamerika entdecken lassen, hatte in diesem Jahr leider nicht so viele wirklich gute Spielfilme anzubieten. Malambo, el hombre bueno (Argentinien 2017, Santiago Loza) ist zwar ein interessanter Film, weil er einen jungen Malambotänzer bei seinem Training für den großen Wettkampf begleitet und dem Tanz durch seine Schwarzweißfotografie einen besonderen Charme verleiht. Die Hauptfigur, Gaspar Jofre, bleibt allerdings etwas farblos.

Noch enttäuschender war das Debüt von Sebastián Schjaer, La omisión (Argentinien/Niederlande/Schweiz 2018), der vom Selbstfindungsprozess einer jungen Mutter erzählt. Die Geschichte kommt aber nicht recht in Gang, erschließt sich dem Zuschauer nur vage, zu wenig zeigt er vom Handeln und den Motiven der Figuren. Auch die Protagonistin, die 23-jährige Paula (Sofía Brito), bleibt einem verschlossen, weil man weder die Beziehung zu ihrem Kind versteht noch zu ihrem Freund und erst recht nicht ihren Sinneswandel.

Lediglich Marilyn (Argentinien/Chile 2018), der Debütfilm von Martín Rodríguez Redondo, stimmte einen etwas versöhnlicher mit der Spielfilmauswahl der Sektion. Auch Marilyn erzählt von Selbstfindung und Identitätsprozessen, aber wesentlich klarer und eindrücklicher als La omisión. Die Kamera ist immer nah bei der jugendlichen Hauptfigur, Marcos (Walter Rodríguez), der zwar schon lange von seiner homosexuellen Neigung weiß, nun aber beginnt, sie nach außen zu tragen. Auf dem alljährlichen Karneval trägt er zum ersten Mal Kleid und Perücke und genießt diesen Moment des Verkleidetseins sichtlich, wird dann aber zum Gespött der anderen Jungs im Dorf. Er war ohnehin nicht sehr beliebt gewesen. Der stille, intelligente Junge ist gut in der Schule und geht auf dem heimischen Hof eher der Mutter zur Hand, als sich mit Vater und Bruder um die „Männerarbeit“ zu kümmern. Er ist anders und das wird ihm zum Verhängnis. Als sein Vater stirbt, fällt auch dessen Fürsprache und Unterstützung weg, und Marcos muss seinen eigenen Weg finden, welcher im Dorf allerdings unmöglich erscheint. Einfühlsam zeichnet Marilyn die immer schwierigere Situation für Marcos nach und macht deutlich, dass Anderssein sehr anstrengend sein kann.

Mehrere Filme im Programm der diesjährigen Berlinale beschäftigten sich mit queeren Themen und richteten den Fokus auf Transsexuelle und nahmen Preise mit nach Hause. Tinta Bruta (Brasilien 2018, Marcio Reolon, Filipe Matzembacher) über einen homosexuellen Internet-Performer erhielt nicht nur den Teddy Award, den queeren Filmpreis der Berlinale, sondern auch den CICAE Art Cinema Award, den Preis der internationalen Kinobetreiber. Neben Tinta Bruta überzeugte auch die Dokumentation Bixa Travesty (Brasilien 2018, Claudia Priscilla, Kiko Goifman) mit der Musik und der Ausstrahlung seiner Hauptfigur, der Pop-Ikone Linn da Quebrada, einer schwarzen Transsexuellen aus den Favelas São Paulos. Der wohl komponierte Film changiert zwischen arrangierten Radio-Interviews, eindringlichen Konzert-Performances und privaten Unterhaltungen, etwa wenn Linn mit ihrer Mutter beim Kochen über Liebe und Feminismus spricht. Er zeigt die ganz unterschiedlichen Facetten der Figur Linn da Quebrada, die sich jedoch im Kampf gegen die homophobe Gesellschaft Brasiliens zusammenfinden. Ein starker Film, der als Bester Dokumentarfilm ebenfalls mit dem Teddy Award ausgezeichnet wurde.

Überhaupt dominierten bei den brasilianischen Festivalbeiträgen in diesem Jahr die Dokumentarfilme: Brasilien war an vier Produktionen beteiligt, darunter auch an der internationalen Koproduktion „Zentralflughafen THF“ (Deutschland/Frankreich/Brasilien 2018, Karim Aïnouz), der sich dem Thema Flüchtlinge auf originelle Weise über den Ort des stillgelegten Berliner Flughafens Tempelhof näherte und dafür den Amnesty International Filmpreis erhielt.

Auch Ex Pajé (Brasilien 2018, Luiz Bolognesi) stellt zwei Welten einander gegenüber und präsentiert die im Amazonasbecken lebenden indigenen Paiter Suruí, die sich zwischen dem Glauben ihres Volkes und dem Christentum, zwischen Traditionen und globalisierter Moderne mit Smartphones, Waschmaschinen, Medizin und Pommes Frites bewegen und dabei, so der Film, ihre Seelen zu zerstören drohen. Hoffnungsträger ist der christianisierte Schamane Perpera, der beharrlich versucht, die Kultur seines Dorfes zu retten, was Luiz Bolognesi in liebevollen Bildern vermittelt. Dafür verpasste er nur knapp den Glashütte Original Dokumentarfilmpreis, erhielt aber eine Lobende Erwähnung.

Und auch O Processo (Brasilien/Deutschland/Niederlande 2018, Maria Augusta) über den Korruptionsskandal und die Amtsenthebung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016 begeisterte das Publikum und landete beim Panorama Dokumente Publikumspreis auf dem dritten Platz. Gekonnt berichtet der Film aus dem Blickwinkel der Verteidiger von Rousseff und zeigt das Theatrale des Justizprozesses. Beeindruckend, ohne Kommentare, vielmehr von einer guten Beobachterposition aus, erzählt die Regisseurin von den Machtstrukturen im Land.

Auch die Sektion „Internationales Forum des Jungen Films“ zeigte wieder mutige Produktionen aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas, darunter das Kammerspiel La cama (Argentinien/Deutschland/Niederlande/Brasilien 2018, Mónica Lairana), das Rachedrama Los Débiles (Mexiko 2018, Raúl Rico und Eduardo Giralt Brun), den experimentellen Film La casa lobo (Chile 2018, Cristóbal León und Joaquín Cociña), das Drama Con el viento (Spanien/Argentinien/Frankreich 2018, Meritxcell Colell), den Essayfilm Teatro de guerra (Argentinien/Spanien 2018, Lola Arias), Unas preguntas (Deutschland/Uruguay 2018, Kristina Konrad) sowie die 2017 restaurierte Fassung von Santo contra Cerebro del Mal (Mexiko/Kuba 1959, Joselito Rodríguez). Und auch hier gab es erfolgreiche Wettbewerbsbeiträge: Der Forum Preis der Ökumenischen Jury ging an Teatro de Guerra ebenso wie der CICAE Art Cinema Award, der Caligari-Filmpreis hingegen an La casa lobo.

Egal, welche Filme auf der Leinwand liefen, immer wieder musste man sich als Zuschauerin die Frage stellen: In welcher Welt leben wir eigentlich? Will ich dort überhaupt leben? Die Filme liefern, mal weniger, mal mehr, auf gute, originelle und überzeugende Weise erschütternde Bilder von der Wirklichkeit. Sie erzählen von Einsamkeit und Frustration, Gewalt und Wut, Unsicherheit und Identitätsverlust. Lösungen bieten sie meist keine, Trost und Glück sind nur selten und wenn, dann flüchtig. Das ist eine traurige Bilanz nach einer Festivalwoche voller Filme, die eben Fenster zur Welt sind, durch die man aber nicht immer gerne schauen mag. Deshalb der Wunsch: Auf dass die nächste Berlinale wieder ein paar positivere Bilder zeigen möge!