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Leidenschaft, die Grenzen sprengt

Interview mit Epsy Campbell, der neuen Vizepräsidentin von Costa Rica

Als der evangelikale Politiker Fabricio Alvarado Muñoz beim ersten Wahlgang im Rennen um die Präsidentschaft Costa Ricas mit 24,9 Prozent der Stimmen vorne lag, lag ein weiterer Etappensieg im Vormarsch der extremen Rechten in Lateinamerika in der Luft. Muñoz hatte vor allem mit homophoben Sprüchen gegen die „Ehe für alle“ und für die Verteidigung der familia Stimmung gemacht. Doch dann kam alles ganz anders. Im zweiten Wahlgang triumphierte Carlos Alvarado Quesada von der sozialdemokratischen Partido Acción Ciudadana (PAC), der im ersten Wahlgang mit 21,7 Prozent auf dem zweiten Platz gelegen hatte, mit 60,8 Prozent der Stimmen. Zum einen half ihm, dass sich die meisten anderen Parteien in der Stichwahl auf seine Seite schlugen, zum anderen, dass die sozialen Bewegungen breit gegen seinen rechtskonservativen Kontrahenten mobilisierten. Mit Betsy Campbell hatte die PAC zudem eine Vizepräsidentschaftskandidatin, die aus der Frauen- und Menschenrechtsbewegung kommt. Die afroamerikanische Ökonomin ist die erste schwarze Frau, die in einem lateinamerikanischen Land (Guyana, Suriname und Belize gehören aufgrund ihrer Kolonialgeschichte zur Karibik) die Vizepräsidentschaft übernimmt, noch dazu in einem Land, dass sich traditionell immer als „weiß“ definiert hat. Bereits 2015 führte Lucía Lagunes Huerta von der feministischen Nachrichtenagentur CIMAC aus Mexiko ein längeres Interview mit Epsy Campbell, das spannende Einblicke in ihr Politikverständnis eröffnet. Anlässlich ihrer Wahl zur Vizepräsidentin haben die Kolleginnen von CIMAC das Interview noch einmal veröffentlicht und der ila zur Übersetzung zur Verfügung gestellt.

Lucía Lagunes Huerta

Wie definierst du dich?

Ich bin Afro-Costaricanerin und ich bezeichne mich immer als Weltbürgerin. Ich bin Menschenrechtsaktivistin für alle, aktive Politikerin meines Landes sowie mit den sozialen Prozessen der Afroamerikaner*innen und der Frauen verbunden.

Wie kamst du zur Politik?

Das hat immer mit dem Wesen des Ortes zu tun, von dem man stammt. In meiner Familie wurde mir beigebracht, dass Rechte nicht einzufordern sind, sondern sich genommen werden müssen, weil sie uns gehören. Seit ich mich erinnere, bin ich Aktivistin. Zu Hause waren wir fünf Frauen und zwei Männer. Meine Brüder hatten ein paar Privilegien, die mir inakzeptabel erschienen. So habe ich mich schon an der Schule und auch an der Universität immer gegen das engagiert, was mir unfair erschien.

Ich gehöre zu denen, die meinen, dass etwas falsch läuft und die Dinge zum Besseren gewendet werden müssen und ich glaube auch, dass es nicht okay ist zu denken, die Probleme lösten sich dadurch, dass andere sich darum kümmern. Wir müssen tun, was wir zu tun haben. Seit ich denken kann, bemühe ich mich gemeinsam mit Anderen darum, gegen Ungerechtigkeit ganz allgemein einzutreten.

Ich habe afrikanische Wurzeln in einer Gesellschaft, die sich für ziemlich weiß, für europäisch hält. Ich musste mich also immer vergewissern, wer ich war, wer wir waren, und ich musste historisch einordnen, was es bedeutet afrikanischer Abstammung zu sein, nach all der Zeit der Leugnung unserer Staatsbürgerschaft. Deswegen war es für mich ganz natürlich, gesellschaftlich aktiv zu werden. Das Leben selbst hat mich dazu gebracht, leidenschaftlich für das zu kämpfen, was ich für wichtig halte – zum Beispiel gegen Ungerechtigkeit aufzustehen. Ich bin eine Frau, die leidenschaftlich tut was sie tut. Ich fühle den Schmerz der Anderen wie meinen eigenen und mühe mich zu begreifen, wie ich ihn überwinden kann.

Ich wollte nicht in eine Partei eintreten, weil ich genau weiß, dass es von überall her möglich ist, die Gesellschaft zu verändern. Und dann lief das alles so reibungslos. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die sich ein Bein ausreißen müssen, um in eine formale Machtposition zu kommen. Wegen meines politischen Engagements wurde ich eingeladen, mich auf einem Wahlzettel als Kandidatin einzutragen und so wurde ich 2002 Abgeordnete.

Als ich in die Politik kam, rief mich jene Abgeordnete an, die im Parlament meine Vorgängerin war. Sie sagte: In der „richtigen“ Politik ist deine Art zum Scheitern verurteilt, denn du sprichst sehr ausdrucksstark, sehr direkt, und in der Politik muss man manchmal geschickt „hintenrum“ agieren. Ich erinnere mich, dass ich antwortete: „Ah, dann werde ich eben scheitern, denn ich gehöre zu denen, die glauben, dass die Politik ‚vorne rum‘, gradlinig gestaltet werden muss. Und ich werde mich nicht kleiner machen, als ich bin.“

Du warst auch keine „typische“ Gesetzgeberin.

Ich habe mich entschieden, in die härteren Themen wie Wirtschaftspolitik einzusteigen, denn ich bin Ökonomin. Ich wollte die Rechte der Frau vor der Haushaltskommission oder in der Steuergesetzgebung verteidigen. So wurde ich zur Gesprächspartnerin vieler Menschen im Land und das hat mir eine enorme öffentliche Präsenz verschafft. Ich habe mehr über eine humane Vorstellung von Wirtschaft nachgedacht als über Wettbewerb. Daher glaube ich auch, dass der Ort, an dem ich jetzt bin, nicht nur mit mir zu tun hat, sondern auch mit den Menschen, für die ich diese Arbeit mache. Und das wiederum ist Teil meiner Identität. Frau zu sein gehört zu den weltweit am meisten diskriminierten und beschädigten Identitäten der Welt. Ich definiere mich also als Synthese von Identitäten. Ich bin ein Individuum mit verschiedenen Facetten, nicht in erster Linie afrikanischer Abstammung und erst dann Frau. Nein, ich bin eine Frau afrikanischer Abstammung, gehöre zu den afrikanischen Völkern und spreche von dort aus, aber ich erhebe meine Stimme auch für die Kinder oder für die Obdachlosen jedweder Hautfarbe, denn es scheint als würde niemand sie sehen, ganz als so als wäre alles in Ordnung.

Wie hast du die Wahlen erlebt? Und wie schätzt du insgesamt den politischen Prozess ein?

Im Jahr 2006 war ich in Costa Rica Vizepräsidentschaftskandidatin für eine Partei, die weniger als einen Punkt hinter dem Wahlsieger landete. Viele haben Druck gemacht, dass ich als Präsidentschaftskandidatin antrete. Sie waren überzeugt, dass die Kandidatur für die Vizepräsidentschaft ein Fehler war. Ich bin überzeugt, dass das nicht stimmt. Und nun werde ich dir nicht erzählen, dass ich schon Präsidentin werden wollte, seit ich ein kleines Mädchen war. Wenn ich von etwas überzeugt bin, dann davon, dass wir eine kollektive/gemeinsame Macht aufbauen müssen.

Als ich inmitten all des Stimmengewirrs beschloss, für die Vizepräsidentschaft zu kandidieren, habe ich mir noch einmal Zeit genommen, darüber nachzudenken, warum ich nicht als Präsidentschaftskandidatin antrete. Einer der Gründe ist, dass der Umgang mit Macht in politischen Parteien zum superindividuellen Kampf wird. Am Ende lautet die Logik immer, dass ich es sein muss, weil ich es sein muss. An so etwas glaube ich nicht. Ich wollte einen inneren Prozess voranbringen, der uns stärkte, der Kräfte bündelte. Unser Präsidentschaftskandidat war damals der Parteigründer, Ottón Solís.

Wer eine kollektive und keine individuelle Macht aufbauen möchte, muss sich mit anderen beraten; mit Menschen, die einem/r nahe stehen, denn ich bin überzeugt, dass einzig dieses Gemeinsame dir die Chance eröffnet, es richtig zu machen oder zumindest weniger falsch zu machen. Daher befrage ich, nachdem ich nun einmal Politikerin geworden bin, aus dieser kollektiven Geste heraus auch meine Schwestern, meine Freundinnen in Costa Rica, meine internationalen Freundinnen, und so habe ich auch die Entscheidung für die Vizepräsidentschaftskandidatur getroffen, immer auf der Suche nach Stimmen, die dem entgegenstanden. Schon im Wahlkampf war klar, dass ich nicht einer Logik folgen würde, mit unerfüllbaren Versprechen auf Stimmenfang zu gehen.

Wie überlebst du in solch einer individualistischen Umgebung?

So wie wir Frauen, die die Gesellschaft, das gemeinsame Imaginäre und die Machtverhältnisse verändern, es immer gesagt haben, indem wir sie verändern. Wir wollen Politik verändern und das geht nur, wenn man andere Politik macht.

Natürlich habe ich auch erlebt, wie versucht wurde, mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen, aber ich hatte immer ein Team an meiner Seite. Ich erinnere mich, dass sie mich in meinem ersten Jahr im Parlament zur besten Abgeordneten erklärt haben. Das ist so ein Ding, das die Presse meines Landes erfunden hat: sie werten das erste Jahr deiner Tätigkeit als Abgeordnete aus und verkünden das Ergebnis dann im Dezember, wenn gerade Parlamentsferien sind.

Ich dachte daraufhin: Wenn ich zurückkomme, werden mir alle gratulieren. Aber als die Parlamentssitzungen wieder begannen, konnte man die Atmosphäre mit dem Messer schneiden. Die Leute vermieden es sogar, mich anzusehen, und ich erinnere mich, wie ein Journalist, als er mich interviewte, fragte: „Weißt du, was das bedeutet?“ Ich antwortete: „Nun, es ist eine weitere Herausforderung.“ „Nein“ antwortete er, „jetzt hast du 56 Feinde (das Parlament hat 57 Abgeordnete), weil alle glauben, sie selbst sollten an dieser Stelle stehen.“

Solange die Vision von Politik die ist, dass die Macht aus dem Individualismus kommt, statt zu verstehen, dass sie kollektiv geformt wird, wird das auch weiterhin so sein. Und deswegen müssen wir verstehen, dass es zu ein und demselben Prozess gehört, das Volk zu repräsentieren und, wenn wir abgewählt werden, es nicht (oder nicht mehr) zu repräsentieren. Bei uns ist die Macht nur geparkt, sie gehört uns nicht, sondern wir nutzen sie nur in Vertretung der anderen.

Ich überlebe in der Politik, weil ich mich immer, wenn ich irgendwohin gehe und sehe wie schlimm es aussieht, daran erinnere, warum ich hier bin und weil ich möchte, dass die Menschen, dass alle Menschen in meinem Land in Würde leben.

Wie wichtig ist es, Bündnisse zu schließen? Wie werden sie geschmiedet und auf welchem Fundament sollten sie beruhen?

Unser Ausgangspunkt ist zu erkennen, dass die Gesellschaft vielfältig ist. Zu erkennen, dass nicht alle die Lage so sehen oder so darüber nachdenken wie ich. Wenn es so wäre, wäre es ja einfach. Um Bündnisse schließen zu können, ist es zunächst einmal notwendig. vormals ungleiche Kräfte in ein Gleichgewicht zu bringen. Als Politikerinnen sind unsere Bündnisse unsere Stärke. Es geht also um unsere Fähigkeit, selbige zu schmieden und zwar mit den unterschiedlichsten Menschen in konkreten Situationen. Das erst erlaubt ein Vorankommen. Mächtig zu werden geht einher mit der Fähigkeit, Bündnisse und Pakte mit den anderen einzugehen, denn die Macht liegt nicht in der Person selbst. Sie fangen an, dich zu respektieren, wenn du die Möglichkeit hast, etwas voranzubringen und dann noch etwas und noch etwas – mit sehr verschiedenen Menschen. In Bündnissen muss man an dem arbeiten, was zusammenpasst. Außerdem musst du dir bewusst machen, dass du immer dabei bist, Überzeugungsarbeit zu leisten, mit dem Ziel, dass sie wie du denken. Aber das wird nicht immer erreichbar sein. Und dann sind da die anderen, die versuchen dich ebenso davon zu überzeugen, sodass du wie sie denkst, und auch ihnen wird das nicht immer gelingen. Die große Fähigkeit von Frauen ist nun darauf zu schauen, in welchen Punkten sie mit anderen Frauen etwas erreichen können, und wann sie sich mit Männern verbünden müssen, sei es innerhalb der eigenen oder mit Mitgliedern anderer Parteien. Es geht darum zu verstehen, wie man stark wird.

Bündnisse sind also förderlich, etwa zwischen Frauen, die in verschiedenen Realitäten leben und verschiedene Perspektiven haben. Der Grundgedanke ist dabei, dass niemand die ganze Wahrheit überblickt. Daher geht es beim Verhandeln auch ums Nachgeben. Wer glaubt, dass die andere alles akzeptieren wird, aber selbst nichts vom Vorschlag der anderen akzeptieren muss, ist verloren. Wir müssen verstehen, dass Macht errichtet wird und man sie nicht einfach hat, qua seines Amtes.

Wo sind deine Grenzen?

Meine Herausforderung ist dort anzukommen, wohin das Leben selbst mich führt. Ich bin angstfrei geworden dank anderer Frauen, die vor mir diesen Weg gingen und sich dem Leben stellen mussten. Wer immer also die Möglichkeiten hat, die ich gehabt habe, muss versuchen, die Bedingungen zu verändern, aus denen Ungleichheit und Diskriminierung hervorgehen.

Was würdest du nicht tun?

Ich weiß nicht. Das ist eine sehr komplizierte Frage. Ich habe sie mir nie gestellt. Ich bin davon überzeugt, dass, wenn ich Fehler gemacht habe, es nicht daran lag, dass ich das Thema nicht durchdacht hatte, sondern daran, dass ich den konzeptionell falschen Ansatz hatte. Und man kann keine Entscheidungen bereuen, die auf einer falschen Grundlage getroffen wurden. Momentan ist es so: wenn ich mir die großen Dingen in meinem Leben anschaue, wenn ich rekapituliere, was mich zu dem gemacht hat, was ich bin, dann bereue nichts.

Was ist dein letzter Gedanke vor dem Einschlafen?

In der Regel schlafe ich mit dem Gedanken ein, dass ich mein Tagwerk geschafft und erfüllt habe, was ich mir vorgenommen hatte. Einmal war ich irgendwo und redete über meine Pläne. Da näherte sich mir eine Frau und sagte: „Epsy, glauben Sie, Sie werden die Politik verändern?“

Das erinnerte mich an ein Märchen, das sie mir als Kind erzählt hatten. Es ist die Geschichte des Kolibri. Der Wald brannte und der Kolibri füllte seinen Schnabel mit einem Tropfen Wasser um die Flammen zu löschen. Alle übrigen Tiere verlachten ihn. Irgendwann fragt der Elefant: „Was glauben Sie, wofür das gut ist? Sehen Sie nicht, dass es mit dem Wald zu Ende geht?“ Der Kolibri antwortete: „Ich trage meinen Teil bei. Wenn alle das Ihre täten, könnten wir sicher das Feuer löschen.“

Ich antwortete also der Dame: „Ich tue zumindest, was ich kann. Wenn wir das alle täten und davon überzeugt wären, die Politik verändern zu können, dann hätten wir sie schon verändert. Aber ich werde nicht warten meinen Teil beizutragen, bis andere davon überzeugt sind das Ihre zu tun. Im Leben ist niemand unersetzlich. Weder in der Politik noch sonst irgendwo. Aber es ist erfüllend das Gefühl zu haben, das eigene Sandkörnchen beizutragen. Es trägt dazu bei, gut zu schlafen und Kraft für die Herausforderungen des neuen Tages zu sammeln.

Was würdest du der jüngeren Generation mitgeben?

Ich glaube, dass ich meinen Töchtern und den kommenden Generationen zwei Dinge sagen würde: dass sie alles Mögliche tun müssen, um glücklich zu sein, und alles Mögliche und ein bisschen auch Unmögliches, um zum Glück der anderen beizutragen, vor allem jener, die das Konzept Glück nicht einmal kennen.

Wenn deine Biographie geschrieben würde, was sollte darin über dich stehen?

Dass ich leidenschaftlich gerne lebe und leidenschaftlich gerne dieses Leben gestalte.

Übersetzung: Silke Helfrich