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Wem gehört der Tango?

Der Tango in Buenos Aires zwischen Ausrottung der traditionellen Barrio-Milongas und seiner internationalen Kommerzialisierung

Im Rahmen des Festival Mundial de Tango versammelten sich im August 2017 Hunderte von Tänzer*innen am Fuße des Obelisco, dem Wahrzeichen von Buenos Aires, um Milonga und Tango zu tanzen. Der Genuss der improvisierten Milonga und die Umarmung mit Verbundenen im Tanz geschahen dieses Mal nicht nur aus purem Vergnügen heraus. Es ging vor allem darum, ein sichtbares Zeichen gegen die Schließung von immer mehr Milongas, den traditionellen Tanzlokalen in den Barrios der Stadt zu setzen. Wer sich für Tango in Buenos Aires interessiert, sollte wissen, dass die Tangokultur dort heute gefährdet ist. Obwohl 2009 durch die Unesco zum Kulturerbe der Menschheit deklariert, ist der Tango in seiner ursprünglichen popularen Form bedroht. Vor allem in den weniger reichen Stadtteilen, wo sich die Leute zum Tanzen treffen, um Spaß zu haben, wo aber wenig umgesetzt und verdient wird, wird es durch immer neue Auflagen und unklare, oft willkürliche Genehmigungsvergaben den Organisator*innen immer schwerer gemacht. So wird der Tango zunehmend aus den Barrios verdrängt. Dagegen wird er für Tourist*innen und auf internationalen Festivals zelebriert und kommerzialisiert.

María de las Nieves Puglia
Manuel González

Eines der vielen Beispiele für die Verdrängung der Milongas spielt sich aktuell an einem der beliebtesten Plätze der Stadt, der Glorieta de Barrancas de Belgrano, ab. Die Glorieta ist eingebettet in den Park Barrancas de Belgrano. Es ist der Ort des Tanzes, an dem wöchentlich 1500 einheimische und ausländische Milongueros und Milongueras vorbeikommen. Es ist einer der wenigen Orte in der Stadt, an dem ab 19 Uhr gratis getanzt werden kann. Eine herrliche Umgebung, ein Boden aus Keramik und die Möglichkeit des Tanzens ohne Eintritt sind eine Tradition, die diese Milonga zu einem einzigartigen Erlebnis machen. Vor einigen Monaten inspizierte nun die Polizei diesen Ort und drohte mit einer Anklage wegen Ruhestörung. Die städtischen Verordnungen geben den regulativen Rahmen des Zusammenlebens vor; allerdings geht es dabei weniger darum, das urbane Zusammenleben tatsächlich zu verbessern, sondern vielmehr darum, den öffentlichen Raum von jeglicher Nutzung zu „säubern“, die die Polizei als rechtswidrig einordnet. Ausgehend von der vagen Formulierung „störende Geräusche“ kann die Polizei den Organisator*innen dieser traditionellen Milonga eine Strafe auferlegen.

Ein anderer Lieblingsort der Stadt ist Cochabamba; ein Ort des Lernens, des Tanzes und der guten Livemusik, wo der Eintritt von den Stammgästen selbst festgelegt wird. „Cocha“, wie die Bar von denen genannt wird, die sie lieben, wurde bereits mehrfach geschlossen. Einige Male aufgrund fehlender Evakuierungspläne, andere Male wegen nicht vorhandener Genehmigungen für Tanzveranstaltungen. Weitere Schließungsgründe kommen bei den fortwährenden Besuchen der Inspektoren hinzu und enden in einer nicht enden wollenden Schleife von Schließung-Öffnung-Schließung, bis die Betreiber*innen eingeschüchtert sind und aufgrund von Angst und ökonomischen Problemen durch Schließzeiten und Strafzahlungen zwischen 20 000 und 60 000 Pesos (600 bis 1800 Euro) keine Milongas mehr veranstalten.

In einigen Orten wurden seit mehr als hundert Jahren Milongas gespielt, die berühmtesten landesweiten Traditionsorte der Tangoszene heißen La Catedral del Tango (Club Sunderland) oder El Beso. Manchmal wenn es zu einer Milonga-Sperrung kommt, wird von den Milonguero*as einfach auf der Straße mit einem Gitarrenstück und Tanz improvisiert. Leider werden auch diese öffentlichen Räume von der Polizei immer weiter eingeschränkt mit der irrwitzigen Begründung, dass keine Erlaubnis für Tanz auf öffentlichen Plätzen vorläge. Somit wird verhindert, dass der ursprüngliche Tango in den Straßen von Buenos Aires lebt.

Auf der einen Seite zeigt sich an diesen sogenannten Sicherheits- und Lärmkontrollen ein Restriktionsmechanismus, der die Verbreitung der populären Tangoveranstaltungen verhindert, die meist ohne Gewinnorientierung (manchmal sogar mit Verlusten) durchgeführt werden. Gleichzeitig sehen wir auf der anderen Seite das immense Wachstum der internationalen Tangofestivals, Großveranstaltungen, die Tourist*innen aus der ganzen Welt anziehen, die sich danach sehnen, eine wahrhaftige, authentische porteña-Erfahrung zu machen.

Der populäre Tango von heute ist fast schon eine kriminelle Figur in der Stadt Buenos Aires. Die Organisator*innen von Milongas bieten sehr selten Livemusik, und wenn einmal ein/e Musiker*in spielt, steigt der Eintrittspreis um 20-30 Prozent. Den Luxus Livemusik kann sich kaum noch jemand leisten, da Musiker*innen und Organisator*innen frei heraus gesagt fast verfolgt werden und ihnen enorme bürokratische und ökonomische Hürden in den Weg gelegt werden um Spielstätten und Bühnen zu bespielen, hochkomplexe und teure Genehmigungsverfahren, die Studien zu Umweltauswirkung und Denkmalschutz sowie Brandschutzkonzepte (Löschkästen, feuerfeste Wandfarbe, Evakuierungspläne) verlangen. Diese Kosten erhöhen die ohnehin schon üblichen Autor*innengebühren an Sadaic (Anmerk.: Sociedad Argentina de Autores y Compositores de Música, ähnlich der GEMA). Auch wenn versucht wird, eine Milonga in einer Zona residencial (Anmerk.: ein Wohnviertel, ggf. auch ein abgeschlossenes privates Viertel) zu veranstalten, werden diese Argumente von den Inspektor*innen zur Schließung herangezogen.

Das bürokratische Labyrinth hat einen Doppeleffekt: zum einen die Schließung von herkömmlichen Milongastätten und zum anderen das Wachstum der kommerziellen Milonga-Event-Firmen. Diese sind die einzigen, die offiziell „legal genehmigte“ Räume bereitstellen können. Viele Milonguer*as erleben dieses Problem als eine Auseinandersetzung zwischen einer Erhaltung der Identität der Tangokultur versus dem Tango als Ware wie Soja, ein Exportprodukt mehr.

Die Organisator*innen erleben auch wiederholt, dass es bei den Lokalinspektionen nicht wirklich um den Schutz der Gäste geht, sondern dass sie zur Prohibition dienen. Tatsächlich gibt es andere Musik- und Tanzveranstaltungen wie z.B. Technoraves, bei denen es Tote gab. Allerdings wurden nach solchen Katastrophen wie dem Brand bei einem Rockkonzert im Club Cromañón, bei dem im Dezember 2004 194 Menschen starben, weitaus weniger Clubs und Hallen geschlossen, wie derzeit (alternative) Kulturzentren in den Barrios geschlossen werden.

Diese Art der öffentlichen Verfolgung schlägt sich in Angst nieder, wie diese kleine Anekdote zeigt: An einem Tag nach dem Tangounterricht schlug ein Gitarrenschüler vor, noch ein paar Stücke zu spielen, zu denen wir tanzen könnten. Nach unserer kleinen Session informierte uns die Barbesitzerin, dass wir das nicht mehr wiederholen dürften, weil sie Angst vor einer Schließung und Anzeigen der Nachbar*innen hätte. Häufig werden Einladungen zu Milongas inzwischen nur noch über bekannte Kontakte in Facebook weitergegeben, ohne dabei den Veranstaltungsort zu nennen. Nur auf persönliche Nachfrage erfährt man, wo das Ganze stattfindet. Eine weitere Bestätigung des Gefühls, dass die Geheimhaltung und die Unsichtbarkeit des Tanzes wirklich zunehmen.

Die Anzahl der Clubs mit der Möglichkeit, Livemusik zu spielen, wird immer weiter reduziert. Bei konfusen Inspektionen und Regelungen passiert es oft, dass ein Inspektor/eine Inspektorin willkürlich Kriterien zur Genehmigung festlegt.

Während des Festival Mundial de Tango im August 2017 konnte der Tango wahrlich eingeatmet werden und er wurde in allen Stadtteilen unter freiem Himmel oder in Kulturzentren getanzt. Aber die internationalen Festivals unter Leitung des PRO (die gleiche politische Kraft, die heutzutage die Stadtregierung in ihren Händen hat) drehen den Barrios den Rücken zu, indem sie Kulturzentren, Bars und Milongas in einigen Stadtteilen als Spiel- und Veranstaltungsorte meiden, genau die Orte, an denen der Tango zu Hause ist.

Durch das bürokratische Labyrinth und die Kriminalisierung werden die Musik und der Tanz unserer Milongas, die immer integraler Bestandteil der Kultur des Stadtteils waren, zurückgedrängt. Der Tango soll zu einer Musik werden, die von bekannten Musiker*innen auf exklusiven Bühnen gespielt wird, und zu einem Tanz, den professionelle Tänzer*innen auf Festivals darbieten, die die Stadt und die Tourismusbranche dann groß bewerben.

Doch noch ist längst nicht klar, ob sie damit durchkommen: Als Reaktion auf die beschriebene Entwicklung, man könnte auch sagen als Akte kulturellen Widerstands, entstanden in den letzten Jahren eine ganze Reihe unabhängiger und Gegenfestivals, die in den Barrios und den populären und gegenhegemonialen Tangoorten stattfinden und sich dort verwurzeln. 2016 und 2017 gab es Demonstrationen unter dem Motto „Der Tango lässt sich nicht aussperren“, bei denen sich Milonguer*as und Musiker*innen zumindest vorübergehend die Straßen und den öffentlichen Raum zurückeroberten, um zu spielen und zu tanzen. Die Tangocommunity steht auf, nicht nur die Musiker*innen, Tänzer*innen und Veranstalter*innen, sondern weit darüber hinaus als eine soziale und kulturelle Bewegung, die sich aufmacht, ihr Recht einzufordern.