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Der Herbst des Patriarchen

Beobachtungen aus einem krisengebeutelten Nicaragua

Die Regierung von Daniel Ortega in Nicaragua verwandelt sich zusehends in ein klassisch-diktatorisches Regime. Es bedient sich einer nahezu absoluten Macht und unterdrückt seine eigene Bevölkerung mit harter Hand, während es sich selbst zum Opfer terroristischer Akte stilisiert.

Simón Terz

Die auflagenstärkste Tageszeitung des Landes, La Prensa, schreibt am 14. September 2018 in großen Lettern auf der Titelseite: „Ortega inhaftiert 17 Anführer in sieben Tagen.“ Schlagzeilen wie diese sind auch nach fünf Monaten Krise beklemmender Begleiter des alltäglichen Geschehens in Nicaragua. Die Konfrontationen zwischen Regierungsanhänger*innen und Opposition fallen weniger verheerend aus als während der ersten Etappe des Aufbegehrens (die ersten 90 Tage der Krise forderten einen täglichen Blutzoll von vier Menschenleben). Eine systematische Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte kennzeichnet dennoch auch weiterhin die staatliche Reaktion auf den im vergangenen April von einer umstrittenen Sozialreform entfachten Volksaufstand.

Im Zuge der letzten Wochen hat die Polizei Hand in Hand mit illegitimen paramilitärischen Einheiten, vom Staatsoberhaupt zuletzt als „freiwillige Polizei" bezeichnet, eine landesweite Hexenjagd auf Anführer*innen der Protestbewegung sowie vermeintliche Verdächtige unternommen. Sie werden in die für seine Foltermethoden berüchtigten Kerker der Strafanstalt „El Chipote“ verschleppt und dort für willkürliche Zeitspannen festgehalten. Mitunter werden sie auch in das östlich der Hauptstadt gelegene Hochsicherheitsgefängnis „La Modelo“ verlegt und dort rechtlich fragwürdigen Prozessen ausgesetzt. Außerdem werden zusehends Stimmen laut, dass außerhalb der städtischen Zentren und insbesondere im Norden des Landes das Militär, das sich bisher noch am Rande der Unruhen zu verweilen schien, Regierungsgegner*innen verfolgt. Der Großteil der Gefangenen wird des Terrorismus angeklagt.

La Siria ist eine solche „Terroristin“. Sie ist 24 Jahre alt, kommt von der Karibikküste und wurde zu einer Anführerin des studentischen Widerstandes in der Nationalen Autonomen Universität Nicaraguas, UNAN (Der aufmerksame Leser/die aufmerksame Leserin kennt sie bereits aus der ila 417). Knapp drei Monate lang hielten Hunderte Studierende die Universität besetzt. Regierungstreue Schergen nahmen den Campus fast täglich unter Beschuss. Als die Jugendlichen im Juli noch darüber zu verhandeln suchten, wie sie sicher von dem weitläufigen Gelände im Süden der Zweimillionenmetropole abziehen könnten, wurden sie von einer brutalen Großoffensive der Polizei und den paramilitärischen Trupps überrannt. Verzweifelt suchten die jungen Besetzer*innen in einer nahen Kirche Zuflucht. Doch auch dort hagelte es unerbittlich Kugeln, bis in den nächsten Morgen hi-nein. Die Polizei verwehrte Mitgliedern der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte und selbst Ambulanzen zum Abtransport der Verletzten den Zutritt. Zwei Studenten wurden durch Kopfschüsse getötet: Einer starb noch auf den improvisierten Barrikaden um das Universitätsgelände, der andere in der Kirche. Etliche wurden schwer verletzt. „Zu sehen, wie ein Freund in einer Blutlache liegt und um Atem ringt, unsere Medizinstudenten, die vergeblich versuchen, sein Leben zu retten, diese Szenen werde ich nie vergessen“, schildert La Siria.

Auf diese tragischen Erfahrungen folgte für La Siria eine Odyssee durch mehrere sogenannte sichere Häuser. „Ich hielt mich gemeinsam mit meinem Bruder und drei weiteren Weggefährten versteckt. Wir schliefen niemals mehr als zwei Nächte am gleichen Ort“, erläutert sie. „Als Arbeiter verschiedener Firmen verkleidet bewegten wir uns dabei von Versteck zu Versteck. Nicht immer wurden wir dabei mit offenen Armen empfangen. Die Leute hatten Angst, wollten uns am liebsten gleich wieder raushaben“. Mit ihrer Familie hatte sie indessen aus Sicherheitsgründen nur spärlich Kontakt. Schließlich schalteten sich die besorgten Eltern ein: „Eines Abends schrieben sie mir: ‚Die Hühner müssen morgen um 8 Uhr in der Früh fertig sein, der Bauernhof des Nachbarn wird sie kaufen.’ Ein verschlüsselter Aufruf, die Hühner waren wir, der Nachbar Costa Rica. So begann mein Weg ins Exil.“

In einem Kleinbus holte Sirias Vater die Jugendlichen am Folgetag ab. Für jeden der fünf gab es einen Rucksack mit etwas Proviant und einer Bibel. „Falls man uns auf der Fahrt Fragen stellt, sollten wir sagen, dass wir zu einem religiösen Treffen unterwegs seien. Auf der Route stiegen weitere Reisende zu, also wechselten wir kaum ein Wort. Jedes Mal, wenn wir an Polizei und Paramilitärs vorbeikamen, hielt ich vor Angst den Atem an.“ Die Grenze zum „Nachbarn“ überquerte das flüchtende Quintett schließlich zu Fuß an einem sogenannten punto ciego, einem blinden Fleck. „Es war ein langer und beschwerlicher Marsch. Es hatte stark geregnet und wurde bereits dunkel. Immer wieder blieben wir im Matsch stecken. An einem Bauernhof warteten schon zwei Autos auf uns. Doch als wir uns endlich in Sicherheit wähnten, gabelte uns die costaricanische Polizei auf. Sie lieferten uns tatsächlich nicht an die nicaraguanischen Behörden aus, sondern hatten es auf ausbeuterische Schlepper abgesehen. In dieser Nacht schliefen wir notgedrungen auf der Straße vor dem Migrationsbüro. Erst am nächsten Abend kamen wir mit einem Termin für einen Asylantrag in San José an.“

Der Termin wurde derweil auf Dezember verlegt, was das Leben im Exil nicht leichter machte. „Momentan kann ich weder arbeiten noch ein Bankkonto aufmachen. Dennoch darf ich mich glücklich schätzen, hier zu sein. Erst gestern haben sie mehrere meiner compañeros aus der UNAN unrechtmäßig verhaftet.“ Die Festnahmen ereigneten sich am Sonntag, dem 23. September, während einer als „Wir sind die Stimme der politischen Gefangenen“ betitelten Demonstration in Managua. Polizei, Paramilitärs und Sympathisant*innen der sandinistischen Regierungspartei beschatteten die Demo, schüchterten deren Teilnehmer*innen ein, so sehr, dass sich die Demonstrierenden gezwungen sahen, ihre Marschroute zu ändern. Schließlich hallten Detonationen durch die Straßen, erst Tränengas, dann wurde scharf geschossen. Panik brach aus und die Menge zerstob in alle Richtungen. Die Menschen rannten, suchten Zuflucht in Häusern und in einer Kirche. Einer blieb leblos auf dem Asphalt liegen, der 16-jährige Max Andrés Romero. Die Polizei verlautbarte später, dass der Junge einem eigens provozierten „Kreuzfeuer“ zum Opfer gefallen sei. In derselben Pressemitteilung heißt es weiter: „Die nationale Polizei stellt Untersuchungen an, um sowohl die Verantwortung der Personen zu ermitteln, die zu diesem gewalttätigen und terroristischen Marsch aufgerufen haben, als auch die der Urheber dieser kriminellen Taten, die Teil einer gescheiterten Putschistenstrategie sind.“

Diese jüngsten Ereignisse strafen den vom autokratisch regierenden Präsidentenehepaar propagierten Diskurs einer Befriedung und Normalisierung des Landes Lügen. „Es gibt solche, die keinen Frieden wollen, die weiterhin das Wohlergehen Nicaraguas pervertieren möchten. Das werden sie nicht schaffen! Gott wird es nicht zulassen!“, verkündete Vizepräsidentin Rosario Murillo kampfeslustig am 15. September. An diesem Tag feiert Nicaragua seine Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialmacht. In der folgenden Woche scheute die Regierung keine Kosten und Mühen, um zu zeigen, wer die Straßen der Landeshauptstadt kontrolliert. Nahezu täglich wurden rot-schwarze Märsche, also in den Farben der sandinistischen Partei, veranstaltet oder verschiedene Punkte Managuas von regierungsfreundlichen Gruppen besetzt. „Gerechtigkeit und Reparationen für die Opfer des Terrorismus“, fordern sie dabei, und auf manchen Plakaten steht: „Tod den Putschisten“. Aus den Lautsprechern der Karawanen dröhnt der vom chavistischen Venezuela adaptierte und hier zum spätsommerlichen Hit mutierte Refrain des „Mariachi Azucena“: „Der Comandante bleibt, auch wenn’s dir wehtut, Daniel bleibt“. Staatsbeamte wurden hierfür schichtweise mit Bussen, die sonst als öffentliche Verkehrsmittel dienen, von ihren Arbeitsplätzen zu den entsprechenden Orten verfrachtet.

Auf dem Rasen des Kreisverkehrs „Jean Paul Genie“ fanden sich einst kleine Holzkreuze zum Andenken an die Gefallenen. Unter polizeilicher Aufsicht wurden sie entfernt und über die dort angebrachte Nationalflagge wurde die sandinistische Parteifahne gehängt. Der großflächige Kreisel war zu einem Symbol des Aufstandes geworden. Er erinnert an die ersten gewaltsamen Übergriffe gegen friedliche Demonstrant*innen am 18. April 2018.

Diese aktuelle Welle der Repression umfasst auch gezielte Entlassungen. Die nicaraguanische Ärztekammer berichtet, dass mindestens 300 Arbeitskräfte aus dem Gesundheitswesen entlassen wurden, weil sie Verletzte bei Protesten behandelt oder sich regierungskritisch geäußert hatten. Außerdem kursieren Listen von Anwält*innen, welche die Familien politischer Gefangener rechtlich beraten haben. Nachdem die Regierung in einer landesweiten „Säuberungsoperation“ die von Regierungsgegner*innen errichteten Barrikaden und Straßensperren mit Blut und Feuer geräumt hat, folgt nun eine „Säuberungsoperation“ der staatlichen Institutionen, getreu dem Motto: Entweder du bist für uns oder gegen uns.

Welche Bilanz lässt sich aus den hier umrissenen Entwicklungen ziehen? Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der im Zuge der letzten fünf Monate entfesselte Staatsterror seine verdorbenen Früchte trägt. Der anfängliche Impuls der oppositionellen Kräfte ist sichtlich geschwächt. Die Zahlen sprechen dabei für sich allein: Die nicaraguanische Menschenrechtsorganisation ANPDH verbucht 512 Tote, mehr als 4000 Verletzte und 1300 als verschwunden gemeldete Personen. Gonzalo Carrión, der juristische Direktor des nicaraguanischen Zentrums für Menschenrechte (CENIDH), spricht von rund 500 politischen Gefangenen. Dabei wurde bisher gegen kein einziges Mitglied der sandinistischen Jugendorganisation (JS), der paramilitärischen Einheiten oder der nationalen Polizei ermittelt. Des Weiteren haben in einem regelrechten Exodus bereits etliche Menschen das Land verlassen, davon gingen mehr als 20 000 Personen allein nach Costa Rica. Obendrein droht die ohnehin schwache nicaraguanische Wirtschaft gänzlich zu kollabieren.

Obgleich der Verkehr seit der „Säuberungsoperation“ wieder in seinen geregelten Bahnen läuft und sich das alltägliche Dasein hier und da zumindest oberflächlich zu normalisieren scheint, ist der Parole, dass nun „der Frieden zurückgekehrt“ sei, zu misstrauen. Auch die zynischen Aussagen Ortegas, in denen er seine Anhänger*innen daran erinnert, dass das Land kürzlich noch ein „Konzentrationslager in den Händen der Terroristen“ war, und die hasserfüllten Predigten seiner Gattin Murillo vermögen hier keine Abhilfe zu schaffen. Die machttrunkenen Machthaber*innen beschwören damit vielmehr das drohende Gespenst eines Bürgerkrieges herauf. Vielleicht ist das auch das einzige Szenario, in dem sich der mittlerweile jeglicher Legitimität entbehrende Präsident noch im Amt halten könnte.

Den oppositionellen Kräften wurde in den letzten Wochen vermehrt vorgeworfen, dass ihre anfängliche Stärke, ihr spontaner Charakter und die horizontale Struktur, ohne klare Führungspersönlichkeiten, nun vor allem zu einem Mangel an Koordination und Organisation zwischen verschiedenen sozialpolitischen Bewegungen verkomme. In dieser Hinsicht wurde nun, nach anderthalb Monaten der Vorbereitung, am 10. September der interessante Entwurf eines „Nationalen Konsens ‚Blau und Weiß’ gegen die Diktatur und für die Demokratisierung Nicaraguas“ vorgelegt. Diese Initiative vereint mehr als 100 soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Organisationen, die sowohl vor als auch nach dem 18. April entstanden sind. Im besagten Text heißt es dabei: „Die verschiedenen organisatorischen Ausdrucksformen, die dazu beigetragen haben, den Kampf um den sozialen und politischen Wandel zu fördern, müssen eine historische Verantwortung übernehmen und ihr Handeln, ihre Marschrouten und ihre jeweils zugrundeliegenden politischen Positionen in Einklang bringen, so wie es die Bürgerschaft klar und deutlich fordert. Der Blau-Weiße-Nationalkonsens muss so schnell wie möglich ein politisch erkennbares Subjekt nach innen und außen aufbauen, mit klaren, kraftvollen und kohärenten Forderungen.“

Unterdessen gibt es Hinweise dafür, dass sich in bestimmten Oppositionshochburgen wie in der als prägend für den Widerstand geltenden Stadt Masaya, aber auch im ländlich geprägten Norden einige Bevölkerungsgruppen klandestin organisieren und bewaffnen, um gegebenenfalls mit ihren eigenen Händen „für Gerechtigkeit zu sorgen“. Die Menschen sind wütend, mitunter zutiefst verletzt und mit ihrer Geduld nahezu am Ende. „Das ist verständlich, aber gefährlich“, meint „La Siria“. „Wir dürfen uns den aus der Gewaltfreiheit geschöpften moralisch-ethischen Vorteil nicht verspielen, dürfen nicht in die Irrationalität verfallen und zulassen, dass noch mehr Blut vergossen wird. Wir dürfen nicht sein wie die und müssen lernen, ohne Hass zu kämpfen. Sonst wird das hier zu einem Rachekrieg“.

Kurzfristig hat das Regime Ortega-Murillo mit seiner repressiven Taktik, zumindest auf nationaler Ebene, einen Etappensieg errungen. Auf lange Sicht jedoch hat die Protestbewegung, der es aller Gewaltexzesse zum Trotz weitgehend gelungen ist, ihren friedlichen Charakter zu wahren, den Wind im Rücken. Initiativen wie die hier zitierte sprechen Bände darüber, wie weit eine Gesellschaft binnen kürzester Zeit gekommen ist, die zuvor noch in einer Art „kollektiver Anästhesie“ schlummerte, wie es der Schriftsteller Sergio Ramírez formuliert hat. Der Philosoph Ernst Bloch vertrat die Auffassung, dass in der Not die großen Ideen geboren würden. Nicaragua durchlebt gerade das größte Blutbad seiner Geschichte in Zeiten des Friedens. Möge der sozialrevolutionäre Autor des „Prinzip Hoffnung“ Recht behalten.