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Die Geschichte vom Herrn und Knecht

Claudia Piñeiros neuer Roman „Der Privatsekretär“
Klaus Jetz

Claudia Piñeiros Romane, von denen im Schweizer Unionsverlag bislang acht in deutscher Übersetzung erschienen sind (s. zum Beispiel Besprechung in ila 338), sind meist spannende Thriller und gesellschaftskritische Charakterstudien. „Der Privatsekretär“ nimmt die neue Generation der argentinischen Politiker*innenkaste auf die Schippe.

Fernando Rovira, ehemals erfolgreicher, superreicher Bauunternehmer, gründet die Partei „Pragma“. Deren Ziel: die Teilung der Provinz Buenos Aires, um über den Gouverneursposten der neuen nördlichen Teilprovinz in den Präsidentenpalast, die Casa Rosada, einzuziehen. Rovira sind alle Mittel recht, um sein Ziel zu erreichen. Er setzt nicht nur alle Hebel in Bewegung, um das Gesetzesprojekt der Provinzteilung zu verwirklichen. Darüber hinaus beherrscht er das Spiel der Medienmanipulation und ist mit allen Wassern gewaschen, wenn es darum geht, ein sauberes Bild von sich in der Öffentlichkeit zu zeichnen und aufrechtzuerhalten.

Rovira heuert im Wahlkampf eine ganze Meute von Berater*innen an, smarte, gut ausgebildete, intelligente Hochschulabsolvent*innen, darunter auch den gut aussehenden Román Sabaté, der aber eher zufällig in der Pragma-Parteizentrale zu landen scheint. Doch bald wird klar, dass er aufgrund seines Aussehens vom Parteichef höchstpersönlich ausgewählt wurde. Den wahren Grund dafür erfahren wir erst in der Mitte des Romans. Román selbst drückt es später so aus: „Mein Chef hat mehr verlangt, als ich zu tun bereit bin.“ Dahinter steckt der unerhörte Wunsch Roviras, der keine Kinder zeugen kann, Román solle seine Ehefrau Lucrecia Bonara schwängern, denn ein kinderloser Politiker habe keine Aussichten auf Erfolg. Natürlich darf dieses Vorhaben in der Öffentlichkeit des katholischen und machistischen Argentiniens ebenso wenig bekannt werden wie Roviras Unfruchtbarkeit.

Allein dieses „Projekt“ sorgt für eine gehörige Portion Ironie und Humor, die den Roman zu einem ebenso spannenden wie kurzweiligen Leseerlebnis machen. Hinzu kommen die falschen Fährten, auf die Piñeiro uns führt: der Auftragsmord an Lucrecia Bonara etwa oder der inszenierte Autounfall, dem Románs Mutter beinah zum Opfer fällt. Am Ende sind wir überrascht, wer hier aus welchen Motiven handelt. Unklar bleibt lange der Grund dafür, warum Román schließlich doch für Lucrecias Schwangerschaft sorgt, warum er sich als „Samenspender auf natürlichem Weg“ zur Verfügung stellt. Erst spät erfahren wir, dass er tatsächlich der biologische Vater Joaquíns, des gezeugten Kindes, ist. Roviras Fehler im Kalkül: Er rechnet nicht damit, dass Román Vatergefühle für Joaquín entwickelt. Er sieht ihn fest in seiner Hand, glaubt an die Rollenverteilung von Herr und Knecht, vom Herrn, der von seinem unterwürfigen Knecht alles fordern könne. Doch dass der seine Knechtschaft abschüttelt und sich befreit, ist in Roviras Plan nicht vorgesehen.

Fünf Jahre braucht es, bis Román ausbricht und mit seinem leiblichen Sohn in die Provinz flieht. Denn Román traut Rovira bald alles zu: „Manchmal fragte ich mich sogar, warum er sich meiner nicht endgültig entledigte – auf welche Weise auch immer. Vielleicht redete er sich ein, dass ich ihn niemals verraten würde, wenn er mir ‚seinen‘ Sohn überließ. Als ob meine Loyalität zu Joaquín sich automatisch auch auf ihn erstrecken würde.“ Sein Plan: Der Öffentlichkeit die Wahrheit über Rovira mitzuteilen, sich im Fernsehen mit Unterstützung der befreundeten Journalistin Valentina Sureda als Joaquíns Vater zu präsentieren und Rovira unter Druck zu setzen, um zu erreichen, dass dieser ihm, dem rechtmäßigen Vater, Joaquín überlässt. Wie Román dies mit Hilfe seiner Freunde erreicht, erzählt Piñeiro in den Schlusskapiteln ihres Romans, einem fulminanten Finale, das für die Auflösung der verwickelten Handlungsstränge und überraschende Wendungen sorgt.

Unterbrochen wird die spannende Handlung des geschickt aufgebauten Romans immer wieder durch Einschübe wie Facebook-Einträge, die Schilderung von TV-Szenen oder der mehrteiligen Projektskizze Valentinas, die neben ihrem Hauptberuf als TV-Journalistin an einem Buch über Rovira arbeitet. Die durch ein anderes Schriftbild hervorgehobene Projektskizze dient Piñeiro dazu, interessante Sachverhalte einzufügen, etwa fiktive Interviews mit realen Politikern, historische Informationen über die Gründung der Provinzhauptstadt La Plata im 19. Jahrhundert (inspiriert vom „Grundriss der Stadt Karlsruhe“), über Perón und seinen Wohlfahrtsminister López Rega („ein Beispiel von Magie und Zauberei in der Politik“: der brujo genannte López Rega rief die „Antikommunistische Allianz Argentiniens“ ins Leben, eine „rechtsextreme paramilitärische Gruppierung, die Hunderte von Menschen entführte, folterte und ermordete“) oder den sogenannten Alsina-Fluch: „Dem Gouverneur Adolfo Alsina gelang es nicht, Präsident Argentiniens zu werden. Und so blieb es seit Dardo Rocha: Nie schaffte es ein Gouverneur der Provinz Buenos Aires, die Wahl zum argentinischen Präsidentenamt für sich zu entscheiden.“ Genau dies ist der Grund, weshalb der dem Aberglauben und der Hexerei verfallene Rovira in populistischer und provozierender Manier Medien und Öffentlichkeit nonstop monothematisch mit der Teilung der Provinz Buenos Aires bombardiert.

Piñeiro erweist sich mit ihrem neuen fesselnden Roman einmal mehr als Grande Dame des satirischen, sozialkritischen Gesellschaftsromans. Ob korrupte Baulöwen mit tödlichen Geheimnissen, superreiche Unternehmergattinnen in ihren Gated Communities oder eben skrupellose Politiker, die über Leichen gehen, um ihr Ziel zu erreichen: Immer gelingen Piñeiro klar gezeichnete Charakterstudien, tiefgehende, überzeugende Psychologisierungen und Schilderungen, die ins Herz der argentinischen Wirklichkeit zielen und ein Blitzlicht werfen auf die gesellschaftlichen Verwerfungen am Río de la Plata.