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Die Vergangenheit in der Gegenwart

Juan Gabriel Vásquez reflektiert in einem Roman die Geschichte der Gewalt in Kolumbien
Gaby Küppers

„Hier kommt niemand unversehrt davon. Niemand, weder Sie noch sonst jemand“, sagt ziemlich genau in der Mitte des Romans ein gewisser Carlos Carballo zu einem gewissen Juan Gabriel Vásquez, und damit ist das Wesentliche gesagt.

„Hier“, das ist Kolumbien, oder besser gesagt das Zentrum von Bogotá. Carlos Carballo ist eine erfundene Figur. Der von ihm Angesprochene dagegen ist der genannte Juan Gabriel Vásquez, geboren 1973, Autor und Journalist, der in dem voluminösen Roman zudem noch zum Protagonisten und Erzähler wird. Gattungsgrenzen sind damit gesprengt. Die Autobiographie ragt explizit in die Fiktion. Der Autor-Erzähler-Protagonist ringt im Buch mit der Befürchtung, seine – realen, im Laufe der erzählten Zeit geborenen – Zwillingstöchter könnten Erbinnen, also Trägerinnen der endemischen Gewalt in Kolumbien werden. Der Verdacht, die „kolumbianische“ Gewalt könne von Generation zu Generation weitergegeben werden, treibt ihn an und um und wird so zum eigentlichen Motor des Romangeschehens. Schreiben, um zu verstehen und zu bewältigen – das Motiv ist nicht neu, aber auch nicht von der Hand zu weisen. Das Romangeschehen hängt sich auf an zwei emblematischen Ereignissen der tatsächlichen Geschichte Kolumbiens im 20. Jahrhundert, die der Erzähler weiter ergründen will und soll. Das Ergebnis ist kein politischer oder historischer Roman, sondern eine Beschreibung eines persönlichen Umgangs mit der Geschichte. Und die wird bekanntlich in der Version der Sieger überliefert.

Das scheint verwirrend, aber es ist nicht schwer, bei der Lektüre die Koordinaten und Akteure nach Absicht und Effekt zu sortieren. Die Protagonisten (m.!) kreisen um die Schlüsselmomente Kolumbiens im vergangenen Jahrhundert: die Ermordung des liberalen Politikers Jorge Eliécer Gaitán am 9. April 1948, die den so genannten Bogotazo“ auslöste und „ein ganzes Land in einen blutigen Krieg gestürzt hat“ (S. 20). Dieser dauerte mehr als 50 Jahre und ist bis heute nicht aufgearbeitet und wirklich zu Ende. Gleichsam die Blaupause dieses epochalen Verbrechens geschah am 15. Oktober 1914, als Rafael Uribe Uribe auf offener Straße erschlagen wurde:

Carlos Carballo – wir sind wieder in der Fiktion – erkennt in beiden Morden ein gemeinsames Grundmuster. Eine erzreaktionäre Oligarchie und Kirche entledigen sich einvernehmlich ihres liberalen Feindes, indem sie zusammen die Attentate vorbereiten. Während der erste Mörder gelyncht und den zweiten – zwei armen Tischlern – ein Gerichtsverfahren gemacht wird, bleiben die Drahtzieher unbehelligt im Hintergrund. Schlimmer noch, der Staat ist Komplize; die Richter schmettern explizit jede Fährte jenseits der These von Einzeltätern ab. Deutsche Lesende fühlen sich direkt an das NSU-Verfahren erinnert.

Parallelen zum Fall des Mordes an John F. Kennedy bestätigen Carballo indessen in der Idee, die Kolumbien seither prägenden Verbrechen seien Ergebnis von Konspiration. Er beauftragt mit nicht gelindem Druck unseren Romanautor Vásquez, die Details des Gaitán-Mordes in einem Buch aufzuarbeiten.

Dieser Auftrag zahlt sich für die Leser*innen aus. Die beiden Attentate werden in aller Ausführlichkeit beschrieben und in Zusammenhänge gestellt. Die so genannte „violencia“ (Gewaltperiode) wird somit von einem „genetischen“, „typisch kolumbianischen“, in einen sozialen Zusammenhang überführt. Die Bedeutung von Verschwörungstheorien wird ebenso behandelt wie Traumata und Ängste, nie die Wahrheit erfahren zu haben. Angebliche „Beweise“ für die eine oder andere Theorie gab es immer, im Buch schön vorgeführt durch Fotografien vom durchlöcherten Rückenwírbel Gaitans in einem Reagenzglas oder Kopien von Schiffspassgen eines Entflohenen. Was beweisen sie? Sind sie überhaupt echt? Sind es nicht vor allem Reliquien?

Vásquez, Romanautor-Protagonist-Erzähler, kommt im Laufe seiner Auseinandersetzung(en) mit Carballo zu dem Ergebnis, dass dessen obsessiver Auftrag nicht in erster Linie dem Bestreben entstammt, von der offiziellen Version verbannte Verschwörungstheorien aufzuklären und in geschichtliche Wahrheit zu überführen, sondern vor allem von dem Wunsch getragen ist, seinem Vater, der am Tage des Mordes an Gaitán am gleichen Ort umkam und in einem Massengrab verschwand, ein Denkmal zu setzen. Ein Mausoleum der Worte.

Alle wichtigen Personen des Romans sind Männer. Alle sind Geheimnisträger. Der Spannungsbogen des Romans beruht darauf, deren Geheimnisse offenzulegen. Frauen sind dabei bestenfalls Objekte männlicher Fürsorge. Am meisten Raum nimmt Vásquez‘ Ehefrau ein. eine Schwangere, dann Gebärende. Als er seine Schlussgedanken formuliert, ist sie an seiner Seite eingeschlafen. Die Zwillingstöchter sind Frühchen, Winzlinge, die jenseits der auf sie projizierten väterlichen Sorgen keinerlei aktive Rolle für den Fortgang der Geschichte spielen. Weder beim Attentat 1914 noch 1948 sind laut Roman Frauen irgendwie an wichtiger Stelle beteiligt.

Die nie reflektierte Reduktion auf ein männliches Geschichtsverständnis ist vielleicht eine bedauerliche Beschränktheit des Romans (und seines Autors), möglicherweise aber auch eine Erklärung, warum die offizielle Geschichte Kolumbiens so gewaltsam ist: weil sie als Abfolge männlicher Akte ins Gedächtnis eingeht und die reale Interaktion zwischen den Geschlechtern unterdrückt.

Das führt zum Paradox des Titels, „Die Gestalt der Ruinen“. Ruinen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass die vormalige Gestalt zerbrochen ist. „Die Ruinen edler Männer“ (S. 513) sind die reliquiengleich verehrten Knochen der beiden Ermordeten, die die gesamte Geschichte Kolumbien erklären sollen.

Dass Vásquez in dem Roman einen Zusammenhang zwischen dem Verschweigen der Frauen und dem Durchsetzen der Männer hat herstellen wollen, ist aus den zahlreichen Interviews, die er zu seinem Werk gegeben hat, nicht ersichtlich. Herauslesen aus dem Roman kann frau (und man) das trotzdem.