ila

Keine Blumensträuße

Stimmen von jungen feministischen Aktivistinnen aus Bolivien

Vier feministische Aktivistinnen, alle unter 30 Jahre alt und jede in einem anderen Kollektiv aktiv, sprechen über die Kämpfe für die Frauenrechte, die Sichtbarwerdung einer internationalen Bewegung und die Bedeutung der Feierlichkeiten zum „Tag der Bolivianischen Frau“ am 11. Oktober.

Alejandra Pau

Ist der Blumenstrauß überholt? „Wofür soll der Rosenstrauß gut sein, wenn sie uns den Rest des Jahres über vergewaltigen oder töten?“, sagt die 25-jährige Adriana Mendoza Bautista. Am 11. Oktober ist der „Tag der bolivianischen Frau“1, Blumen oder ein gemeinsames Essen zur „Feier des Tages“ im Büro sind dann an der Tagesordnung. Aber für vier junge Frauen, die in verschiedenen feministischen Kollektiven aktiv sind, ist der 11. Oktober kein Tag um Glückwünsche entgegenzunehmen.

Feministischer Aktivismus in Bolivien ist nicht neu. Seit langem machen verschiedene Kollektive, Organisationen und Verbände mobil – und sie haben beeindruckende Repräsentantinnen. Doch in den letzten Jahren ist eine neue Generation bolivianischer Frauen in Erscheinung getreten. Sie sind Teil des Booms, den die Region und auch viele andere Teile der Welt gerade erleben. Und ihre Präsenz bei den Mobilisierungen zum Internationalen Frauentag oder zum „Internationalen Aktionstag für legale und sichere Abtreibungen“ ist unübersehbar.

Für diese jungen Frauen unter 30 ist Feminismus „ein Ideal, ein Schlachtfeld, eine Kraft, ein Recht“ und vieles mehr. Sie glauben, dass es mehrere Auslöser für diese nie zuvor dagewesene Sichtbarwerdung der Bewegung gibt: die Zunahme von genderspezifischer Gewalt und von Frauenmorden (Feminiziden), das Vorantreiben des Gesetzes 348, das Frauen ein Leben ohne Gewalterfahrungen garantieren soll2, das Aufkommen einer internationalen Bewegung sowie die sozialen Medien als Raum, in dem Netzwerke geknüpft, Informationen geteilt und Anzeigen öffentlich gemacht werden.

„Die Räume, die wir mittlerweile errungen haben – und das sind keine formal genehmigten Räume – haben ermöglicht, dass wir Frauen über Orte für Reflexion und öffentliche Diskussion verfügen. Dadurch sind wir stärker sichtbar geworden. Und das hat dazu beigetragen, mit dem Schweigen über Gewalt, Diskriminierung, über Ausschlussmechanismen und anderes zu brechen. Außerdem steht diese Entwicklung – nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene – in engem Zusammenhang mit dem Entstehen einer starken Frauenbewegung und wurde dadurch befördert“, betont die Politologin Violeta Tamayo Oliver. Die 27-Jährige ist Repräsentantin der Revolutionären Arbeiter-Liga LOR-CI (Liga Obrera Revolucionaria por la Cuarta Internacional) und der mit ihr assoziierten Bewegung Pan y Rosas („Brot und Rosen“), in der sich Trotzkist*innen und Unabhängige zusammengetan haben. Ihr gemeinsamer Ansatz ist es, die Probleme der genderspezifischen Unterdrückung aus einer Klassenperspektive heraus anzugehen.

Die Sichtbarkeit der Kämpfe der Frauen – und gleichzeitig der Jugend – in Bolivien wird durch das Weltgeschehen erhöht. Aber diese Bewegung ist keine Antwort darauf, vielmehr stellt sie eigene Forderungen auf. Für Tamayo wird Bolivien gestärkt durch das wachsende Bewusstsein darüber, dass Gewalt gegen Frauen nicht weiter ertragen, totgeschwiegen oder versteckt werden darf. Für die jungen Aktivistinnen gehen die heutigen Aktionen weit über die Entrüstung hinaus: Sie zeigen ihre Fähigkeiten und ihr Organisationspotenzial, was früher nicht mit derselben Kraft wie heute sichtbar war.

Die ebenfalls 27-jährige Politologin Anahí Alurralde Molina, die Teil von #NiUnaMenos ist, nennt als weiteren wichtigen Auslöser „die bittere Antwort des Patriarchats“ an die Frauen, die beschließen, selbstbestimmt Entscheidungen über ihr Leben und ihre Körper zu treffen, und Rollen wie Mutterschaft in Frage stellen: „Die Gewalt, die eine Form der Kontrolle des Patriarchats ist, wird zu einem Zündsatz für die Mobilisierung von Frauen. In Argentinien hat es mit #NiUnaMenos angefangen, als kollektiver Aufschrei gegen die Horrorzahlen an Feminiziden. Und bei uns passiert mittlerweile Ähnliches“, erklärt Alurralde.

Alurralde ist vor ungefähr sechs Jahren zur aktiven Feministin geworden, als sie für eine berufliche Weiterbildung in Ecuador war. Für sie ist der feministische Kampf Teil ihres Frau-Seins. In Bolivien sind die Zahlen zur genderspezifischen Gewalt weiterhin alarmierend. Zwischen Januar und Juni 2018 gab es 61 Feminizide. Hinzu kommen 726 Vergewaltigungen, laut einem im Juli verbreiteten Bericht der Generalstaatsanwaltschaft.

Die Psychologin Shadé Mamani Calisaya, ebenfalls 27 Jahre alt, outete sich vor sechs Jahren als Lesbe. Vor zweieinhalb Jahren gründete sie das Kollektiv Wiñay Wara DSG (Diversidades sexuales y de género, Sexuelle und Gender-Vielfalt). Diese Organisation möchte mit ihrer Arbeit die Partizipation von Frauen mit unterschiedlichen sexuellen Identitäten hervorheben. „Eines unserer Hauptanliegen ist es, auf Frauen, Lesben, Bisexuelle und Trans-Menschen zu achten. Uns geht es darum, neue Führungskräfte zu befähigen und zu stärken, wofür wir außerdem zum Thema Intersektionalität arbeiten. Das bezieht sich auf die Frage, wie wir uns in der Gesellschaft als Indigene mit unterschiedlichen sexuellen Identitäten verstehen, denn auch wenn es scheint, dass es solche Menschen nicht gibt, sind sie schon immer hier gewesen“, erklärt sie.

Das Kollektiv befasst sich auch mit der Problematik der Gewalt zwischen Personen gleichen Geschlechts, wie etwa zwischen schwulen und lesbischen Personen oder Paaren. Dazu aktiv zu werden war dringend notwendig, wie die Psychologin aus ihrer eigenen Erfahrung als Jugendliche weiß. Mit 16 Jahren versuchte sie sich das Leben zu nehmen, weil sie nicht wusste, was sie machen sollte: Sie war Lesbe und die Rollen, die die Gesellschaft für sie vorsah, passten nicht zu ihr.

Adriana Mendoza Bautista hat Sprachheilpädagogik studiert und ist Teil des Netzwerkes jugendlicher Führungskräfte „Du entscheidest“ (Red Nacional de Líderes Juveniles Tú Decides), dessen Arbeitsschwerpunkt sexuelle und reproduktive Rechte sind. Das Netzwerk zählt an die 400 Mitglieder im ganzen Land. Als sie mit ihrem Studium anfing, wurde ihr damaliger Freund ihr gegenüber gewalttätig. Sie beendete die Beziehung, nachdem sie an Workshops der Stadtverwaltung von La Paz teilgenommen hatte, in denen sie etwas über Gewalt gegen Frauen lernte. Seitdem ist der Feminismus ein andauernder Lernprozess in ihrem Leben. Für sie besonders wichtige Arbeitsbereiche sind die politische Einflussnahme und eine Schnittstelle zwischen Jugendlichen und Entscheidungsträgern zu sein.

„Die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen wissen nichts über ihre sexuellen Rechte. Aus diesem Grund gibt es auch so viele Schwangerschaften, diese Rechte müssen einfach garantiert werden. Deswegen tragen wir dazu bei, Informationen über Schwangerschaftsverhütung und über sexuell übertragbare Krankheiten zu verbreiten. Als Organisation haben wir außerdem beschlossen, für die Entkriminalisierung der Abtreibung beziehungsweise das freie Recht auf Abtreibung einzutreten“, bekundet sie.

Eine der häufigsten Positionen der Kritiker*innen der feministischen Bewegungen lautet, dass sie nur eine Modeerscheinung seien. Die Interviewten bekräftigen hingegen, dass die Bewegung größer und stärker wird und kein Verfallsdatum hat. Trotz politischer und anderer Differenzen sind sie sich darin einig, dass ihre Bündnisfähigkeit ihre Sichtbarkeit auf nationaler Ebene gestärkt hat. Oberstes Ziel ist es, für die Forderungen und Rechte der Frauen zu kämpfen. Für die feministischen Aktivistinnen sind dies die dringendsten Themen: das freie Recht auf sichere und kostenfreie Abtreibung, die tatsächliche und effektive Anwendung des Gesetzes 348, das heißt Vorbeugung, Betreuung und Sanktionierung bei Gewalt gegen Frauen, umfassende sexuelle Erziehung, wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen und Abschaffung der Lohnunterschiede. Angesichts dieser noch zu erobernden Errungenschaften mutet es absurd an, die Rolle des „bewundernswerten Wesens“ einzunehmen, das am 11. Oktober Blumen bekommt.

Feministische Stimmen

„Am ‚Tag der bolivianischen Frau‘ gehen wir auf die Straße und sagen: ‚Es gibt nichts zu feiern‘, denn es gibt diese Romantisierung von der Rolle der Frau in der Gesellschaft, die von der Vorstellung herrührt, die Frau sei ein Objekt oder ‚das bewundernswerteste Ding‘ überhaupt. Die Frau wird nicht als menschliches Wesen betrachtet, und solange das der Fall ist, wird es nichts zu feiern geben. Wenn Frauen wirklich so sehr verehrt würden, würden sie uns nicht umbringen, vergewaltigen und auf der Straße belästigen. Wenn das real wäre, hätten wir nicht so hohe Gewaltraten, wie wir sie derzeit haben.
Mit der Demokratisierung des Zugangs zum Internet und den sozialen Netzwerken auf globaler Ebene hat sich gezeigt, dass der Feminismus die internationalistischste Bewegung von allen ist. Wir Frauen sind mobilisiert und das haben wir zum 8. März in den letzten drei Jahren in mehr als 160 Ländern deutlich gezeigt. Im Vorfeld haben wir uns zusammen hingesetzt und mit allen zusammen in Konferenzen darüber gesprochen.
Sie nennen uns ‚Femi-Nazis‘ und ‚Mörderinnen‘ wegen unserer Haltung zur Abtreibung, sie drohen damit, uns zu vergewaltigen und uns umzubringen, wenn wir auf die Straße gehen. Aber inzwischen ist zumindest ein Teil der Gesellschaft auf unserer Seite.“
Andrea Terceros, Warmis en Resistencia – Espacio de Mujeres (Frauen im Widerstand – Frauenraum)

„Meiner Meinung nach ist der 11. Oktober ein Anlass dafür zu fragen, warum wir nach so vielen Jahren immer noch keine Präsidentin haben. Außerdem sollten wir an diesem Tag darüber nachdenken, was wir als lesbische, heterosexuelle und andere Frauen tun können, um die Rollen, die uns die Gesellschaft auferlegt, zu überwinden.“
Shadé Mamani, Wiñay Wara DSG

„Wir brauchen an diesem Datum keine Glückwünsche, denn wir erleben immer noch Ungleichheit und haben Nachteile. Vielmehr sollten wir analysieren, ob wir mit der Ausübung unserer Rechte weitergekommen sind.“
Adriana Mendoza, Red Nacional de Jóvenes Tú Decides

„Mir scheint das kein Datum zu sein, an dem die alltäglichen Kämpfe von Frauen anerkannt werden. Unser Kampf gegen die Unterdrückung wird anerkannt, wenn unsere Mitstreiterinnen um ihre Territorien kämpfen und dabei sogar ihr Leben riskieren, oder wenn die Kirche infrage gestellt wird, weil sie Abtreibung kriminalisiert.
Violeta Tamayo, Pan y Rosas

„Für mich hat dieses Datum einen wichtigen historischen Inhalt wegen Adela Zamudio, aber auch als Datum der Anklage finde ich es sehr bedeutsam. Es bringt allerdings gar nichts, den bolivianischen Frauen zu gratulieren, wenn sie es sind, die Tag für Tag ermordet werden.“
Anhai Alurralde, #NiUnaMenos

  • 1. Der 11. Oktober ist der Geburtstag der Schriftstellerin Adela Zamudio (1854-1928), Vorreiterin des Feminismus in Bolivien. Der Gedenktag wurde 1980 von der einzigen, acht Monate im Amt weilenden Präsidentin Lidia Gueiler Tejada etabliert.
  • 2. Das 2013 verabschiedete Gesetz 348 (Ley integral para garantizar a las mujeres una vida libre de violencia), erklärt die Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen zur „nationalen Priorität“. Tatsächlich kommt das Gesetz bisher kaum zur Anwendung, vielen geht es nicht weit genug.

Zuerst veröffentlicht unter: www.paginasiete.bo/gente/2018/10/11/la-mujer-boliviana-el-activismo-femi... • Übersetzung: Naomi Rattunde