ila

Von hinten erdolcht

Der Ultrarechte Jair Bolsonaro wird neuer Präsident in Brasilien

Am 28. Oktober 2018 rächte es sich bitterlich, dass es in Brasilien nie eine politische und juristische Aufarbeitung der Militärdiktatur gegeben hat. Der Ex-Militär Jair Bolsonaro, der die Militärdiktatur lobt, Folter rechtfertigt und seinen Gegner*innen Gewalt androht, wurde zum neuen Präsidenten Brasiliens gewählt. Obwohl es alle Umfragen vorausgesagt hatten, hatten viele demokratisch gesinnte Brasilianer*innen gehofft, dass sich die Stimmung doch noch gegen Bolsonaro drehen könnte. Bis zuletzt hatten die sozialen Bewegungen, vor allem Frauengruppen (vgl. Beitrag im Schwerpunkt dieser ila), Organisationen von Afrobrasilianer*innen und die LGBTQI-Szene mobilisiert, um Bolsonaros Sieg in der Stichwahl zu verhindern. Vergeblich.

Tainã Mansani

Es ist halb elf abends in einer Kneipe in Salvador, der Hauptstadt des Bundesstaates Bahia. Salvador gilt als die Wiege der afrobrasilianischen Kultur. Von hier stammt der bedeutende brasilianische Schriftsteller Jorge Amado, aber auch die Capoeira. Letztere ist der Widerstandskampf, der sich während der Sklaverei in Brasilien, vor allem im 19. Jh. unter der schwarzen Bevölkerung entwickelt hat, Capoeira wurde als akrobatische Kampftanz weltweit bekannt.

Die Nacht ist warm, Frauen und Kinder flanieren durch die Straßen. Die Stimmung im Land ist aufgrund der politischen Lage angespannt, es ist der Tag der ersten Runde der nationalen Wahlen. In einer Kneipe streiten zwei Männer darüber, welchen Kandidaten sie als Präsidenten bevorzugen würden. Nach Unstimmigkeiten verlässt einer der beiden die Kneipe, kehrt jedoch zurück, um den anderen mit zwölf Messerstichen niederzustechen und zu töten.

Opfer dieses Mordes wurde der Capoeira-Mestre Moa do Katendê, der von hinten erdolcht wurde. Er hatte in der Kneipe den Erfolg Fernando Haddads von der sozialdemokratisch orientierten Arbeiterpartei PT gefeiert. Haddad hatte als Zweitplatzierter der ersten Runde die Stichwahl gegen den rechtsextremen Kandidaten Jair Bolsonaro erreicht, dessen Partei sich selbst „sozialliberal“ (Partido Social Liberal) nennt.

Der Tod des bahianischen Capoeira-Meisters, der einen Kandidaten der brasilianischen Linken verbal verteidigte, veranschaulicht auf tragische Weise den Abgrund, vor dem die brasilianische Gesellschaft steht. Die Mehrheit hat für den Kandidaten gestimmt, der die Anwendung von Gewalt und das Vorgehen der früheren Militärdiktatoren zur Durchsetzung der eigenen Ziele rechtfertigt. Die im politischen Diskurs ausschließlich gegen die PT geltend gemachten Korruptionsvorwürfe nutzte er aus, um gegen sie Stimmung zu machen und Hass zu schüren.

Jair Bolsonaro ist bereits seit 27 Jahren in der politischen Landschaft Brasiliens aktiv, er war als Abgeordneter für Rio de Janeiro im Parlament. Überregional bekannt wurde er erst im Laufe der letzten beiden Jahre, vor allem mit seinen Diskursen gegen die Korruption, die er einzig bei der Arbeiterpartei verortete, und mit seiner Ankündigung, der grassierenden Kriminalität mit einer Politik der harten Hand ein Ende zu machen. Er setzt sich für eine bewaffnete Zivilgesellschaft ein und fordert eine aktivere Rolle des Militärs auch in der Innenpolitik.

Die Bekämpfung von Gewalt und Kriminalität waren die zentralen Aufmacher seiner Kampagne. Dabei wurde schon im Vorfeld der Wahlen die exzessive Gewaltbereitschaft seiner Anhänger zum Thema. Der Kandidat ist der Keil, der derzeit die Gesellschaft spaltet. Über die Ausbrüche von Gewalt gegen seine Gegner*innen habe er keine Kontrolle, lässt er verlauten. Fakt ist jedoch, dass Brasilien seit Bolsonaros politischem Aufstieg von einer Welle der Gewalt heimgesucht wird. Bisher wurden mindestens 50 gewalttätige Angriffe registriert; dazu gehören Ermordungen von Menschen der LGBTQI-Gemeinschaft sowie von Unterstützer*innen der PT. In Porto Alegre, einer der größten Städte im Süden Brasiliens, wurde eine Frau mit einem Hakenkreuz markiert, das ihr mit einem Messer in die Haut auf ihrem Bauch geritzt worden sein soll. Drei Männer hatten sich ihr genähert, weil sie auf ihrem Rucksack zwei Aufnäher trug, einen mit dem Hashtag #Elenão (#Ernicht) als Zeichen der Kampagne gegen den rechtspopulistischen Kandidaten, einen anderen in Regenbogenfarben als Symbol für die LGBTQI-Bewegung. Am Ende erklärte die zuständige Polizeibehörde, die Frau habe die Situation selbst heraufbeschworen.

Viele Brasilianer*innen, auch solche, die in Deutschland leben, sind sehr besorgt über die aktuellen Entwicklungen, manche erinnern diese Ereignisse zumindest ansatzweise an den Aufstieg Hitlers und der Nazis. Trotz gewisser historischer Ähnlichkeiten ist die politische und wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens eine gänzlich andere als die Deutschlands in den 20er-Jahren. Die sozialdemokratische Linke, die PT, war 13 Jahre an der Regierung. Dabei versuchte sie sich an dem Spagat, die Interessen der „kleinen Leute“ und die der Eliten im Land in einer einzigen Regierung zu vertreten. Nun erntet sie die Früchte dieser auf Allianzen gestützten Politik: Politisch ist sie beinahe schachmatt gesetzt.

Die politische Richtlinie Lula da Silvas während seiner ersten Amtszeit ab 2003 war die Einführung unterschiedlicher Sozialprogramme wie beispielsweise der Bolsa Família, mit deren Hilfe Millionen Brasilianer*innen der Armut entfliehen konnten. Lula, der es als gelernter Dreher und früherer Gewerkschaftler zum Präsidenten Brasiliens gebracht hatte, gilt in der Geschichte des Landes als einer der populärsten Politiker, der sich darüber hinaus weltweiter Beliebtheit erfreut. Nach zwei Amtsperioden wurde 2010 seine Stabschefin Dilma Rousseff zur Präsidentin gewählt. Als ihr Lula 2011 das Amt übergab, schied er mit Zustimmungsquoten von mehr als 90 Prozent aus dem Amt.

Progressive Politikwissenschaftler*innen vertreten die Meinung, dass die PT während ihrer langen Zeit an der Macht unternommen hat, was sie konnte (und was sie eben nicht konnte), um die Interessen der Zivilgesellschaft und die der Eliten miteinander zu vereinen. Der Präsident oder die Präsidentin werden direkt durch das Volk gewählt und nicht indirekt durch das Parlament.

Im Unterschied zu parlamentarischen Regierungssystemen wie in Deutschland, so setzen führende Politikwissenschaftler*innen ihre Analyse fort, kann das Präsidialsystem wie in Brasilien eher zu Komplikationen in der Regierungsarbeit führen, beispielsweise, wenn sich das Parlament mehrheitlich aus Abgeordneten oppositioneller Parteien zusammensetzt. Dann entsteht leicht ein Raum, in dem das Parlament entweder die Regierungsarbeit vollständig blockieren oder aber einen politischen oder finanziellen Preis für die Zustimmung bei Abstimmungen oder politische Allianzen verlangen kann. Dieses Schema der vor allem mit finanziellen Zuwendungen gekauften Zustimmung hat sich in Brasilien seit der Einführung des demokratischen Systems etabliert und verfestigt. Bekannt ist es heutzutage unter der Bezeichnung Mensalão.

Die PT hat sich historisch seit dem Prozess der Redemokratisierung in den 80er-Jahren diskursiv gegen solche Auswüchse der politischen Korruption stark gemacht. Nach mehr als einem Jahrzehnt an der Regierung kommt diese Haltung wie ein Bumerang auf sie zurück. Denn auch sie hat sich, kaum an der Regierung, dieses Systems bedient und sich die parlamentarische Mehrheit (die PT stellte nie mehr als 20 Prozent der Abgeordneten im Parlament – die Red.) zusammengekauft.

Tatsächlich sind einige parteiinterne Kritiker*innen bereits 2005 nach den ersten Hinweisen auf Beteiligung der Partei am Mensalão aus der PT ausgetreten. Der inzwischen verstorbene Plínio de Arruda Sampaio war einer der ersten, der nach solchen Hinweisen die PT verließ und sich der linken „Partei des Sozialismus und der Freiheit (Partido Socialismo e Liberdade – PSOL) anschloss. José Dirceu hingegen, ein weiterer früherer Stabschef der Regierung Lula, verlor alle politischen Ämter, nachdem der Vorwurf laut wurde, er sei die Schlüsselfigur eines solchen Systems monatlicher Zahlungen an Kongressabgeordnete gewesen. Im Jahr 2012 wurde er zu zehn Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt.

Auch noch nach dem Mensalão-Skandal setzte die PT Allianzen mit einflussreichen Politiker*innen anderer Parteien fort, um die Interessen der politischen und wirtschaftlichen Eliten des Landes zu wahren. Diese Allianzen führten allerdings während der Regierung Rousseff zum Impeachment, das insbesondere vom rechtsliberalen Flügel des Koalitionspartners PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro, Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens) des damaligen Vizepräsidenten Michel Temer angestoßen wurde, ebenso wie von der sich Mitte-rechts positionierten Partei PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira, Sozial-Demokratische Partei Brasiliens).

Die Amtsenthebung Rousseffs gilt als Machwerk ihrer politischen Gegner. Doch sie argumentierten nicht politisch, sondern warfen der Präsidentin illegale Finanztricksereien vor. Damit war eine buchhalterische List der Regierung gemeint, die anstehenden Haushaltsausgaben im Vorfeld zu berechnen und die Summe bei öffentlichen Banken zu leihen, um entsprechende Ausgaben rechtzeitig tätigen zu können (Lohnausgaben, Sozialleistungen etc.). Am Ende des Monats zahlte die Regierung ihre Schulden aus dem eigenen Haushalt zurück.

Der brasilianische Finanzgerichtshof vertritt die Meinung, ein solches Vorgehen sei dem Gesetz zur finanzpolitischen Verantwortung (Art. 36) zufolge illegal. Die Regierung Rousseff hatte zwar anerkannt, dass Rückzahlungen in den vergangenen Jahren verspätet erfolgten, allerdings sei die Praxis dieser haushaltstechnischen Tricksereien an sich nicht illegal. Sie seien bereits seit der Präsidentschaft von Fernando Henrique Cardoso (PSDB, zwischen 1995 und 2003 Präsident Brasiliens) praktiziert worden, der von niemandem deswegen angeklagt wurde.

Noch fragwürdiger als der Vorwand, um Rousseff aus ihrem Amt zu heben, waren die Zustände im Kongress selbst, der sie angriff und das Impeachment durchsetzte. Einem Artikel der New York Times vom 16. April 2016 zufolge waren 60 Prozent der 594 für die Enthebung stimmenden Abgeordneten wegen Korruption, Wahlbetrug, Entführung, Mord, illegaler Rodungen und Bestechung angeklagt. Die damalige Präsidentin, so die Times, auch zitiert im Guardian, sei „eine sehr seltene Erscheinung innerhalb der zentralen Figuren brasilianischer Politik: Sie wurde nicht beschuldigt, sich selbst bereichert zu haben.“

Bei den Wahlen konnte Lula da Silva, lange Zeit die wichtigste Symbolfigur der brasilianischen Linken und wohl der einzige Kandidat, der Bolsonaro bei der Wahl hätte schlagen können, nicht antreten, da er wegen Korruption in Haft sitzt. Dabei geht es um eine Dreietagenwohnung an der Küste des Bundesstaates São Paulo. Unter anderem wird Lula vorgeworfen, er habe dafür kostenlose beziehungsweise verbilligte Leistungen eines Bauunternehmens erhalten, das viele Staatsaufträge bekommen hat. Während des Verfahrens betonten seine Verteidiger, es gäbe keinerlei Beweise für derartige Anschuldigungen, die Vorwürfe beruhten schlicht auf Denunziationen.

Längst nicht alle Menschen, die sich den linken politischen Kreisen in Brasilien zugehörig fühlen, würden für Lula ihre Hand ins Feuer legen. Viele vermuten aber, dass die Verurteilung Lulas zu einer Haftstrafe vor den Wahlen 2018 ein politisches Spielchen war, um seine Kandidatur zu verhindern, das Land zu polarisieren und die PT zu schwächen.

In Anbetracht des Impeachments gegen Dilma und der Gefängnisstrafe von Lula stellt sich die Frage danach, wie viele weitere brasilianische Politiker*innen wegen Korruption verurteilt wurden. Die Deutsche Welle Brasil veröffentlichte 2017 eine Erhebung, der zufolge der oberste brasilianische Gerichtshof 500 Verfahren gegen Senator*innen und Bundesabgeordnete eingeleitet hat. Die hohe Anzahl an Verfahren bildet jedoch eine Hürde, die Straflosigkeit fördert.

Auf dieser Liste finden sich gewichtige Namen, deren Verfahren jedoch in den meisten Fällen nicht mit der gleichen Geschwindigkeit vorangetrieben wurden wie der Prozess gegen Lula. So beschuldigte im Oktober dieses Jahres die brasilianische Bundespolizei den noch amtierenden rechtsliberalen Präsidenten Temer der Korruption und Geldwäsche. Die Ermittler*innen wiesen nach, dass Temer Schmiergelder von Firmen des Hafengewerbes erhalten hatte.

Den Mensalão-Skandal des Jahres 2005, die konstruierte Amtsenthebung von Rousseff und die derzeitige Haftstrafe Lulas bereitete die brasilianische Medienlandschaft so auf, um auf opportunistische Art und Weise einen gesellschaftlichen Diskurs gegen Korruption zu schüren, in dessen Zentrum für einen Großteil der Öffentlichkeit die PT steht. Dem falschen Propheten Bolsonaro spielte diese Stimmung in die Hände. Er konnte sich vor den Massen als Retter des Landes inszenieren und die Anwendung von Gewalt als zu diesem Zweck einzig gangbaren Weg darstellen.

Der Kongressabgeordnete Jair Bolsonaro war einer der vehementesten Verfechter des Impeachments gegen Dilma Rousseff. Er gab während der Abstimmung zur Amtsenthebung bekannt, er habe in Gedenken an den Oberst gestimmt, der für die Folterungen von Dilma Rousseff während ihrer Gefangenschaft zu Zeiten der Militärdiktatur in Brasilien verantwortlich war. Mit Stolz stimmte der jetzige gewählte Präsident für die Amtsenthebung, in Gedenken an die „Militärs von 1964“ (Jahr des Militärputsches in Brasilien, auf das eine Phase von Militärdiktaturen folgte, die erst 1988 beendet wurde), die den Putsch gegen die damals demokratisch gewählte Regierung angeführt hatten und damit das Land von hinten erdolchten. „Von hinten erdolcht“ wie der Capoeira-Meister Moa do Katende. Mit dem Militärputsch von 1964 begann eine der brutalsten Etappen der jüngeren Geschichte Brasiliens.

Übersetzung: Simon Hirzel