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Eine Niederlage des „Systems“

Warum Jair Bolsonaro die Unzufriedenheit in Brasilien für sich kanalisieren konnte

Am 1. Januar 2019 wird Jair Bolsonaro die Rampe in Brasília hochsteigen und die Präsidentenschärpe von Michel Temer überreicht bekommen. Dann ist das Unfassbare ein simpler Fakt: Jair Messias Bolsonaro ist der Präsident Brasiliens. Eine Epoche demokratischen Aufbruchs, die in den 70er-Jahren begann, der Aufstieg neuer sozialer Bewegungen, das Entstehen einer linken Partei neuen Typs, der Arbeiterpartei PT, münden in die Präsidentschaft eines unsäglichen Politikers mit faschistoidem Gedankengut. Dieser demokratische Aufbruch war natürlich voller Rückschläge, Widersprüche und Enttäuschungen. Aber er war auch ein Hoffnungsprojekt weit über die Grenzen Brasiliens hinaus und beflügelte die Brasiliensolidarität in Deutschland und anderen Ländern. Aber statt der von sozialen Bewegungen erhofften und eingeforderten Radikalisierung der Demokratie stehen wir nun vor einem Trümmerhaufen, einer Ruine der Demokratie, aus der ein Herr der Finsternis aufsteigt.

Thomas Fatheuer

Der Schrecken über das Wahlergebnis sollte nicht zu schnell mit Erklärungen verscheucht werden. Dennoch müssen wir nach Erklärungen suchen. Der marxistische Philosoph Paulo Arantes markiert dafür einen guten Ausgangspunkt: „Was am meisten erschreckt, ist, dass Bolsonaro niemanden getäuscht hat. Er sagt das alles seit langem. Wie kommt es denn dann, dass es die Menschen nicht kümmert? Da es nicht 60 Millionen Faschisten sind, was bedeutet es, dass eine überwältigende Mehrheit dieser Diskurs Bolsonaros nicht bewegt, dass sie gleichgültig bleiben? Was erschreckt, ist nicht die Tatsache, dass der Faschist ein brutales Monster ist, das liegt in seiner Natur. Was am meisten erschreckt, ist die Tatsache, dass die große Mehrheit sich abwendet, gleichgültig bleibt gegenüber einem angekündigten Horror. Das bedeutet aber, dass alles möglich ist.“

Diesen Eindruck des Horrors sollte man zulassen und nicht versuchen, ihn vorschnell durch Erklärungen zu bannen. Die Wahl Bolsonaros hat eine Dimension, die über einen normalen Regierungswechsel hinausgeht und deren Konsequenzen nicht wirklich abzusehen sind. Dennoch müssen wir versuchen, zumindest einige Elemente des Unfassbaren zu fassen.

Natürlich war die Wahl Bolsonaros ein historische Niederlage der Linken und der PT in Brasilien. Aber es war genauso und vielleicht noch mehr eine Niederlage der traditionellen bürgerlichen Parteien, des sogenannten „Zentrum“ (Centrão). Seit 1994 waren alle Wahlen durch die Polarität zwischen der (angeblich) sozialdemokratischen, tatsächlich aber rechtsliberalen PSDB und der PT bestimmt. 2018 kam aber der Kandidat der PSDB nicht einmal auf fünf Prozent der Stimmen. Damit hat auch für das bürgerliche Lager und insbesondere die PSDB die politische Inszenierung der letzten Jahre in einem Desaster geendet. Die PSDB hatte sich mit obskursten Figuren der brasilianischen Politik und Justiz zusammengetan, um die PT zu vernichten und damit ihren großen Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Präsidentin Dilma Rousseff des Amtes enthoben und Lula im Gefängnis, alles schien nach Plan zu verlaufen.

Doch das sinistre Drama der letzten Jahre schwächte zwar die PT, vernichtete sie aber nicht und bereitete den Boden für Bolsonaro. Der brasilianischen Öffentlichkeit war nicht entgangen, dass die Korruption, die in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt war, kein Privileg der PT darstellte. Die von Medien und Justiz immer wieder mit neuen Bildern und Enthüllungen am Leben erhaltene Kampagne gegen Korruption traf schließlich das gesamte politische System.

Bolsonaro, seit über zwanzig Jahren im Parlament als Abgeordneter unterschiedlicher Parteien, war keine Neuigkeit, sondern der verfemte Außenseiter, der nicht am System beteiligt war. „Er ist wenigstens nicht korrupt“, war einer der häufigsten Sätze, die während der letzten Wochen vor den Wahlen in Brasilien zu hören waren.

Vor diesem Hintergrund wurden die Wahlen zu einer Abrechnung mit dem „System“, die sich nicht auf den Sieg Bolsonaros beschränkt. In zwei wichtigen Bundesstaaten (Minas Gerais und Rio de Janeiro) gewannen Kandidaten, die völlig unbekannt waren und explizit Bolsonaro unterstützen. Der Gewinner in São Paulo, João Doria, gehört zwar der PSDB an, vermarktet sich aber als Newcomer und Geschäftsmann, der Bolsonaro unterstützt.

Das Ergebnis dieser antisystemischen Welle ist ein extrem zersplittertes Parlament mit 30 Parteien. Verblüffenderweise ist die PT mit 10,9 Prozent der Stimmen und 59 Abgeordneten die stärkste Partei geworden, knapp vor der bisher unbedeutenden PSL Bolsonaros (52 Abgeordnete). PT und PSL sind die einzigen Parteien, die mehr als 10 Prozent der Stimmen erzielt haben. Die ehemals großen Parteien PSDB (29 Abgeordnete ) und PMDB (31) sind in das riesige parlamentarische Mittelfeld abgestiegen, das sich neun Parteien teilen, die jeweils etwa 30 Abgeordnete stellen.

Ein politischer Tsunami hat weite Teil des bisherigen Systems zerlegt und zahlreiche Newcomer der Rechten ins Abgeordnetenhaus und ins Gouverneursamt gebracht. Die allgemeine Frustration mit dem „System“ hat auch die PT getroffen, auch sie wurde als „Systempartei", als Teil eines korrupten Konglomerats abgestraft. Dies erklärt allerdings noch nicht, warum die Leerstelle im System von einem Kandidaten mit faschistoiden Gedankengut gefüllt werden konnte.

Ein politischer Umbruch in den Dimensionen eines Bolsonaro ist natürlich nicht auf nur einen Grund zurückzuführen. Offensichtlich kamen eine Vielzahl von Momenten zusammen. Man sollte auch nicht zu schnell einen Schuldigen (Person oder Grund) identifizieren. Es muss Zeit für Reflexion bleiben und die Ratlosigkeit und Verwirrung eingestanden werden. Viele Erklärungsversuche gehen von der Frage aus: „Wurde die PT primär wegen ihrer Erfolge/Errungenschaften oder ihrer Fehler abgestraft?“ und rücken dabei die Erfolge in den Mittelpunkt. Demnach haben etwa die Quote für Schwarze an den Hochschulen, die Besserstellung für Hausangestellte oder die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen einen reaktionären Furor in der Mittelschicht erzeugt.

Sicher hat dies eine Rolle gespielt, aber es kann nicht wirklich den Aufstieg Bolsonaros erklären. Denn all dies hat lange nicht die ungemeine Popularität Lulas und Dilmas verhindern können. Lula beendete seine zweite Amtszeit 2010 mit einer Zugstimmungsquote von über 80 Prozent, einmalig in der Geschichte Brasiliens. Dilmas Popularitätswerte waren bis 2013 ebenfalls überragend, trotz Quoten und Statut der Hausangestellten. Aber 2013 beginnen die Massendemonstrationen und der Verfall der Popularität von Dilma und der PT. Das politisch motivierte Amtsenthebungsverfahren 2016 war nur möglich, weil die Popularitätswerte Dilmas auf einen historischen Tiefpunkt gefallen waren. Was war passiert?

Etwas ganz Entscheidendes: 2014 begann die gravierendste ökonomische Krise der jüngeren Geschichte Brasiliens. Nach einem Nullwachstum 2014 sank das BIP in den Jahren 2015 und 2016 um jeweils ca. 3,5 Prozent. Die Inflation stieg auf 10 Prozent, die Arbeitslosigkeit von 6,8 Prozent im Jahre 2014 auf 12 Prozent im Jahre 2016.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Analysen des Wahlsieges Bolsonaros die ökonomische Krise überhaupt nicht oder nur am Rande erwähnen. Dabei sollte doch gerade für Linke die Ökonomie von gewisser Bedeutung sein. Die wirtschaftliche Krise mag verschiedene Ursachen haben, aber gewiss sind Fehler der Regierung Dilma eine davon, wie sogar der PT-Präsidentschaftskandidat Fernando Haddad im Wahlkampf eingestehen musste. Ein entscheidendes Problem ist, dass Steuererleichterungen und Deckelung der Energiepreise bis zu den Wahlen 2014 durchgehalten wurden. Nach den Wahlen wurden angesichts eines rasant wachsenden Haushaltsdefizits diese Maßnahmen aufgehoben und die Krise explodierte.

Dilma hatte die Wahlen mit einer linken, antineoliberalen Rhetorik gewonnen, um dann aber eine neoliberal inspirierte Wirtschaftspolitik zu machen, die zudem wegen fehlender Legitimation und politischer Unterstützung zum Stückwerk geriet. Es ist ein aufschlussreiches Detail, dass der von Dilma zum Wirtschaftsminister ernannte Joaquim Levy nun ein hohes Amt in der Regierung Bolsonaro übernimmt.

Die beachtlichen sozialen Erfolge der Lula-Zeit wurden nun durch die aktuelle Erfahrung der Wirtschaftskrise in den Hintergrund gedrängt, insbesondere in den großen Städten, in denen die Arbeitslosigkeit besonders spürbar war.

2014 beginnt die sogenannte „Operation Lava Jato“ der Justiz – und damit rückt die Korruption in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Führende Unternehmer Brasiliens werden reihenweise verhaftet, genauso wie Politiker*innen aus allen an der Regierung beteiligten Parteien. Die Ermittlungen treffen keineswegs nur, aber eben auch die PT. Auch wenn es in den meisten Fällen, die die PT betreffen, nicht um persönliche Bereicherung ging, sondern um Zuwendungen für die Partei und die Finanzierung des Wahlkampfes, wird diese auch im Bewusstsein weiter Teile der Bevölkerung immer mehr mit der Korruption identifiziert. Daran hatte eine teilweise einseitig ermittelnde und auf die PT fixierte Justiz sicherlich einen Anteil.

Die PT baute schnell das Narrativ auf, das fast unschuldige Opfer einer politischen Verfolgung zu sein. Das garantierte zwar das Über-leben, blockiert aber bis heute Selbstkritik und die eigene Aufarbeitung, die damit der Justiz überlassen wurde. Die PT und die Linke haben die Sprengkraft der Korruptionsenthüllungen offensichtlich unterschätzt. Es gelang in der Öffentlichkeit, der PT das Etikett „korrupt“ anzuhängen, fatal für ein Partei, die einstmals angetreten war, für Ethik in der Politik einzustehen.

Aber Ermittlungen und mediale Kampagne trafen nicht nur die PT, sondern das gesamte politische System und bereiteten den Weg für Bolsonaro. Die in den vergangenen Jahrzehnten Brasiliens Politik hauptsächlich bestimmenden Parteien wie PT, PMDB und PSDB gingen schließlich zusammen unter. So war das auffallende politische Ergebnis der Entwicklungen seit 2013 das Aufkommen eines „Anti-PTismo“. Nur wenige Jahre nach dem triumphalen Ende der zweiten Präsidentschaft Lulas hatte sich ein großer Teil der brasilianischen Bevölkerung in Menschen verwandelt, die auf keinen Fall mehr die PT an der Regierung sehen wollten.

Dass Korruption und Wirtschaftskrise die entscheidenden, wenn auch bei weitem nicht die einzigen Momente dieser Entwicklung waren, belegen Umfragen. Anfang 2017 nannten 43 Prozent die Arbeitslosigkeit als Hauptproblem, gefolgt von Korruption (32 Prozent). Anfang 2018 gaben die Wähler*innen an, „Ehrlichkeit“ (87 Prozent) und „nie in Korruption verwickelt gewesen zu sein“ (84 Prozent) seien die wichtigsten Eigenschaften eines künftigen Präsidenten. Damit war ein Terrain geschaffen, auf dem die PT nur verlieren konnte.

All dies konnte aber die Popularität Lulas nicht völlig brechen und seine Verurteilung und Verhaftung mit fragwürdigen Begründungen ließ diese eher noch ansteigen. So führte Lula weiter in Umfragen für die Präsidentschaftswahlen und gleichzeitig sprach sich die Mehrheit der Befragten dafür aus, dass Lula im Gefängnis bleiben solle. Dies zeigt eine zutiefst gespaltene Gesellschaft. Zum einen das explosive Gemisch des „Anti-PTismo“, zum anderen die immer noch beachtliche Zustimmung für die PT und Lula.

Dies führte zu einem fatalen strategischen Irrtum. Die PT weigerte sich, in ein breites demokratisches Bündnis einzutreten unter Führung von Ciro Gomes, dem das Etikett „gemäßigter Linker“ anhängt und der unter Lula als Minister diente. Ciro Gomes wäre vielleicht in der Lage gewesen, das Lager des „Anti-PTismo“ aufzumischen und den Wahlkampf zu einem demokratischen Votum gegen Bolsonaro zu machen. Diese Möglichkeit wurde von der PT zurückgewiesen, sie vertraute darauf, die Popularität Lulas auf Haddad zu übertragen und so die Wahl zu gewinnen, lediglich im Bündnis mit der kleinen kommunistischen Partei PCdoB.

Der Gerechtigkeit halber muss eingeräumt werden, dass solch eine Perspektive keineswegs absurd war. Lange Zeit verlor Bolsonaro in allen Wahlsimulationen im zweiten Durchgang. Tatsächlich reichte ja auch die Popularität Lulas, den bislang weitgehend unbekannten Haddad in den zweiten Wahlgang zu bringen, mit großen Abstand vor Ciro Gomes. Während kein demokratisches Bündnis zustande kam, vereinigte Bolsonaro die Wütenden und Frustrierten zu einer Anti-PT-Front. Nicht der Anti-Bolsonaro gewann die Wahl, sondern der Anti-PTista.

Der Wahlkampf 2018 war grundlegend anders als alle vorherigen und öffnete damit ein neues Zeitalter in der brasilianischen Demokratie. Die immer wieder gerade von den Linken beschworene und kritisierte Macht des Medienkonzerns „Globo“ konnte die Wahl nicht entscheiden. Im zweiten Wahlgang standen sich zwei Kandidaten gegenüber, die beide nicht von „Globo“ unterstützt worden waren. Mehr noch, Bolsonaro wurde gewählt, obwohl er über überhaupt keine Fernsehzeiten verfügte. Viele erwarteten noch wenige Wochen vor den Wahlen einen Aufstieg von Geraldo Alckmin von der PSDB, der durch seine Wahlallianz mehr als die Hälfte der Fernsehzeiten erlangt hatte. Es war aber WhatsApp, das zum entscheidenden Medium dieser Wahlen wurde. Das ist ebenfalls ein Ausdruck der „Anti-System“-Wende dieser Wahl. Auch „Globo“ und die liberale Presse wurden zum Feindbild Bolsonaros und seiner Anhänger.

In der WhatsApp-Kampagne spielten Fake News eine große Rolle. Besonders wichtig waren dabei bewusst gefälschte Bilder und Nachrichten. So wurde aus einem Unterrichtsmaterial zu PT-Zeiten gegen Homophobie eine angebliche Propaganda für Homosexualität gemacht. In der Schmutzkampagne gegen die PT spielte die „moralische Agenda“ ein große Rolle und sollte offensichtlich dazu dienen, auch über den harten Kern der Evangelikalen hinaus Menschen von einer Wahl des PT-Kandidaten abzuhalten. In den WhatsApp-Gruppen verbreiteten sich ohne jede Möglichkeit der Gegencheckens die absurdesten Meldungen und Bilder. Die fatale Wirkung dieser Wahlkampfstrategie wurde vom demokratischen Lager zu spät erkannt.

Ein Aspekt des Wahlsieges von Bolsonaro verdient besondere Beachtung und Reflexion. Die PT und insbesondere Lula haben immer auf Ausgleich und gesellschaftlichen Konsens gesetzt. Sie haben bewusst einen anderen Weg als Hugo Chávez und Evo Morales gewählt und nie die demokratischen und rechtsstaatlichen Mechanismen infrage gestellt. Sie haben, teils sehr zum Frust der Linken, keine strukturellen Reformen vorangetrieben, sondern auf die Formel Wachstum mit Sozialpolitik gesetzt, also im Grunde ein gemäßigt sozialdemokratisches Programm verfolgt. All das hat den Aufstieg eines militanten „Anti-PTismo“ nicht verhindern können. Und Bolsonaro hat die Wahl gerade mit einer Radikalisierung von rechts gewonnen. Die Schlussfolgerungen daraus sind nicht banal und werden die Linken in den nächsten Jahren beschäftigen. War es zu viel oder zu wenig an Radikalität, die den Wahlsieg Bolsonaros ermöglichten?

Zur unfassbaren Absurdität des Wahlsieges von Bolsonaro gehört, dass die antisystemische Welle, auf der Bolsonaro gewählt wurde, nun zwei traditionelle Stützen des System gestärkt hat, die Militärs und die Unternehmer, das Kapital. Die sogenannten Märkte haben fast einhellig die Wahl Bolsonaros unterstützt. Das Wirtschaftsteam Bolsonaros ist eindeutig einer neoliberalen Strategie verpflichtet. Selbstverständlich wird dies schnell auch zu Widersprüchen und Enttäuschungen führen. Bolsonaro übernimmt das Land in schwieriger wirtschaftlicher Lage, muss Sparprogramme durchsetzen und hat Steuererleichterungen versprochen. Aber auf ein schnelles Scheitern Bolsonaros sollte man nicht setzen, das lehrt nicht zuletzt das Beispiel Trump. Die Möglichkeiten für Bolsonaro, Schaden anzurichten, sind immens.