ila

So geht die Befreiung der Erde

Kolumbien: Indigene Landbesetzungen gegen Großgrundbesitz im Cauca

Landbesetzungen sind auch in Kolumbien eine Art des Widerstands der ländlichen Bevölkerung gegen Großgrundbesitz und Agrarmultis. Das gilt insbesondere für die Nasa im Norden des Cauca. Sie nennen die Landbesetzungen „Befreiung der Mutter Erde“ und die Aktivist*innen Libertadores/as, also Befreier*innen. Ein Interview von Luis Ortiz und Jochen Schüller mit einer Libertadora.

Luis Ortiz
Jochen Schüller

Was bedeutet „Befreiung der Mutter Erde”?

Der Planet erwärmt sich Tag für Tag und das Leben erlischt. Für uns liegt die Ursache nicht in der „menschlichen Natur“, sondern im Kapitalismus, der alles ausbeutet und zerstört. Das ist die Hauptursache. Die „Befreiung der Mutter Erde“ ist ein Angriff auf die Wurzeln des Übels hier im Norden des Cauca. Wir wollen das Land aus den Händen der Monopole befreien, die es mit der Zucker- und Agrarkraftstoffindustrie versklaven. Die Befreiung bedeutet, das Zuckerrohr abzuschneiden und dafür Nahrungspflanzen anzubauen, Gemeinschaften des Lebens auf den Flächen zu gründen, die im Prozess der Befreiung sind, die Natur wieder wachsen zu lassen, damit Wasser und Tiere zurückkommen. Es bedeutet, die Erde wieder in Harmonie zu bringen mit den Menschen, die von ihr und für sie leben. Wir haben sieben Ansiedlungen oder „Befreiungspunkte“, wo nun Menschen leben, die ihr ursprüngliches Zuhause in den Bergen verlassen haben und in die heißen Ländereien der Ebene gekommen sind, um dem Kapitalismus die Stirn zu bieten und wieder Leben zu schaffen.

Wer nimmt daran teil?

Es ist nicht die gesamte Gemeinschaft der Indigenen und auch nicht die komplette Organisation; die Befreiung der Mutter Erde wird von einer kleinen Gruppe betrieben, Frauen, Männer, Kinder, Jugendliche und Alte der Nasa-Gemeinschaften im Norden des Cauca.

Wie hat alles angefangen?

Im Jahr 1971 beginnen die Gemeinschaften mit Landbesetzungen, wir nennen das Recuperaciones, also Zurückgewinnung. Sie greifen damit das Erbe von Quintín Lame auf, dem Nasa-Anführer, dessen Kampf den Weg bereitete für die Wiedererlangung unserer Territorien und unserer Würde. Seit der Gründung unseres indigenen Dachverbandes, des Consejo Regional Indígena del Cauca (CRIC), im Jahre 1971 in Toribio haben wir 120 000 Hektar Land wiedererobert, die als Resguardos, indigene Gebiete, an die legitimen Besitzer*innen zurückgingen. Im Jahr 2005 entsteht die Liberación de la Madre Tierra, die Befreiung der Mutter Erde, als Antwort auf die humanitäre, klimatisch-ökologische Krise des globalen Systems. Sie ist auch Antwort auf das fehlende Land für viele Nasa-Familien in den Resguardos. So sind wir im Jahr 2005 in die Finca „La Emperatriz“ im Landkreis Caloto eingedrungen. Die Besetzung war jedoch ein Fehlschlag, weil sie mit einem Abkommen mit dem kolumbianischen Staat endete, das nie umgesetzt wurde. Unsere Lehre daraus: Verträge nicht mehr zu akzeptieren.

Am 14. Dezember 2014 haben wir zum ersten Mal Land eines großen Kapitalisten besetzt. Incauca ist ein Unternehmen von Carlos Ardila Lülle, einem der reichsten Männer Kolumbiens und Mitglied der transnationalen Eliten. Incauca ist ein Imperium, das aus Zuckermühlen, Agrospritraffinerien und anderen Konzernen besteht, Softdrinkhersteller etwa oder dem Mediengiganten RCN.

Was sind die Vorstellungen der Befreier*innen?

Wir wollen die Erde von der Zuckerrohrmonokultur befreien, die das gesamte Tal des Cauca-Flusses in Beschlag nimmt. Wo heute Zuckerrohrplantagen sind, war früher tropischer Trockenwald. Wir befreien die Erde von den Pestiziden, die die Erde, die Luft und das Wasser verseuchen. Wir befreien das Wasser, das privatisiert wird, das in den Bergen entspringt und von der Agroindustrie verschlungen wird. Das ganz große Ziel ist, ausgehend vom Norden des Cauca, das natürliche Gleichgewicht wiederherzustellen. Das ist eine andere Form, die Liberacion de la Madre Tierra zu beschreiben. Daher erscheint es uns auch sehr wichtig, dass unsere Botschaft möglichst weit verbreitet wird. Wenn nicht jeder Zipfel dieser Erde ein Ort der Befreiung wird, werden wir sie nicht erreichen!

Wie viele Fincas und wie viele Hektar Land sind schon befreit?

Aktuell gibt es sieben Fincas, wo die Befreiung stattfindet, aber es werden mehr. Die Gemeinschaft leistet Widerstand und bis jetzt gewinnen wir die Auseinandersetzung. Bisher wurden rund 3000 Hektar Land befreit. Dort wächst jetzt kein Zuckerrohr mehr, sondern Nahrungsmittel- und Wildpflanzen. Die mit Zuckerrohr bepflanzte Fläche ist allerdings 330.000 Hektar groß!

Wie läuft die Liberación konkret ab?

Wir schneiden das Rohr ab, das für die Zucker- und Agrospritproduktion gepflanzt wurde. Dort pflanzen wir dann Nahrungsmittel. Doch einen großen Teil unseres Anbaus haben die staatlichen Sicherheitskräfte kurz vor der Ernte zerstört. Andere Ernten haben wir gemeinschaftlich verzehrt. Auf den Fincas haben wir kleine Siedlungen für mehrere Familien geschaffen, die nun dort anbauen und Vieh halten. Die meiste Zeit sind wir aber damit beschäftigt, die Angriffe und Räumungsversuche der staatlichen Sicherheitskräfte abzuwehren.

Wie reagieren Regierung und Agroindustrie?

Das Ziel der bisherigen Regierung Santos war die Zerschlagung der Liberación mit einer mehrgleisigen Strategie: zunächst die brutale, militärische Repression, die Verbrennung unserer Nahrungsmittel, der Ernten, des Saatguts, der provisorischen Häuschen und von allem, was sie vorfinden, um die Gemeinschaft der Liberación zu vertreiben. Bei mehr als 300 Angriffen haben sie acht Menschen getötet und über 600 verletzt. Dann die juristische Verfolgung mit mehr als 200 Angeklagten sowie die mediale Strategie mittels der Stigmatisierung der Nasa-Gemeinschaften und der Libertadores/as. Schließlich die institutionelle Strategie, indem sie uns ein Abkommen anbieten und Projektgelder, wenn wir den Kampf der Liberación aufgeben.

Es gibt mehr als 1200 unterzeichnete Abkommen mit der indigenen Bewegung, die die Regierung nicht umgesetzt hat, unter anderem die Wiedergutmachung für das Massaker an den 20 Nasa im Jahr 1991 in der Hacienda „El Nilo“ in Caloto. Bis jetzt verhandeln wir nicht über die Liberación de la Madre Tierra, weil das Leben keine Ware ist. Wenn es irgendwann zu Verhandlungen kommen sollte, dann aus den einzelnen Fincas heraus und auch nur mit dem einzig akzeptablen Ergebnis der Freiheit für unsere Mutter Erde. Wir haben keine Eile, wir schreiten langsam voran, weil der Weg weit ist. Wir werden die Fincas nicht verlassen! Es gab schon mehrere Verhandlungsversuche des Staates, aber wir sind nicht gewichen und werden auch nicht weichen!

Die Liberación läuft nun schon seit Jahren, woher nehmen Sie die Energie weiterzumachen?

Die Kraft gibt uns Mutter Erde, unsere Mayores (die Alten und Weisen, Anm. d. Red.), unsere Spiritualität und der Traum, unsere Mutter Erde frei zu sehen. Dieser Kampf hat Wurzeln, die 480 Jahre alt sind. Mit so tiefen Wurzeln ist die Kraft auch groß!

Wie hat sich die Situation seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags verändert?

Es gibt mehr Repression durch die staatlichen Sicherheitskräfte. Mit dem Frieden kommt das Geld, auch weil der Frieden für manche ein Geschäft ist. Es gibt jetzt viele Angebote für Projekte von den Industriellen und Ausbildung in Workshops. Das machen sie, um uns von unserem Kampf zu entfernen. Sie versuchen mit vielen Mitteln, uns zu spalten, damit wir die Fincas verlassen. Dennoch bleibt die Liberación standhaft und wir verlassen die Fincas nicht. Im Gegenteil, wir beginnen an weiteren Orten damit, das Zuckerrohr abzuschneiden und Nahrungsmittel zu pflanzen. Jetzt, wo die Guerilla kein Risiko mehr und nicht mehr der interne Feind ist, rücken die starken und authentischen Kämpfe ins Visier der Macht.

Was ist die Perspektive für die Zukunft?
Es geht darum, Wurzeln zu schlagen. Das wird es uns ermöglichen, Mutter Erde zu befreien. Zugleich müssen wir uns umarmen, uns mit anderen Bewegungen und Gemeinschaften zusammentun, unsere Zweige ausstrecken und verlängern. Niemand kann sich alleine befreien! Das zeigt sich auch in unserer Agenda: Gemeinsames Zuckerrohrschneiden und Säen, lokale Treffen der Liberación, Rundreisen durch die Welt, Kommunikationstreffen, politische Schule der Liberación, internationale Treffen der Liberación de la Madre Tierra sowie der „Protestmarsch für Nahrung“.

Wie ist die Erfahrung mit Internationalist*innen?

Diejenigen, die kamen, haben die Regeln akzeptiert, die sich jeder Ort der Befreiung selbst gibt. Wir akzeptieren nur Leute, die auf Empfehlung von befreundeten Bewegungen hierher kommen. Für uns sind die internationalen Beziehungen fundamental. Die Nasa waren schon immer offen für Beziehungen nach außen. Die Liberación de la Madre Tierra ist selbst Frucht der vielen freundschaftlichen Verbindungen in alle Winkel der Welt.

Wie können Menschen an anderen Orten der Welt solidarisch sein mit der Liberación?

Helft uns, unsere Botschaften und Nachrichten zu verbreiten, die auf unserer Website zu finden sind: www.liberaciondelamadretierra.org. Macht Demonstrationen in euren Ländern, wenn die Regierung unseren Kampf angreift. Schafft Gelegenheiten, damit wir unseren Kampf vorstellen können: Universitäten, Seminare, Vorlesungen etc. Wir organisieren auch internationale Treffen der „Befreier*innen der Mutter Erde“ aus aller Welt; hier laden wir alle ein, die zur Verteidigung des Wassers, der Erde, des ursprünglichen Saatguts kämpfen. Oft haben diese Leute kein Geld, um herzukommen und von ihren Kämpfen zu erzählen, weil es autonome Kämpfe sind, die kein Geld von der Regierung bekommen. Hier könnten die Reisekosten übernommen werden. Oft müssen wir „Befreier*innen“ in andere Landesteile oder Länder schicken, damit sie über die Liberación de la Madre Tierra erzählen. Auch dafür fehlt uns Geld. Und man kann uns mit Matratzen, Plastikplanen und Wasserbehältern helfen, weil die polizeilichen Sondereinheiten diese Gegenstände als erstes bei ihren Angriffen verbrennen. Die beste Form der Unterstützung ist es, jeden Winkel der Welt in einen Ort der Liberación zu verwandeln, selbst Kämpfe zu führen, die nicht aufhören, sondern als Lebensform fortbestehen. Der Kapitalismus wird es schwer haben, starke und würdevolle Kämpfe und Bewegungen zu zerschlagen.

Vorabdruck aus der Broschüre „Land, Kultur und Autonomie! Indigene Bewegung im Cauca (Kolumbien), hrsg. von Zwischenzeit