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Drei Sprünge zur Freiheit

Interview mit Aldana Gerez Gigena über die Murga Porteña

Meine ersten Erfahrungen mit der Murga Porteña1 habe ich mit 16 Jahren bei meinem Schüleraustausch in Argentinien gemacht. Nur einen Tag nachdem ich in dem kleinen Touristenort Las Grutas an der Küste Patagoniens angekommen war, nahmen mich meine Gastschwester und ihre Freundinnen mit zur Probe. Dort lernte ich Aldana Gerez Gigena, die Koordinatorin der Gruppe, kennen. Beim Thema Tanz musste ich sofort an sie denken. Damals schon habe ich erkannt, dass Murga mehr als nur eine Art von Straßentheater ist, das Aufführungen und Umzüge im öffentlichen Raum veranstaltet. Es ist eine energetische und leidenschaftliche Ausdrucksform von Gemeinschaft und Lebensfreude. Im Interview erzählt Aldana von den Anfängen der Murga-Truppe in Las Grutas/San Antonio Oeste (Las Grutas und San Antonio Oeste sind zwei Kleinstädte, die in einer Symbiose miteinander leben; während sich im Sommer das Leben im Touristenort Las Grutas abspielt, verlagert es sich im Winter nach San Antonio). Außerdem veranschaulicht sie die soziokulturelle Bedeutung, welche die Murga Porteña als Protestform in der argentinischen Gesellschaft hat.

  • 1. Murga Porteña, weil sie ihren Ursprung in Buenos Aires hat, wo die Menschen Porteños genannt werden. Es gibt Murga auch in Uruguay, die sich aber in einigen Punkten unterscheidet
Wiebke Adams

Was verbindet dich mit der Murga?

Ich bin Schauspielerin und Theaterregisseurin und bilde mich gerade in Szenenregie für Oper weiter. Die Murga war schon immer ein Teil meines Lebens. Seit ich jung war, sind wir immer zu jedem Corso (Umzug) im Viertel gegangen. Jeder Club und jede Nachbarschaftsorganisation präsentierte ihren Wagen. Wir spielten mit Wasser, Kunstschnee und Luftschlangenspray, während die Murgas vorbeizogen. Sie tanzten zum Rhythmus ihrer Lieder und Trommeln auf den Straßen und Bürgersteigen, in ihren mit Pailletten bestickten Kostümen.

Nachdem ich mein Studium an der Theaterhochschule von Buenos Aires beendet hatte, gründete ich mit zwei Kommilitonen (Paloma Tubio und Guillermo Riegelhaupt) eine Theatergruppe namens „El Burbujón Teatro“ und wir beschlossen, nach Patagonien zu ziehen. Als wir in Las Grutas in der Provinz Río Negro ankamen, waren die Anwohner*innen sehr aufgeschlossen für neue Projekte. Die Bibliothek von Las Grutas, die Stadtverwaltung und die Einwohner*innen von Las Grutas und San Antonio Oeste haben uns die Türen schnell geöffnet. Nach zwei Jahren, in denen wir dort gelebt und unsere Theatergruppe weiterentwickelt hatten, ergab sich die Möglichkeit, einen offenen Raum für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu schaffen. So beschlossen wir als Gruppe einen Murga-Workshop anzubieten und luden die Nachbarn dazu ein. So wurde die Truppe „Cornalitos Kamikaze“1 ins Leben gerufen, die ich 13 Jahre lang zusammen mit meinen Kollegen koordinieren durfte. Die Truppe besteht bis heute fort, auch wenn Paloma, Guillermo und ich nicht mehr in Las Grutas leben. Sie wird nun von jungen Menschen koordiniert, die in dieser Gemeinschaft aufgewachsen sind. Das ist ein wichtiger Aspekt der Murga, das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Zusammenarbeit, die von der Kunst motiviert ist.

Was sind die Ursprünge der Murga? Welche Rolle spielt der Tanz in der Murga?

Über den Ursprung der Murga in Argentinien ist wenig bekannt, denn es gibt kaum schriftliche Quellen zum Thema. Es wird allgemein gesagt, dass sie mit den Spaniern nach Lateinamerika kam und aus der Kolonialzeit stammt, der Epoche der schwarzen und indigenen Sklaven. Die Legende besagt, dass die charakteristischen Rhythmen der Murga Porteña symbolisch durch die Rumba mit der Sklaverei verbunden sind. Dabei sticht vor allem der Rhythmus der sogenannten Matanza heraus. Zu diesem tanzt man erst gebückt, danach findet eine Befreiung statt, die ihren Höhepunkt in drei Sprüngen erreicht. Los tres saltos sollen choreografisch einen Wendepunkt hin zur Freiheit darstellen. Nach den drei Sprüngen wird die Choreografie viel freier. Mit Armen und Beinen geben sich die Tänzer ihren Impulsen hin und zeigen ihre Fähigkeiten.2 Das Künstlerische und das Soziale werden gemeinsam artikuliert. Murga ist eine künstlerische Bewegung und somit eine kollektive ästhetisch-ideologische Ausdrucksform. Außerdem trägt sie soziale Forderungen an die Öffentlichkeit und ist aus dem Bedürfnis heraus entstanden, sich frei auszudrücken.  Dabei bedient sie sich verschiedener künstlerischer Formen wie Tanz, Musik, Poesie, Theater, Gesang und bildender Kunst, mit dem Ziel, einem bestimmten Barrio (Stadtviertel) oder einer bestimmten Gemeinschaft eine Stimme zu geben. Dadurch erschafft sie einen Zusammenhalt und eine eigene Identität, in deren Rahmen man über politische und soziale Themen reflektieren kann.

Welche Instrumente werden gespielt?

Die bekanntesten Instrumente sind die Bombo con Platillo3 und Snare-Drum. Meistens kommen noch Zurdo, Repique, Trompeten und Gitarre hinzu. Die Trillerpfeife ist auch ein charakteristisches Instrument. Jede Murga hat eine eigene Identität und je nach Bedürfnis der jeweiligen Gruppe werden verschiedene künstlerische Formen integriert und Rhythmen neu interpretiert.

Welche Bedeutung hat die Murga innerhalb der argentinischen Gesellschaft?

Sie ist sehr wichtig. Spontane und unabhängige Zusammenschlüsse sind immer gefährlich für die Regierenden, denn sie sind Keimzellen für Ideen, die unsere Realität infrage stellen. Während der Diktatur hat man versucht, die Murga zum Schweigen zu bringen, aber das ist nie vollständig gelungen. Wir mussten zwar viele Jahre kämpfen, bis der Karneval wieder als Feiertag anerkannt wurde4, aber trotzdem haben sich die Murga-Truppen nie ganz aufgelöst. Sie sind ein Raum des Widerstands.

Wird die Murga in Zeiten der sozialen und wirtschaftlichen Unruhe noch relevanter?

Jede spontane soziale Bewegung hat eine enorme Kraft, aber ich kann noch nicht abschätzen, wie viel bewussten Einfluss die Murga im Moment haben kann. Das wird sich erst mit der Zeit zeigen. Ich denke aber, dass sie einen Raum bietet, der sich der Beschneidung unserer Rechte und der Unterdrückung von Seiten der Medien entzieht.5

Wie finanziert sich eine Murga-Truppe?

Das Wunderbare an der Murga ist, dass es selbstorganisierte Gruppen sind, die ihre finanziellen Mittel eigenständig generieren. Einfallsreichtum ist dabei aber weit wichtiger als Geld. Die Proben finden in Kulturzentren oder Clubräumen statt, aber jeder öffentliche Park oder wenig befahrene Straßen werden auch gerne genutzt. Bei unserer Murga war es eine außergewöhnliche Situation, denn sie entstand aus einem städtischen Projekt und wurde immer von der Stadt mitfinanziert. Dennoch haben wir es geschafft, uns von parteipolitischen Akten fernzuhalten. Und wir wurden durchaus angefragt, doch jede Aufführung und jedes Mitwirken der Murga haben wir gemeinsam besprochen und per Mehrheit beschlossen. Wir haben uns niemals irgendwelchen Zwängen gebeugt. An Feierlichkeiten der Ortschaft, der verschiedenen Nachbarschaften oder solidarischen Veranstaltungen haben wir teilgenommen oder selber Aufführungen organisiert. Wir konnten uns auch deshalb aus den politischen Angelegenheiten raushalten, da wir mit der Zeit eine große Bedeutung für die Gemeinschaft von Las Grutas, San Antonio Oeste und Puerto del Este erlangten. Teilweise hatten wir über 100 Mitglieder. Das bedeutet, dass auch viele verschiedene Familien mitwirkten. Dadurch wurde ein wichtiger Raum innerhalb der Gemeinde geschaffen.

PS  Man merkt, dass Aldana bewusst versucht, weniger auf die, wie sie es nennt, urbanen Legenden einzugehen, die über die Entstehung der Murga erzählt werden, denn es gibt für sie keine wissenschaftlichen Belege. An eine Geschichte erinnere ich mich noch, die mit den bunten Kostümen, die oft wie Sakkos oder Anzugjacken geschnitten sind, zusammenhing. Diese kämen daher, dass die Sklaven in einer Art Befreiungsschlag die Sakkos ihrer Herren angezogen hätten, aber falschherum mit dem bunten Inlay nach außen, und so durch die Straßen getanzt seien. Mag sie auch „nur“ eine Geschichte sein, stellt sie doch die Bedeutung der Murga gut dar. Denn es geht darum, auszubrechen und sich selbstorganisierte Freiräume zu schaffen. Und darin werden alternative Diskurse geschaffen, die sich den staatlichen widersetzen und die Gemeinschaft fördern.

  • 1. Cornalitos sind kleine Fische, typisch für die Region
  • 2. Ein anderer Aspekt ist der Flameo, der sich beim Tanzen als Zittern in den Beinen äußert. Hier ein Beispiel für eine Matanza: www.youtube.com/watch?v=lVpwSJpFejM
  • 3. Trommel mit einem kleinen klangvollen Becken, das oben an ihr befestigt ist
  • 4. 1976 wurde der Feiertag von der Diktatur abgeschafft; 2010 wurde er unter Cristina Kirchner wieder eingeführt im Rahmen einer Initiative zur Wiederherstellung der kollektiven Identität
  • 5. In Argentinien berichten die öffentlichen Medien oft sehr einseitig und polemisch

Das Interview führte Wiebke Adams im Januar 2019 per E-Mail.