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Ein Tänzer und Kämpfer

Filmbesprechung: „Yuli“ von Icíar Bollaín
Verena Schmöller

Yuli ist sein Spitzname. Die Rede ist von Carlos Acosta, dem international berühmten Balletttänzer und Choreografen aus Cuba, der als „erster schwarzer Romeo“ in die Geschichte des klassischen Balletts einging und als „weltbester Tänzer seiner Generation“ bezeichnet wurde. Sein Vater hatte ihn immer so genannt: Yuli, Sohn des Ogún, Orisha (afrocubanischer Gott) des Eisens und der Krieger. Letztendlich war und ist auch Carlos Acosta ein Kämpfer, ein Kämpfer für seine Selbstbestimmung, für sein Land, für seine eigene Geschichte.

Der Film, die dritte Zusammenarbeit der spanischen Regisseurin Icíar Bollaín („Und dann der Regen“) und ihres Lebensgefährten, des Drehbuchautors Paul Laverty, ist ein ganz besonderes Biopic, weil er die Geschichte von Carlos Acosta nicht auf die herkömmliche Weise filmischer Biografien vermittelt, sondern auf mehreren Erzählebenen eine Lebensgeschichte erzählt, die vom Leben und der Autobiografie Acostas inspiriert wurde.

Carlos Acosta (der schon einige Filmerfahrung hat) spielt sich im Film unter anderem selbst. Er spielt den Carlos Acosta der Gegenwart und mit diesem beginnt der Film. „Yuli“ setzt ein im Havanna der Gegenwart und begleitet den etwa 40-jährigen Carlos Acosta zu den Proben zu einer Neuproduktion. Zusammen mit seinem Ensemble „Acosta Danza“ probt er das Stück Yuli ein, in dem er Szenen seines Lebens in Tanz umsetzt. Und schon allein am Titel des Tanzstücks im Film wird deutlich: Tanz und Film sind eng verzahnt.

In Rückblenden erzählt der Film aus dem Leben des Tänzers: als Kind in den 80er-Jahren (eindrucksvoll gespielt von Edilson Manuel Olbera Núñez) und als junger Erwachsener in London (Keyvin Martínez), immer auch angereichert durch Originalfilmmaterial, das verschiedene Auftritte von Carlos Acosta zeigt. In kleinen exemplarischen Episoden wird die Entwicklung vom Straßenjungen hin zum besten Tänzer der Welt erzählt. Gegen seinen Willen meldet Vater Pedro (großartig: Santiago Alfonso) seinen neunjährigen Sohn in der staatlichen Ballettschule in Havanna an, was für die Familie auch den Vorteil hat, dass Ausbildung und Verpflegung für den Schüler umsonst sind. Carlos aber will eigentlich lieber Fußballspieler – „so einer wie Pelé“ – werden. Er schwänzt den Unterricht und fliegt schließlich aufgrund seines Ungehorsams von der Schule. Seine Eltern schicken ihn daraufhin auf ein Ballettinternat aufs Land in der Provinz Pinar del Río, wo er – nach einer langer Zeit der Einsamkeit und des Leidens am „Tanzen-müssen“ – schließlich seine Initiation erfährt und anfängt, hart zu trainieren.

Mit 16 Jahren gewinnt Carlos die Goldmedaille beim renommierten Prix de Lausanne und wird ans „English National Ballet“ eingeladen. Dort allerdings fühlt er sich wieder einsam und fremd und sehnt sich ins heimatliche Cuba zurück. Als er wegen einer schweren Verletzung pausieren muss, kehrt er zurück auf die Karibikinsel und wird von Mutter, Geschwistern und Freunden herzlich empfangen. Nur der Vater ist enttäuscht, verärgert und der Meinung, er solle seine Familie endlich vergessen und seine Chancen nutzen. Es kracht heftig zwischen Vater und Sohn und Carlos begehrt auf. Er will in Havanna bleiben und setzt damit seine Karriere aufs Spiel, wäre da nicht seine Mentorin, die Ballettlehrerin Chery (Laura de la Uz), die immer zu ihm hält, ihm aber auch immer wieder kräftig in den Hintern tritt. So bleibt Carlos doch dem Ballett treu, tanzt in Houston und schließlich am „Royal Ballet“ in London. Er ist einer der gefragtesten Meistertänzer seiner Zeit.

Die Besonderheit von „Yuli“ liegt in der einzigartigen Verknüpfung von Biopic und Tanzfilm. Tanz und Film präsentieren gemeinsam und in kongenialer Zusammenarbeit das Leben, die Gedanken- und Gefühlswelt von Carlos Acosta. Wenn der kleine Carlos seinen strengen Vater beim Besuch im Gefängnis mit unschuldigen Augen, aber voller Dreistigkeit anlügt und daraufhin eine Tanzszene folgt, in der sich zwei Tänzer bekämpfen und einer den anderen verprügelt, muss man im filmischen Rückblick die Schläge des Vaters nicht zeigen. Viel intensiver ist, was Carlos Acosta als erwachsener Tänzer in seiner Erinnerung findet und in einer kunstvollen Choreografie auf die Bühne bringt.

Die Tanzszenen wurden von María Rovira choreografiert, die seit der Gründung von „Acosta Danza“ eng mit Acosta zusammenarbeitet, und haben auf der Leinwand eine gewaltige Wucht, und das auch durch die großartige Filmmusik von Alberto Iglesias. Sie drücken den Schmerz, die Verzweiflung, aber auch die Einsamkeit und die Sehnsucht eines Menschen aus, der zu einem Leben gezwungen wird, das er eigentlich anders gelebt hätte. Carlos Acosta will ein normales Leben führen, bei seiner Familie sein, in seiner Heimat bleiben. Und dann begeistert er sich doch für den Tanz und arbeitet hart. Er spürt „die ganze Last Cubas auf seinen Schultern“, dient als Aushängeschild seinem Land und wird als internationaler Star hofiert. Seine Träume und seine Sehnsucht gibt er aber nicht auf, sodass er immer wieder nach Cuba zurückkehren und schließlich seinem Land auch auf eine andere Weise dienen wird. Damit ist „Yuli“ auch ein Film über Heimat und über Identität: Was bin ich? Was kann ich geben? Was kann ich sein?

Andere Tanzszenen scheinen auf den ersten Blick aus dem Zusammenhang gerissen, wenn Acosta beispielsweise eine Szene mit einem gewissen Smedley D. Butler und militärischem Rhythmus einstudiert. Diese Tanzszene ist zwar weniger intim, hat aber eine ebenso kraftvolle Wirkung und durchaus mit dem Leben des Tänzers zu tun. Schließlich hatte Generalmajor Butler vor und während des Ersten Weltkriegs großen Einfluss auf die gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Zustände in Mittelamerika. „Yuli“ stellt das individuelle Schicksal des Einzelnen immer in den Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse, auf der Ebene des Tanzes ebenso wie in der Handlung des Films. Acostas Leben ist untrennbar mit der Geschichte Cubas verbunden, egal ob es dabei um die 350-jährige Geschichte der Sklaverei auf der Insel geht oder um die Einflussnahme der USA auf das Leben der Insel. Auch von den balseros werden Originalfilmaufnahmen gezeigt. Carlos sitzt in seiner Londoner Wohnung und sieht in den Nachrichten die vielen Menschen, die Cuba auf einem Floß in Richtung USA verlassen; zurück in seiner Heimat erfährt er dann von einem seiner besten Freunde, dass auch er dabei sei, ein Boot zu bauen, und will ihn aufhalten.

Das Drehbuch orientiert sich lediglich am Leben von Carlos Acosta und dessen Autobiografie „No way home: A Cuban Dancer’s Story“ aus dem Jahr 2007. Es übergeht viele Ereignisse aus der literarischen Vorlage und konzentriert sich auf einzelne Aspekte, erfindet auch bestimmte Dinge hinzu. Den Filmemachern war es nicht wichtig, das Leben detail- und datengetreu nachzuerzählen, das thematisiert Acosta auch im Film selbst. Im Zentrum steht die Geschichte und die Frage, wie er sie am Ende vielleicht selbst versteht und fühlt. So antwortet er auf die Frage seiner Tänzer: „Aber auch, wenn es nicht passiert ist, bleibt die Frage: Ist es deshalb nicht wahr?“

Für mich ist der Film schon jetzt einer meiner Lieblingsfilme des Jahres 2019, eben weil er so viele Möglichkeiten zum Nachdenken anbietet – über Themen wie Heimat und Fremde, Außenseitertum, Beruf und Berufung, aber auch über die Machart und Erzählweise von Filmen, über die Genres Biopic und Tanzfilm, über den Tanz als Kunstform und über den Film als Kunstform. Und darüber, was einen Kämpfer wirklich ausmacht.

Icíar Bollaín, Yuli, E/GB/CUB/FR 2018, 110 Minuten