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Das Scheitern der nie ernst gemeinten Alternative zum Kapitalismus

Ein neues Buch zu Venezuela erklärt vieles
Nina Hagen

Der Untertitel von Stefan Peters Buch „Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela – Aufstieg und Fall der Bolivarischen Revolution von Hugo Chávez“ deutet ein politisches Problem an: Auch das unbestreitbare Charisma des systematisch zum Übermenschen aufgebauten Präsidenten Hugo Chávez konnte selbstverständlich die grundsätzlichen Strukturen der venezolanischen Ökonomie nicht beeinflussen. Mit seinem Tod erlosch spätestens 2013 auch der subjektive Schwung, den Chávez dem Projekt „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in paternalistischer Manier aufgedrückt hatte.

Angesichts der zugespitzten Auseinandersetzung um Venezuela zwischen einem klassischen Krieg niedriger Intensität der USA und ihrer Verbündeten wie der BRD einerseits und bedingungsloser antiimperialistischer Solidarität der traditionellen Linken andererseits liest sich Peters‘ Analyse abseits dieser angeblich alternativlosen Gegenüberstellung wohltuend nüchtern. Auch wenn er grundsätzliche Sympathie mit dem Versuch des chavismo erkennen lässt, den venezolanischen Massen zum ersten Mal eine politische Stimme und zum Beispiel eine halbwegs ordentliche Gesundheitsversorgung zu verschaffen, macht ihn das Wortgeklingel des Sozialismus des 21. Jahrhunderts nicht taub. Er bleibt bei den Realitäten der venezolanischen Gesellschaft, die auch und besonders nach der Wahl von Chávez zum Präsidenten von der Ölrente abhängig blieb.

Peters will „eine Gesamtschau der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und ökologischen Dynamiken der Bolivarischen Revolution“ vorlegen und fragt „nach den zentralen Lehren für zukünftige emanzipatorische Projekte“ (S. 9).

Im zentralen Kapitel zur Rentenökonomie (S. 105ff) weist er darauf hin, dass sich die sozialen Erfolge des chavismo (ab 2002 mit zusehends abnehmender Tendenz bis 2013) bzw. die sich verschärfende ökonomische und soziale Krise nicht nur mit dem Anstieg bzw. dem Verfall der Erdölpreise erklären lassen (S. 117). Rückläufige Fördermengen und sinkende Weiterverarbeitungskapazitäten aufgrund ausbleibender Investitionen in Förderanlagen und Raffinerien spielen dem Krisenverlauf in die Hände. Den von der Maduro-Regierung unermüdlich ins Feld geführten (und ab Sommer 2017 mit Finanzsanktionen tatsächlich geführten) Wirtschaftskrieg gegen den Sozialismus des 21. Jahrhunderts lässt Peters nicht als entscheidende Ursache gelten. Er betont dagegen, der chavismo habe zwar programmatisch immer wieder die Notwendigkeit einer Diversifizierung der venezolanischen Ökonomie beschworen, diese aber nie realisiert. Das lässt sich u.a. mit der Praxis des chavismo erklären, die Massen immer wieder kurzfristig mit Sozialprogrammen aus einem (immer noch kleinen) Teil der Erträge des Ölexports einzubinden und damit – als Voraussetzung für eine bessere Zukunft – seine politische Macht zu erhalten. Die Erdölindustrie habe in Venezuela ihre Ausnahmestellung bewahrt und kaum Verbindung mit der restlichen Ökonomie entfaltet (S. 120). Maximal ein Prozent der Bevölkerung schaffe im Ölsektor auf diese Weise den überwiegenden Reichtum des Landes.

Spiegelbildlich dazu ist das Scheitern des Versuchs zu sehen, einen alternativen Wirtschaftssektor zu schaffen. Viele Pläne blieben leere Worte (S. 123), auch in der Landwirtschaft versickerten Subventionen oder wurden in private Hände umgeleitet. Das ist nicht wirklich erstaunlich in einer Gesellschaft, in der mehrere Generationen mit „Landwirtschaft“ nichts mehr zu tun haben wollten und 90 Prozent der Menschen in den Städten leben. Schon 2012 erklärte der damalige Agrarminister den Import von Lebensmitteln zum Schwerpunkt der chavistischen Politik, nachdem die Pro-Kopf-Agrarproduktion trotz vieler Investitionen und Programme gesunken war (S. 132). Auch in anderen Sektoren versuchten politische Initiativen vergeblich, mit dem Aufbau einer kommunalen Wirtschaft die „endogene Entwicklung“ Venezuelas voranzutreiben: „Bei wenigen Ausnahmen konnten sich die Betriebe nicht von der Abhängigkeit staatlicher Protegierung befreien. Politische Emanzipationsprozesse werden dadurch sicherlich nicht gefördert.“… Oftmals stellte „der Zugriff auf einen Teil der zu Staatshilfen konvertierten Renteneinnahmen den wesentlichen Grund für das Engagement in der kommunalen Wirtschaft“ dar (S. 135 f). Ähnliches passierte bei den Kooperativen, deren Zahl während der Phase großzügiger Anschubfinanzierung explodierte, wohinter sich aber meistens lediglich Kleinunternehmen unter dem neuen Logo der drei Pinien verbargen.

Peters bleibt immer höflich im Ton, aber deutlich in der Sache: Den Versuch Maduros, trotz dieser ernüchternden Bilanz die kommunale Wirtschaft noch 2016 zum „Schlüssel für den Sieg im … Wirtschaftskrieg“ zu überhöhen, nennt er eine „diskursive Verbeugung vor einem Teil der besonders aktiven chavistischen Basis...“. (S. 136) Weniger elegant ausgedrückt: inhaltsleere Propaganda, die selbst die oben genannte Basis in ihrer täglichen sozialen Realität ratlos zurücklassen muss.

Peters charakterisiert das Modell des chavistischen Kapitalismus folgendermaßen: „Indem der Staat einen Großteil der Erdölrente konzentriert, basiert ökonomischer Erfolg in Venezuela nicht primär auf Innovation und Produktivitätssteigerungen, sondern auch und vor allem auf dem privilegierten Zugang zum Staat. Dies wurde als Konsequenz der Einführung von Devisenkontrollen und der Etablierung eines Systems der Beantragung und Zuweisung von überbewerteten Dollar zu präferentiellen Wechselkursen nochmals potenziert und hat eine Vielzahl von Möglichkeiten der Bereicherung jenseits jedweder produktiver Aktivitäten geschaffen. Die Aneignung eines Großteils der Renteneinnahmen durch regierungstreue Unternehmer stellt dabei kein Alleinstellungsmerkmal des Chavismus dar.“ (S. 151)

In der Ära des chavismo hat also vor allem das Kapital aufgrund seines Zugangs zum billigen Dollar profitiert. Die wichtigsten Autokonzerne erhielten beispielsweise zwischen 2004 und 2012 ca. 15 Milliarden verbilligte Dollar zugewiesen, das heißt mehr oder weniger geschenkt (S. 142), und allein zwischen 2003 und 2013 verschwanden 270 Milliarden Dollar durch Kapitalflucht vor allem aus dem Importbereich (S. 145). Die überall gelobte Sozialpolitik des chavismo hat über die misiones zwar auch die „historisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen“ erreicht und ihnen in der Phase zwischen 2003 und 2008 vorübergehend „spürbare Verbesserungen ihrer materiellen Lebensbedingungen“ beschert. Mit dem Kriseneinbruch 2008, also noch zu Lebzeiten des comandante supremo, und vor allem mit den sinkenden Ölpreisen ab 2013 führte die grundsätzliche Kapitalfreundlichkeit der Regierung zu einer erneuten langsamen, aber stetigen Verarmung der Massen. An eine ernstzunehmende Umverteilung hat sich der chavismo nicht herangetraut, direkte Steuern wurden zum Beispiel kaum eingetrieben, dafür aber die (alle gleich treffende) Mehrwertsteuer erhöht.

Ab 2013 wurden bei rasant sinkenden Staatseinnahmen die bereits während der Chávez-Ära existierenden strukturellen Probleme massiv sichtbar: Autoritarismus auf allen Ebenen, massive Korruption in den Führungsetagen der Sozialistischen Einheitspartei, in Staatsapparat und Militär sowie eine grundsätzlich kapitalfreundliche Wirtschaftspolitik als unausgesprochene Voraussetzung für die Finanzierung des Wohlfahrtsstaats. Ab 2016 musste der venezolanische Staat seine Politik durch soziale Notprogramme, vor allem die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, abfedern. Viele Berichte und Erfahrungen weisen darauf hin, dass „politische Loyalität zur Regierung bei der Verteilung entsprechend honoriert und politische Gegner der Regierung benachteiligt werden“. (S. 172). Selbst Ideologen des chavismo behaupten, dass nur 60 Prozent der Bevölkerung (also 18 von 30 Mio.) in den Genuss dieser hochsubventionierten Lebensmittelpakete kommen. Auch wenn wir diese nach allen Informationen übertriebenen Zahlen ernst nehmen, bleibt ein gravierendes politisches Problem: ein Großteil der Bevölkerung wird so unmittelbar zum Spielball der großzügigen humanitären Hilfe des Sozialismus und damit zu seinen Bittstellern.

Inzwischen tut die Maduro-Regierung fast alles, was im Handbuch des Neoliberalismus zu finden ist, um an der Macht zu bleiben: Die Zentralbank verkaufte an Goldman Sachs Anleihen des staatlichen Ölkonzerns PDVSA in Höhe von 2,8 Mrd. $, um sofort 900 Mio. $ für unmittelbar fällige internationale Kredite zu bekommen. In einer riesigen Sonderwirtschaftszone werden unter Militärkontrolle Gold, Diamanten und Coltan abgebaut und als Alternative zur einseitigen Abhängigkeit vom Öl propagiert. PDVSA ersparte kürzlich einer US-Firma in einem Joint-venture-Vertrag die Öl-Lizenzgebühren, und als Bonbon zum Gelingen dieses Geschäfts wurden die venezolanischen Arbeitsgesetze weitgehend außer Kraft gesetzt.

Auch das „Rettungsprogramm“ des von der US-Botschaft aufgebauten Alternativ-Präsidentendarstellers Guaidó umfasst nur zwei Buchstaben: Öl. Dahinter stehen die strategischen Interessen jeder US-Regierung an den riesigen Reserven im Land und die neueren Ansprüche Chinas und Russlands, die massiv investiert und dafür die Rohstoffe Venezuelas als Pfand genommen haben.

Die Antworten auf die zu Beginn gestellte Frage nach den „zentralen Lehren für zukünftige emanzipatorische Projekte“ bleiben, wenig überraschend, eher allgemein: „Das Scheitern der Vertiefung demokratischer Partizipationsmechanismen in Venezuela [sollte] Warnung sein, dass von oben dekretierte Partizipation den mühsamen Aufbau emanzipatorischer Bewegungen nicht ersetzen kann.“ (S. 238) Anders ausgedrückt, die parlamentarischen Wahlprozesse, in die die Bevölkerung seit 1999 ständig gehetzt wurde, haben für eine Integration in stinknormale bürgerliche Verkehrsformen gesorgt. Das Besondere am chavismo war, dass er diesen Prozess mit der ständigen Propagierung des Aufbaus rätedemokratischer Strukturen begleitet, diese jedoch immer von oben kontrolliert und finanziert hat.

Praktische Alternativen werden sich jedoch kaum am akademischen Reißbrett entwerfen lassen“, so die korrekte Einsicht des Autors (S. 239). Aber auch das politische Reißbrett des von Peters erwähnten indigenen Konzepts des buen vivir, das das Extraktionsmodell in Frage stellt, scheint bisher als Alternative nicht wirklich zu taugen. Nachhaltige strukturelle Veränderungen in kapitalistischen Gesellschaften „der Peripherie“ im Sinne von sozialer und politischer Emanzipation werden auf Dauer nur dann eine Chance haben, wenn wir in den Kernländern des Kapitals endlich einen eigenständigen Beitrag dazu leisten.