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VOLUNtourismus oder VolunTOURISMUS?

Stimmen aus einem Shuar-Dorf in Ecuador

Urlaub machen und etwas Gutes tun? In das „authentische“ Leben vor Ort eintauchen und die Sprachkenntnisse aufbessern? Günstig unterkommen und den Lebenslauf aufpeppen? Klingt verführerisch. Mit Voluntourismus versuchen viele Reisende mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Aber welche Vorteile bringt Voluntourismus eigentlich aus Sicht derjenigen, denen „geholfen“ werden soll?

Stefanie Schien

Voluntourismus, abgeleitet vom Englischen volunteer tourism, bezeichnet eine Urlaubsreise, bei der geplant während des gesamten oder Teilen des Aufenthalts ehrenamtlich in einem Umweltschutz-, Sozial- oder Entwicklungsprojekt im Urlaubsland gearbeitet wird. Üblicherweise fallen darunter Kurzaufenthalte, bei denen die Reisenden zwischen einer Woche und sechs Monaten vor Ort sind. Anders als bei konventionellen Freiwilligendiensten befindet jedoch nicht die Entsendeorganisation darüber, wer teilnehmen darf, sondern in erster Linie die Bereitschaft und die Fähigkeit der Reisenden, für die Teilnahme zu bezahlen.

Längst ist er keine Nische mehr, sondern der am stärksten expandierende Tourismussektor weltweit, auch wenn Voluntourismus dem alternativen Tourismus zugeordnet wird. Allein 2016 nahmen mindestens 1,6 Millionen1 Menschen an Voluntourismus teil, Tendenz steigend. Die Teilnehmer*innen sind überwiegend junge Menschen aus der Mittelschicht des globalen Nordens, die sich zumeist nach ihrem Schulabschluss, während des Studiums oder im Rahmen einer Berufspause für eine solche Reise entscheiden. Eine überwältigende Mehrheit sind Frauen, mit etwa 80 Prozent2 der Teilnehmenden.

In dieser globalen Expansion stellen auch Süd- und Mittelamerika keine Ausnahmen dar. Weil viele Backpacker*innen die Region aufgrund der besonderen Biodiversität bereisten, wurden hier zunächst vor allem Umweltschutzprojekte für zahlende Freiwillige geöffnet, gewissermaßen als eine Weiterentwicklung des Ökotourismus. Doch mittlerweile spielen Sozial- und Entwicklungsprojekte im Voluntourismus eine genauso große Rolle, denn oft ist es gerade der Kontakt vor Ort, sei es mit Kindern im Waisenhaus oder mit indigenen Gemeinschaften, der die Freiwilligen besonders reizt.

Entsprechend der großen Nachfrage ist auch der Markt divers, um nicht zu sagen schier unüberschaubar. Von Komplettangeboten mit Transportorganisation, Sprachkurs, Freiwilligendienst in einem oder mehreren Projekten mit anschließender Rundreise, durchgeführt von Marktriesen wie TUI, bis zu Freiwilligenarbeit in grassroot-Projekten, organisiert durch die lokale Bevölkerung oder Nichtregierungsorganisationen, ist alles möglich. Aufgrund der vielfach informellen Organisationsformen, zum Beispiel durch Hostels gegründete Initiativen, sind die genauen Ausmaße nicht zu ermitteln.

Die zunehmende Verbreitung von Voluntourismus ist sowohl in öffentlichen Diskussionen als auch in wissenschaftlichen Publikationen länderübergreifend nicht unkommentiert geblieben. In den frühen 2000er-Jahren wurden große Hoffnungen dareingesetzt, die zuvor unerfüllten Erwartungen in die positiven Entwicklungspotenziale von Tourismus nun mittels Voluntourismus ausschöpfen zu können. In den letzten zehn Jahren häuften sich jedoch die kritischen Einschätzungen. Forschende wie auch zivilgesellschaftliche Kommentator*innen merken beispielsweise an, dass die Legitimationsstrategien von Voluntourismusprojekten, dass die Hilfe von jungen Reisenden aus dem globalen Norden qua Herkunft Menschen im globalen Süden „entwickeln“ soll, eine Fortführung kolonialer Bilder des „weißen Retters“ und der passiven Hilfeempfänger*innen darstellt. Weiterhin unterschlage insbesondere die Sprache in den Werbematerialien, die ein Bild von Entwicklungszusammenarbeit als etwas zeichnet, das man mit gutem Willen einfach erledigen könne, sowohl die Komplexität von Entwicklungszusammenarbeit als auch die vergangenen und gegenwärtigen Ursachen struktureller Ungleichheiten. Neben diesen Problematiken, die vor allem in den Diskursen im globalen Norden mitschwingen, gibt es zudem Effekte, die sich lokal negativ auswirken. Mit ihrer Bereitschaft, für ihre Tätigkeit zu zahlen, verdrängen die unausgebildeten Voluntourist*innen qualifizierte lokale Arbeitskräfte wie Lehrer*innen oder Handwerker*innen, die für ihre Arbeit bezahlt werden wollen und müssen. Außerdem bedeuten die oft nur wenige Wochen andauernden Kurzzeitaufenthalte letzten Endes auch diskontinuierliche und unplanbare Arbeitsleistungen. Dies ist insbesondere im Umgang mit verletzlichen Gruppen wie Kindern oder in Armut lebenden Menschen schwerwiegend. Nachgewiesen wurde beispielsweise im Bereich des Voluntourismus in Waisenhäusern, dass die Arbeit mit Kindern zwar von den Voluntourist*innen als besonders erfüllend betrachtet wird, aber häufige Wechsel der Bezugspartner*innen zu nachhaltigen psychischen Belastungen bei den Kindern führen können.

Das Potenzial für substanzielle Verbesserungen lokaler Verhältnisse im Rahmen von Voluntourismus erscheint somit im besten Falle fragwürdig. Wie kommen indigene Gemeinschaften dennoch dazu, an einem Voluntourismusprojekt teilzunehmen? Welche Probleme bringt er aus ihrer Sicht mit sich? Das Beispiel eines indigenen Tourismusprojekts im Regenwaldgebiet von Ecuador, in dem schon seit über zehn Jahren Öko- und Voluntourismus angeboten wird, gibt in mehrerlei Weise Aufschluss darüber, welche Aspekte aus Perspektive der Besuchten wichtig sind und welche Rolle Gestaltungsspielraum und Selbstbestimmung in Tourismusprojekten einnehmen könnten.

In der Gemeinde Arútam leben etwa 20 Erwachsene und Kinder einer Shuar-Familie. Die Shuar sind eine der acht größten indigenen Gruppen Ecuadors. Das Dorf liegt etwa 48 Kilometer außerhalb von Puyo auf der Via Macas, die die Provinzhauptstädte Macas und Puyo miteinander verbindet und ist somit unkompliziert und günstig mit dem Bus zu erreichen. Bis in die Mitte der 90er-Jahre lebte die Familie von der Landwirtschaft, vor allem vom naranjilla-Anbau3, bis sich das Familienoberhaupt Ernesto Vargas aufgrund gesundheitlicher Probleme, verursacht durch Pestizideinsatz, dazu entschied, mit der Unterstützung eines Verwandten im Tourismus tätig zu werden. Im Jahr 2005 gründete die Familie die Stiftung FUNDECOIPA, um formale Bedingungen für Kooperationen und finanzielle Förderungen zu schaffen. Spätestens seitdem nehmen fast alle Bewohner*innen Arútams direkt oder indirekt am Voluntourismus teil, indem sie im Tourismusprojekt arbeiten oder gelegentlich bei ihren Tätigkeiten, zum Beispiel auf dem Feld oder in der Dorfschule, mit den Voluntourist*innen Kontakt haben.

Wie empfinden die Menschen in Arútam den Kontakt mit den Voluntourist*innen? Die Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen heben in ihren Erzählungen vor allem positive Eindrücke hervor. Von lustigen Anekdoten und Freundschaften, die geschlossen wurden, kann eigentlich jede*r berichten. Der Bereitwilligkeit der Voluntourist*innen, sie zu unterstützen, wird stets gedankt und die Bedeutung des interkulturellen Austauschs hervorgehoben. Die Voluntourist*innen helfen aus Sicht der Bewohner*innen dem Dorf mit ihrer Arbeitskraft bei landwirtschaftlichen Arbeiten, bei Bauprojekten und als Sprachlehrer*innen in der Dorfschule. Das finanzielle Einkommen, das aus den Teilnahmegebühren generiert wird, ermöglicht die Weiterbildung einiger Familienmitglieder oder notwendige Anschaffungen für die Stiftung. Stolz sind sie auch darauf, dass das Projekt ihnen erlaubt, nachhaltiger zu wirtschaften als zuvor mit der Landwirtschaft. Ein Teil ihres Landbesitzes wurde zu einem Waldschutzgebiet mit Schonungs- und Nutzungsflächen umgewandelt. Damit, so betonen die Mitarbeiter*innen, ständen sie der traditionellen Lebensweise ihrer Vorfahren wieder näher. Außerdem verleihen die Netzwerke aus internationalen Voluntourist*innen, Forschenden und Nichtregierungsorganisationen den Forderungen des Dorfes gegenüber politischen Träger*innen (wie beispielsweise Regierungsinstitutionen) mehr Gewicht und tragen zum hohen Status der Projektmitglieder in ihren anderen Aktivitäten, zum Beispiel in indigenen Provinzorganisationen, bei. Nicht zuletzt genießen die Shuar auch die Ablenkung, die die Voluntourist*innen ihnen bereiten.

Dennoch gibt es auch Aspekte, die im Alltag mit den Voluntourist*innen Probleme mit sich bringen. Zunächst ist das ganz basal die Verständigung. Viele Besucher*innen sprechen nur wenig oder gar kein Spanisch, wobei die Projektmitarbeiter*innen wiederum nur wenig oder gar kein Englisch sprechen. So ist die Verständigung mitunter schwierig. Außerdem sind die Erwartungen an die Arbeit unterschiedlich. Die Shuar mussten lernen, welche Arbeiten für die Besuchenden zumutbar sind, und ihre Aufgaben den Freizeiterwartungen der Voluntourist*innen anpassen. Diese haben nämlich nicht nur den Wunsch zu helfen im Gepäck, sondern sie erwarten auch, den umliegenden Regenwald und indigene Traditionen kennenzulernen. Die tatsächliche Bereitschaft zu arbeiten steht dabei manchmal hinter den Erwartungen an touristische Angebote zurück. Diese Erwartungen umfassen auch oft stereotype Zuschreibungen an die Indigenen. Da gelten mal das Handy oder mal das persönliche Vergnügen an Breakdance als „nicht authentisch indigen“. Diese Zuschreibungen zu verhandeln ist eine eigene Herausforderung, die die Projektmitarbeiter*innen unterschiedlich beantworten. Insbesondere die erfahreneren Projektmitarbeiter*innen kontern mit Humor oder fordern die Voluntourist*innen in ihren Vorstellungen von „Entwicklung“ als eine Angleichung an den Westen heraus.

Auch wenn die stereotypen Zuschreibungen festschreibend und strukturell gewaltsam sind, werden die größten Probleme von Seiten des Dorfs wie bereits erwähnt jedoch eher in den alltäglichen Abläufen verortet. Sprachprobleme, unterschiedliche Erwartungen an die Schwere der Arbeit oder auch die Ablehnung des Essensangebots prägen letztlich den praktischen Umgang mit den Voluntourist*innen stärker als die Vorstellungen der Voluntourist*innen von den Shuar. Diese Alltagsprobleme brauchen zwar Lösungen, dennoch stellen sie das Projekt insgesamt nicht infrage. Die Arbeit mit den Voluntourist*innen steht für die Mitglieder der Stiftung und des Dorfes allgemein nicht zur Debatte. Die wie auch immer geartete „Entwicklung“ mithilfe von Voluntourismus ist ein fester Bestandteil der Zukunftsplanung der Gemeinde.

Entscheidend für die allgemeine Zufriedenheit mit dem Projekt ist sicherlich auch der Grad der Selbstbestimmung der Familie gegenüber den Voluntourist*innen. Anders als in anderen Initiativen oder Voluntourismusprojekten kommerzieller Anbieter verfügen sie über umfänglichen Spielraum in der Gestaltung des Kontakts mit den Voluntourist*innen, in der Absprache mit Kooperationspartner*innen sowie in der Bestimmung der Inhalte und der Umsetzung der Entwicklungsziele des Dorfes. Die Zusammenarbeit mit ehemaligen Projektpartner*innen wurde auch bereits aufgekündigt, wenn diese nicht den Erwartungen der Familie entsprachen. In ihrer Selbstbestimmtheit stellt die Stiftung FUNDECOIPA sicher eine Besonderheit unter den Voluntourismusprojekten dar. Dies löst zwar Abhängigkeiten, wie die unbestrittene finanzielle Bedeutung der Tourismuseinnahmen für die Familie, und die strukturelle Ungleichheit, die sowohl Freiwilligendienste als auch Tourismus begleiten, nicht auf, kann aber eine Rolle im Selbstwirksamkeitserleben der Besuchten spielen und ihr Selbstbewusstsein stärken.

Dies ist auch ein wichtiger Anhaltspunkt für die Selbstreflexion von Organisationen, die Voluntourismus anbieten, oder für Reisende, die ein Voluntourismusprojekt besuchen wollen: Wie gestaltet sich die Selbstbestimmtheit der Besuchten? Werden Ziele verfolgt, die gemeinsam mit den Menschen vor Ort entwickelt wurden und werden diese auch erreicht? Entsteht eine Schieflage zwischen Helfenden und Besuchten? Sofern diese Aspekte ungeklärt oder intransparent sind, droht Voluntourismus auf jeden Fall zu VolunTOURISMUS zu werden, der aus der Lebenslage der Besuchten ein Spektakel für die Freiwilligen macht.

  • 1. McAllum, Kirstie & Anne Zahra, The positive impact of othering in voluntourism: The role of the relational other in becoming another self, Journal of International and Intercultural Communication, 10:4, 291-308, S. 152, 2017
  • 2. Mostafanezhad, Mary, Volunteer Tourism: Popular Humanitarianism in Neoliberal Times, Farnham (et al.): Ashgate, S.10, 2014
  • 3. solanum quitoensen, übersetzt „kleine Orange“, allerdings als Nachtschattengewächs eher mit der Tomate verwandt

Stefanie Schien ist Ethnologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am „Museum Natur und Mensch“ in Freiburg. In ihrer Promotion an der Philipps-Universität Marburg untersucht sie die Beziehung zwischen internationalen Voluntourist*innen und indigenen Projektmitarbeiter*innen in einem Freiwilligenprojekt in Ecuador.