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Vom Netzwerk der Aktivist*innen zu den Cyborgs der Multituden

Rezension: Guiomar Rovira zur Entwicklung der sozialen Bewegungen in Zeiten des Internets

Guiomar Rovira kommt aus Barcelona und war dort in der Punk- und Hausbesetzer*innenszene aktiv. Am 1. Januar 1994, dem Tag des zapatistischen Aufstands, war sie gerade in San Cristóbal de las Casas. Sie ist in Chiapas geblieben, hat mehrere Bücher über die Zapatistas veröffentlicht und ist heute Professorin an der Universidad Autónoma Metropolitana in Mexiko. In ihrem letzten Buch analysiert sie, wie sich die Bewegungen ausgehend von der Solidarität mit den Zapatistas das Internet angeeignet haben und welche neuen Möglichkeiten das Web 2.0 eröffnet.

Alix Arnold

Wenn gemeinschaftliche Räume geöffnet werden mit dem Ziel, sie ökonomisch zu verwerten, liegt darin immer ein Risiko: Wo Menschen zusammenkommen, können sie die Revolution in Gang setzen.“ Mit dieser optimistischen Prämisse sucht Rovira nach den positiven Möglichkeiten. Die Kritik am Internet wird unter dem Titel „Netzwerke der Erfassung: Technologie und Kapitalismus“ nur kurz abgehandelt. „Netzwerk“ ist aber auch zum Paradigma der derzeitigen emanzipatorischen Kämpfe geworden. Diese Bewegungen, die heute ohne einheitliches Subjekt und zentrale Koordination neue Formen der Politik entwickeln, die auf Selbstorganisierung und hierarchiefreie Strukturen setzen, stehen im Zentrum des Buches.

Rovira unterscheidet zwei Phasen mit unterschiedlichen Akteuren. In den 90er- und 00er-Jahren entstehen die „Netzwerke von Aktivist*innen“. Ausgehend von der Solidarität mit den Zapatistas beginnt die Benutzung des Internets. Mit der Entwicklung der Antiglobalisierungsbewegung werden transnationale Verbindungen der Kämpfe gegen Kapitalismus und Neoliberalismus geknüpft. Die Teilnehmer*innen an den Protesten werden zu Verbindungspersonen zwischen den Welten. Unzählige Nachrichten dokumentieren das Geschehen mit einer Reichweite, welche die vorherigen Alternativmedien nur schwer erreichen konnten. Die Aktivist*innen werden zu effektiven und unmittelbaren Berichterstatter*innen ihrer eigenen Aktionen. Die Macht der Massenmedien als einzige Stimme ist gebrochen.

In der zweiten Phase ab 2010 spricht sie von „verbundenen Multituden“. Mit der Ausbreitung von sozialen Netzen, Smartphones und drahtlosen Verbindungen bewegt sich das Internet vom Computer zu Hause oder im Internetcafé auf die Straße. Die Beteiligungsmöglichkeiten werden breiter. Niemand muss auf Aktivist*innen warten. Die Aktionen geschehen gleichzeitig auf der Straße und online, wenn die Cyborgs mit ihren Smartphones demonstrieren. Der Zapatismus und die Antiglobalisierungsbewegung verbanden mit ihren Webseiten (wie zum Beispiel Indymedia) verschiedene Strömungen, Kollektive und Organisationen. Mit dem Web 2.0. sind es nicht mehr organisierte Kollektive, die die Plätze besetzen, sondern verbundene Multituden, die auf eigene Faust auf die Straße gehen und dort unerwartete Räume von Zusammenleben und Austausch schaffen.

Der Aufschwung des Zapatismus fiel zeitlich mit der Ausbreitung des Internets zusammen. In Chiapas gab es anfangs in vielen Gegenden noch nicht einmal Strom, geschweige denn Internet. Aber schon im März 1994 erstellten US-amerikanische Studenten die erste Webseite mit dem Titel Ya Basta (die mexikanische Regierung verfügte erst 1996 über eine Webseite). In vielen Ländern wurden Übersetzungen von Texten der Zapatistas gemacht und im Internet zur Verfügung gestellt. Im Zusammenhang mit Chiapas wurden die ersten Überlegungen angestellt, das Internet zur Verbindung der Kämpfe zu nutzen. Um mitzubekommen, was in diesem abgelegenen Winkel der Erde passierte, benutzten viele zum ersten Mal ein Modem und eigneten sich die Technik an. Mit der Solidarität mit den Zapatistas verbreitete sich außer den Techniken der Vernetzung auch das Ideal der Horizontalität, der nicht-hierarchischen Organisierung in den Bewegungen.

Vorläufer war der Punk mit seinem DIY-Ansatz (Do it yourself): Alles selber machen, ohne Geld, mit den vorgefundenen Mitteln, Fähigkeiten teilen, nicht um Erlaubnis fragen und nicht auf die Zukunft warten. Seit den 80er-Jahren gab es eine große Mobilität zwischen den Städten und besetzten Häusern. Eine diffuse autonome Bewegung schuf einen Soundtrack, eine transnationale Gemeinschaft und ein Netzwerk zur Verbreitung von Kassetten, Fanzines und anderen Alternativmaterialien. Für die technische Aneignung des Netzes waren die Hacker*innen wichtig, die mit einer ähnlichen Haltung agieren: Respektlosigkeit gegenüber Autoritäten, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Weitergabe des Knowhows.

Das Internet ermöglicht es, über die Marginalität von Fanzines, freien Radios oder Plakaten hinauszugehen und das eigene Ghetto zu verlassen. Das Publikum wird zu einem Netz untereinander verbundener Nutzer*innen. Die Distanz zwischen Sender*innen und Empfänger*innen löst sich auf. Dies fördert die Kommunikation auf Augenhöhe und Horizontalität. Es gibt zwar immer Einzelne oder Kollektive, die mehr Erfolg und Followers haben, aber sie sind eher Katalysatoren als Gatekeepers, sie entscheiden nicht, ob etwas veröffentlicht werden darf oder nicht. Ende der 90er-Jahre ist die Kommunikation nicht mehr Mittel zum Zweck, wie bei den Medien der Gegenöffentlichkeit, sondern ein Ziel an sich. Viele Aktivist*innen bewegen sich als kosmopolitische Kommunikator*innen durch die Welt und entdecken einen gemeinsamen Kampf.

Seit dem Web 2.0 wird die alte Öffentlichkeitsarbeit bestimmter Menschen von den unzähligen Kommunikationsakten der unbestimmten Nutzer*innen abgelöst. Die vorherigen Alternativmedien hatten nie die Reichweite von Nachrichten, die viral gehen und Wellen der Empörung auslösen. Im Web 1.0, in der Solidarität mit Chiapas, lief die Netzaktivität nach der Aktion. Von zu Hause oder einem Internetcafé aus wurde berichtet, was auf der Straße passiert war. Indymedia bot mehr Leuten Möglichkeiten für kreativen Ausdruck, war aber immer noch ein von Aktivist*innen eingerichteter Raum. Ab 2011 entsteht ein neuer Protestzyklus: Arabischer Frühling, Griechenland, Portugal, die Indignados im Spanischen Staat, Occupy in den USA, #YoSoy132 in Mexiko, Gezi-Park in der Türkei, die Bewegung Passe Livre in Brasilien, Nuit Debout 2016 in Paris. Jenseits aller Unterschiede verbindet sie die Fähigkeit, sich gemeinsame Räume in der realen und digitalen Welt anzueignen und die globale Empörung auf die Straßen zu bringen, mit der Forderung nach einer Demokratie, die über die Modelle der Repräsentation hinausgeht. Die Technologie wird nicht mehr komplementär genutzt, sondern synergetisch. Die Körper sind Cyborgs, sie demonstrieren zusammen mit ihren technologischen Erweiterungen. Menschen, die vorher noch nicht politisiert waren, gehen auf die Straße und treffen dort und im Netz Entscheidungen. Die Multituden sind flüchtiger und weniger einschätzbar als soziale Bewegungen, sie bewahren ihre Diversität und Offenheit und schaffen keine ideologische Einheit. Sie beziehen sich auf die 99 Prozent, ohne sich als Volk, Klasse oder Ethnie zu bezeichnen. Da sie verbunden sind, können sie zusammenarbeiten, ohne am selben Ort zu sein. Es gibt kein Kommando und keine Führung (was oft versucht wurde, aber nie funktioniert hat). Rovira nennt sie „verbundene“ Multituden, um auf ihren Cyborgcharakter, ihren Anschluss an das Netz hinzuweisen.

Die Versammlungen auf den Plätzen sind beliebte Orte, wo viel gesprochen und zugehört wird. Sie sind wichtig, um die besetzten Plätze zu organisieren, aber sie sind nur ein Teil der Bewegung und nicht die Entscheidungsinstanz des Ganzen. Als Orte der Entscheidung funktionieren Asambleas in kleineren homogeneren Gruppen, nicht aber bei den verbundenen Multituden. Auf den Plätzen wird mit anderen Formen des Zusammenlebens, mit Solidarität und Teilen experimentiert. Auch das Netz sozialisiert in freiem Konsum und freier Aneignung. Das Paradoxe ist, dass die erfolgreichsten Unternehmen wie Facebook freie Kommunikation verkaufen. Dadurch gewöhnen wir uns an Praktiken, die den Werten des Marktes entgegenstehen. Werden diejenigen, die sich daran gewöhnt haben, freien Zugang zu Musik und Filmen zu haben, weiterhin das private und kommerzielle Eigentum an der Kultur respektieren? Oder sehen sie Kultur als Gemeineigentum? In den Bewegungen wird zunehmend über Commons diskutiert. Dass Jugendliche juristisch verfolgt werden, weil sie ihre Lieblingssongs in P2P-Netzen mit anderen teilen, wird als ungerecht empfunden und führt bei den Digital Natives zur Politisierung.

Schließlich beschäftigt sich Rovira noch mit den Whistleblowers und Cypherpunks (gebildet aus Cyber und Cipher, engl. für Chiffre, und Punk), die als Hacktivist*innen mit Hilfe von Verschlüsselung private Informationen schützen, aber auch durch die Veröffentlichung unbequemer Nachrichten für Transparenz von Macht und Institutionen sorgen. Und sie stellt Anonymous als Beispiel für eine Bewegung vor, die sich ohne Führung im Netz organisiert, Hackertechniken nutzt und auch auf der Straße agiert. Anonymous Mexiko war an der Kampagne #YoSoy132 beteiligt, der ein gesondertes Kapitel gewidmet ist (siehe Kasten).

Mit der radikalen Fokussierung auf den positiven Gebrauch von Technik wirkt das Buch streckenweise etwas unkritisch und euphorisch. Bei vielen Aspekten kann Rovira auf eigene Beobachtungen zurückgreifen. Zur Untermauerung ihrer Thesen zitiert sie eine Vielzahl von Autor*innen aus dem autonomen, (post)-operaistischen und poststrukturalistischen Spektrum. In ihrer Begeisterung über die Diversität und Horizontalität der neuen Bewegungen und die Überwindung von Beschränkungen der alten Arbeiterorganisationen blendet Rovira, wie viele Fans der Multituden, eine nicht unwichtige Frage aus: Wie soll eine Umwälzung der Produktionsverhältnisse stattfinden, ohne dass sich Arbeiter*innen als Klasse bewegen? Aber das war ja nicht Thema ihres Buches. Ihr geht es um die realen Bewegungen und um deren Aneignung von Räumen und Technik. Und das ist schön zu lesen und macht Mut.