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Zwischen Spielfilm und Dokumentation

Der Film „Nuestro Tiempo“ von Carlos Reygadas
Verena Schmöller

Schon mit seinem Debütfilm sorgte Carlos Reygadas 2002 für Furore und Aufmerksamkeit. Auf den Filmfestspielen in Cannes gewann er für „Japón“ (Mexiko/Deutschland/Niederlande/Spanien 2002) die Goldene Palme. Und auch alle anderen Filme, die der mexikanische Filmemacher bislang drehte, sind vor allem von Unkonventionalität und einem etwas anderen Blick auf die Welt gekennzeichnet, so auch „Nuestro Tiempo“, sein fünfter Spielfilm, der ab 27. Juni 2019 in den deutschen Kinos zu sehen ist.

Die ersten Filmminuten zeigen eine fast archaisch anmutende Szenerie. Die Kamera fängt Kinder beim Spiel ein, sie rennen über den Strand, tauchen im schlammigen Wasser eines ausgetrockneten Sees, liegen in einem Gummiboot und unterhalten sich über dies und das. Die Jungen necken die Mädchen, die Mädchen zeigen ihre Reize – spielerisch und auf eine unschuldige Art und Weise. Diese ersten Szenen wirken so pur und rein wie das Leben, wenn es am Beginn steht, und gleichzeitig haben sie etwas Dokumentarisches. Es ist der Blick eines Dokumentarfilmers, der die Kinder und Jugendlichen begleitet und einen Ausschnitt aus ihrem Leben zeigt. Die Liebe ist hier noch ein Spiel und etwas, das vor allem Spaß macht, ausprobiert zu werden.

Im Fokus von „Nuestro Tiempo“ steht allerdings die Beziehung eines erwachsenen Ehepaares. Juan (gespielt von Carlos Reygadas selbst) ist ein gefeierter Schriftsteller, hat aber auf einer Zuchtbullenfarm in Mexiko seinen Traum gefunden. Er hat Unmengen von Land, Pferde und Stiere, die er für den Kampf ausbildet, eine bildhübsche Frau und gesunde Kinder. Juan ist bei den Einheimischen und auch sonst gut vernetzt und fährt ab und zu in die Stadt, also Mexiko-Stadt, und ins Ausland, um seinen Tätigkeiten als Literat und Kulturmensch nachzugehen.

Auch Esther (Natalia López) ist eine kunstliebende Person. Sie engagiert sich für die Musik, fährt ebenfalls regelmäßig in die Hauptstadt, um ins Konzert zu gehen, und freut sich, neben dem Leben auf dem Land eine Alternative zu haben. Sie liebt ihre Kinder und ihren Mann, doch immer wieder wird deutlich, dass sie mit der Ranch und der Arbeit dort hadert.

Juan und Esther lieben sich und sie leben eine offene Beziehung. Doch als Esther nach einer Nacht in Mexiko-Stadt nicht von sich aus vom Liebesakt mit Phil (Phil Burgers) erzählt, wird Juan misstrauisch und säuerlich. Erst stellt er Esther zur Rede, dann kontrolliert er sie und hört nicht auf zu diskutieren. Und er kämpft um die Liebe seines Lebens.

Im Mittelpunkt von „Nuestro Tiempo“ stehen die Liebesbeziehung und die Identitätskrisen, in die das Paar stürzt. Da Reygadas und seine eigene Frau, Natalia López, die beiden Hauptrollen übernommen haben, wurde natürlich schnell gemunkelt, dass hier Autobiografisches verarbeitet werde. Der Rest des Casts wird – wie stets in den Filmen von Carlos Reygadas, von Laien-schauspieler*innen übernommen und das alles funktioniert wunderbar, es ist eine authentische Geschichte entstanden.

In scharfen Dialogen und ungewöhnlichen Bildern dokumentiert der Film, wie sich Esther und Juan immer weiter voneinander entfernen. Dabei arbeitet Carlos Reygadas mit Auslassungen, deutet an, liefert Informationen eher später als früher. Ähnlich ist seine Bildsprache: Die Kamera nimmt das Paar mal unvermittelt in den Fokus, bleibt dann aber auch wieder außen vor, ist hinter Fenster oder Türen und blickt quasi um die Ecke. Als Zuschauer*in ist man ein*e Voyeur*in des Geschehens, hat mal direkten Zugang und bleibt mal im Verborgenen.

Darüber hinaus aber gibt der Film auch einen guten Einblick in das Leben in der Wüste Mexikos. Juan ist Besitzer der Farm, die Mexikaner*innen, die für ihn arbeiten, sitzen oft alle zusammen in der Sonne, trinken Mezcal schon am Nachmittag, trainieren die Tiere und vertreiben sich die Zeit mit Autorennen. Dabei bestätigt sich der Eindruck, den man in der ersten Szene gewinnt: Der Film changiert zwischen Spiel- und Dokumentarfilm und spielt mit den Formen. Dazu trägt auch die Tonebene bei, die, was bei mexikanischen Filmen ja nicht unbedingt überrascht, von verhältnismäßig wenigen Dialogen gekennzeichnet ist. Oft hält die Kamera auch nur auf das ruhige, stille Geschehen, beobachtet und begleitet die Figuren durch ihren Alltag. Und daraus erhalten die Bilder ihre ganze Kraft.

Der Film, der mit seinen drei Stunden eine noch längere Spielzeit als „Stilles Licht“ (Mexiko/Frankreich/Niederlande/Deutschland 2007) hat, feierte seine Premiere auf den Internationalen Filmfestspielen 2018 in Venedig und gewann Preise für die Beste Regie und den Besten Ausländischen Film in Havanna beziehungsweise São Paulo.