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Grenzstädte – Krimistädte

Geschichten über Sex, Drugs and Crime aus Mexicali, Tijuana, Ciudad Juárez und Ciudad del Este/Foz do Iguaçu

Grenzstädte werden häufig mit Kriminalität assoziiert. Seit jeher waren sie Zentren des Schmuggels. Der war/ist vor allem dann lukrativ, wenn in benachbarten Ländern unterschiedlich hohe Steuern auf Produkte erhoben werden oder wenn in einem Land bestimmte Produkte subventioniert werden und damit billiger sind als im Nachbarland. In den letzten Jahrzehnten hat aber vor allem der Schmuggel illegaler Waren zugenommen. In Lateinamerika wären hier der Drogenhandel, die Verschiebung von Zwangsprostituierten und Migrant*innen zu nennen, aber auch der Waffenhandel, die illegale Ausfuhr geschützter Tiere oder präkolumbianischer Kunstwerke. Da dieser Handel eine erhebliche Infrastruktur erfordert, liegt er meist in Händen der „Organisierten Kriminalität“. Diese Gruppen agieren in der Regel äußerst gewalttätig. Das macht das Leben in vielen Grenzstädten gefährlich, vor allem wenn die kriminellen Strukturen mit den Sicherheitskräften verbandelt sind. Angesichts dieses Szenarios überrascht es kaum, dass es eine Reihe von Kriminalromanen und -geschichten gibt, die in lateinamerikanischen Grenzstädten spielen. Gert Eisenbürger hat einige davon gelesen.

Gert Eisenbürger

Die Handlung der meisten auf Deutsch vorliegenden Grenzstadtkrimis ist ganz oder teilweise an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze angesiedelt, vor allem den Städten Mexicali, Tijuana und Ciudad Juárez. Gleich vier Kriminalgeschichten aus Mexicali und Tijuana enthält das 2006 auf Deutsch erschienene Buch „Tijuana Blues“ (das spanische Original war 2002 herausgekommen) des mexikanischen Autors Gabriel Trujillo Muñoz (Jg. 1958). Der hat Medizin studiert und eine Zeitlang als Chirurg gearbeitet, ehe er sich der Arbeit an und mit Texten zuwandte. Er übernahm eine Professur für Kommunikationswissenschaften an der Universidad Autónoma de Baja California und schreibt Krimis, aber auch Lyrik. Im Mittelpunkt seiner Kriminalgeschichten steht der Rechtsanwalt Miguel Ángel Morgado. Der stammt ursprünglich aus Mexicali, der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaats Baja California, lebt und arbeitet aber in Mexiko-Stadt, wo er vor allem Menschenrechtsorganisationen juristisch unterstützt. Doch Aufträge von Mandanten führen ihn immer wieder in den Norden. So soll er in der längsten Erzählung des Buches, „Mezquite Road“, den Tod eines Zockers in Mexicali untersuchen. Die Familie und ein Jugendfreund des Toten bezweifeln die offizielle Polizeiversion, das Opfer Heriberto Gonzáles sei bei einer Auseinandersetzung unter Drogendealern erschossen worden. Sobald Morgado seine Ermittlungen beginnt, werden einige Leute nervös, vor allem im örtlichen Polizeiapparat. Ein Gespräch mit einem schillernden US-Agenten, mit dem Morgado eine besondere Geschichte verbindet, bringt ihn dann auf eine Spur. Deren Verfolgung endet in einer wüsten Schießerei, die er nur dank des beherzten Einsatzes einiger alter Freunde mit Guerillaerfahrung überlebt. Die Leser*innen erfahren viel über die Vorgehensweise der Organisierten Kriminalität und ihre Verbindungen zum durch und durch korrupten Polizeiapparat, aber mit der Ermordung von Heriberto Gonzáles hat das am Ende alles nichts zu tun.

In der Erzählung „Tijuana City Blues“ nimmt der Autor die Leser mit in Tijuanas „goldene“ Vergangenheit. Ein Tischler in Mexiko-Stadt beauftragt Morgado, herauszufinden, was mit seinem in den 50er-Jahren verschwundenen Vater geschehen ist. Der soll damals in Tijuana an einem Drogendeal beteiligt gewesen sein, bei dem ein Dealer von der Polizei erschossen wurde. Seitdem sei er verschwunden. Sein Vater, so vermutet der Tischler, sei in die ganze Sache nur hineingeraten, weil er einem Bekannten, dem damals in Mexiko-Stadt lebenden US-amerikanischen Schriftsteller William S. Burroughs, einen Gefallen tun und für ihn ein Päckchen nach Tijuana bringen sollte. Schon damals hatten mafiöse Gruppen ihre Strukturen in der Stadt und der Drogenhandel war eines ihrer lukrativen Geschäftsfelder. Nach einigem Hin und Her kann Morgado die Geschichte des Vaters seines Auftraggebers rekonstruieren und wieder stellt sich heraus, dass alles ganz anders war, als es zunächst ausgesehen hat. In den beiden anderen Geschichten des Bandes geht es um Organhandel und um ein in der Wüste gefundenes Skelett, dessen Geschichte in die Epoche des Kalten Krieges führt, der auch an in der Grenze zwischen den USA und Mexiko ausgefochten wurde.

Der US-amerikanische Autor Sam Hawken wurde 1970 in Texas geboren, also auch in der Grenzregion, nur eben auf der andern Seite. In seinem 2011 in den USA und 2012 in deutscher Übersetzung erschienenen Kriminalroman „Die toten Frauen von Juárez“ setzt er sich mit der erschreckend hohen Zahl von Feminicidios (Frauenmorden mit misogynem Hintergrund) in Ciudad Juárez auseinander. Protagonist der Geschichte ist zunächst der in der Stadt lebende US-Amerikaner Kelly Courter. Der war früher in den USA ein mittelmäßig erfolgreicher Profiboxer. Aber nachdem er unter Drogeneinfluss einen tödlichen Unfall verursacht hatte, setzte er sich nach Mexiko ab. In Juárez schlägt er sich als illegaler Boxkämpfer und Kleindealer durch. Seine Freundin Paloma engagiert sich in einer Gruppe von Angehörigen vermisster Frauen. Eines Tages verschwindet auch Paloma. Kelly bekommt das zunächst nicht mit, weil er, der eigentlich clean war, wieder einen Drogenrückfall hatte. Als Palomas entstellte Leiche gefunden wird, behauptet die Polizei, Kelly und Palomas Bruder Esteban, ebenfalls ein Dealer, hätten Paloma im Drogenrausch ermordet. Beide werden in einer Polizeikaserne schwer gefoltert, um ein Geständnis zu erpressen. Als Kelly bewusstlos ins Krankenhaus gebracht wird und im Koma liegt, wendet sich einer der Polizisten an einen alten Ermittler des Drogendezernats. Der junge Beamte missbilligt die polizeiliche Folterpraxis und hat zudem Zweifel an der Polizeiversion von Palomas Tod. Die teilt auch sein alter Kollege aus dem Drogendezernat, dessen eigene Tochter vor vielen Jahren ebenfalls verschwunden war. Zusammen beginnen die beiden Polizisten zu ermitteln. Schnell wird klar, dass Kelly und Esteban nichts mit dem Verschwinden Palomas zu tun haben, ganz andere Kreise für diesen und andere Frauenmorde verantwortlich sind und dass diese Leute auch beste Verbindungen in den Polizeiapparat haben.

Um die Feminicidios geht es auch in dem Roman „Hurensöhne“ (span. 2001/dt. 2005) von Rolo Diez. Der 1940 in Argentinien geborene Autor war in seiner Heimat wegen seiner Militanz in der politisch-militärischen Organisation PRT-ERP inhaftiert. 1977 bekam er Asyl in Mexiko, wo er seitdem lebt. Anders als Sam Hawken, der sich in seinem Roman intensiv mit den Lebensumständen in Ciudad Juárez beschäftigt, ist die Stadt in Diez’ Roman nicht wirklich ein Thema. Die Morde, um die es vordergründig geht, ereigneten sich auch nicht in Juárez, sondern in Mexiko-Stadt. Und während Hawkens Schreiben von Empathie mit den Opfern der Feminicidios geprägt ist, ist es bei Diez sein sarkastischer (argentinischer) Humor, mit dem er die Zustände in Mexiko einfängt und wiedergibt.

In Mexiko-Stadt werden zunächst die Mutter eines Abgeordneten aus Juárez und später der Abgeordnete selbst tot aufgefunden. Der Chef der Ermittlungsgruppe der Bundespolizei beauftragt seinen besten Mann für „delikate Fälle“, den Offizier Carlos Hernández, mit der Leitung der Ermittlungen. Anders als die beiden dissidenten Polizisten bei Hawken, die gegen die offizielle Version und den Polizeiapparat gewissenhaft ermitteln, ist Hernández ein keineswegs unsympathischer, aber ein durchaus korrupter Polizist. Er nimmt Gefälligkeiten vom Inhaber einer Autowerkstatt an und deckt dafür dessen Schiebereien mit gestohlenen Autos und Ersatzteilen, er kassiert bei einer Prostituierten ab, mit der er auch eine Beziehung unterhält, organisiert gelegentlich mit einem Kumpel aus dem Polizeiarchiv Erpressungen, wobei es meistens um amouröse Abenteuer von Prominenten geht. Er findet das alles normal, schließlich hat er zwei Frauen und fünf Kinder zu versorgen und muss selbstredend einen Teil der „Nebeneinnahmen“ an seinen Chef abführen. Aber das alles hindert Hernández nicht daran, in Mordfällen seine Hausaufgaben zu machen und dabei auch hochgestellten Persönlichkeiten auf die Füße zu treten. Erwartungsgemäß war die Weste des ermordeten Politikers keineswegs weiß und einige Spuren führen nach Ciudad Juárez, wo der Abgeordnete Verbindungen zu einem Drogenkartell hatte und Miteigentümer einer Maquiladora war, von der mehrere Arbeiterinnen Opfer von Feminicidios wurden. So kommen die Hintergründe des Mordes an der Mutter des Abgeordneten schließlich ans Licht, wobei der Mord an dem Abgeordneten selbst einen ganz anderen Hintergrund hat. Das aber lässt Hernández unter den Tisch fallen, weil er nicht Opfer zu Täterinnen machen will – weshalb er, wie schon gesagt, doch ein ganz sympathischer Ermittler ist.

In einer ganz anderen Region Lateinamerikas spielt Gisbert Haefs Roman „Das Kichern des Generals“ aus dem Jahr 1996, nämlich in Ciudad del Este bzw. am Dreiländereck an der Mündung des Iguazú in den Paraná, von dem an anderer Stelle in diesem Heft die Rede ist. Der in Bonn lebende Haefs (Jg. 1950) ist vor allem als Autor historischer Romane bekannt geworden, aber er hat Anglistik und Romanistik studiert und ist auch ein äußerst fleißiger Übersetzer (unter anderem hat er das Gesamtwerk von Jorge Luis Borges und – besonders verdienstvoll – sämtliche Chansons von George Brassens ins Deutsche übertragen). Zudem ist er ein profunder Kenner der lateinamerikanischen Literatur. Deshalb ist „Das Kichern des Generals“ auch nicht einfach ein Krimi, obwohl er alles enthält, was dieses Genre ausmacht, sondern ein literarischer Text, der auch in der Tradition des lateinamerikanischen Diktatorenromans steht. Bei einem Roman, der in der Stadt spielt, die bis 1989 Ciudad Presidente Stroessner hieß, ist es nicht sehr schwer zu erraten, um welchen Diktator es sich dabei handelt.

Mario Guderian, ein Ex-Soldat, der seine Ausbildung bei der GSG-9 und dem BND vervollkommnet hat, ist Sicherheitschef einer Wohn- und Ferienanlage für Superreiche im südspanischen Marbella. Zu Beginn des Romans beendet er diese Tätigkeit, um nach Südamerika zu gehen. Als ersten Job dort soll er im Auftrag seiner bisherigen Arbeitgeber aus Marbella in Paraguay die Abwicklung und den Verkauf einer weiteren Wohnanlage vermögender Deutscher unweit von Ciudad del Este an eine große Pharmafirma über die Bühne bringen. Was zunächst wie ein einfacher, gut bezahlter Auftrag aussieht, entpuppt sich als Himmelfahrtskommando. Denn das „Pharmaunternehmen“ ist das Cali-Kartell, eine der großen Drogenmafiagruppen in Kolumbien. Vor Ort stellt Guderian zudem fest, dass die Anlage mehrfach verkauft wurde, u.a. an die Triaden, also die chinesische Mafia, und an die Hisbollah. Diese Informationen bereiten nicht nur Guderian Kopfschmerzen, sondern auch Romualdo Villena, dem Vertreter des paraguayischen Geheimdienstes in Punta del Este. Gegen Ende der Stroessner-Diktatur war dessen Frau „verschwunden“, weil sie nach verschwundenen Freunden gesucht hatte und so in den Fokus des Repressionsapparates des Regimes geraten war. Mit diesem Hintergrund ist Villena ein loyaler Mitarbeiter der Post-Diktatur-Regierung, während große Teile des Militärs kaum als regierungstreu gelten, weil sie entweder weiter hinter Stroessner stehen oder den rechtsradikalen Putschgeneral Oviedo unterstützen. Als Villena zudem noch die Nachricht erhält, dass ein mit Waffen beladenes russisches Schiff auf dem Paraná in Richtung Punta del Este unterwegs sei, ist er geneigt, den Gerüchten zu glauben, der im brasilianischen Exil lebende Stroessner plane einen Staatsstreich. Auch die ausländischen Geheimdienste, vor allem der israelische Mossad und der CIA sowie die Briten, sind alarmiert. Alles läuft auf den großen Showdown in der folgenden Nacht hinaus, in dem die verschiedenen Gruppen die deutsche Siedlung übernehmen wollen. Es kommt dort tatsächlich zu Feuergefechten mehrerer bewaffneter Gruppen, bei denen es zahlreiche Tote gibt. Doch der große Coup findet ganz woanders statt und dessen Gewinner ist der alte General, der im Hintergrund die Fäden gezogen hatte, aber nie vorhatte, sich zurück an die Macht zu putschen.

Obwohl die vier Romane männlicher Autoren außer der formalen Verbindung, dass die Handlung in Grenzstädten spielt, sehr unterschiedlich sind, haben sie ein gemeinsames Thema, nämlich Männergewalt und Machismo. Ob es die Narcos und Polizisten an der mexikanischen Nordgrenze sind oder die hochtrainierten Kampfmaschinen der Geheimdienste und Mafiagruppen an der Triple Frontera am Paraná, sie alle können sich nur finale Lösungen, sprich die physische Vernichtung ihrer Gegner, vorstellen. Gegenüber Frauen müssen sie permanent den Gockel spielen und viele brauchen die verbale Verhöhnung, die körperliche Erniedrigung und teilweise die physische Vernichtung von Frauen, um sich als Männer zu beweisen. Letztlich betreiben alle Romane die Dekonstruktion einer Vorstellung von Männlichkeit, die sich längst ad absurdum geführt hat, aber umso gewalttätiger um sich schlägt. Am konsequentesten macht das der Argentinier Rolo Diez, dessen männliche Figuren, auch der sympathische Bulle Carlos Hernández, nur noch Karikaturen sind. Dabei denken diese Typen immer, sie alleine wüssten, was zu tun ist, und kapieren so vieles nicht. Gleichzeitig lassen sie in ihren Aussagen und Handlungen kein sexistisches Klischee über Frauen aus. Die Autoren wissen es freilich besser, in nahezu allen Geschichten sind es Frauen, die in den längeren Atem haben, wobei sie keineswegs davor zurückschrecken, sich militant gegen die Männergewalt zur Wehr zu setzen.