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Die erste Versammlung war wie eine kollektive Katharsis

Gespräche mit Aktivist*innen in Santiago de Chile

Der Aufstand in Chile, der am 18. Oktober 2019 begann (siehe ila 430), geht auch im vierten Monat weiter. Die großen Demonstrationen beschränken sich im derzeitigen Sommerloch meist auf die Freitage. Dennoch kommt es weiterhin täglich zu heftigen Straßenschlachten (siehe S. 42). Weniger spektakulär – aber nicht weniger bedeutsam – sind die Nachbarschaftsversammlungen, die überall im Land entstanden sind, die Asambleas oder Cabildos Abiertos (Offene Bürger*innenräte). Hier wird über alles diskutiert, worum es in diesem Aufstand geht: von Alltagsproblemen über die Änderung der Verfassung bis zu der Frage, wie wirkliche Demokratie und eine gerechte Gesellschaft organisiert und durchgesetzt werden könnten.

Alix Arnold

Sonntagnachmittag in einer Población der Kommune La Florida im Südosten Santiagos. Auf einem Platz mit Bäumen stehen Stühle, eine kleine Lautsprecheranlage und ein Tisch mit Getränken und Keksen. Etwa 50 Leute sind zum wöchentlichen Cabildo gekommen. In den ausgedehnten Poblaciones an der Peripherie Santiagos leben Arbeiter*innen und Arme. Diese Nachbarschaft zählt sich zur Mittelschicht. Nach der Begrüßung und einigen Berichten teilt sich die Versammlung in Arbeitsgruppen auf, um eine Informationsveranstaltung für den folgenden Samstag vorzubereiten. Neben den Gruppen zu Bildung, Arbeit, Gesundheit und der anstehenden Verfassungsänderung ist die größte Diskussionsrunde die zur Frage der Renten. Geleitet wird die Versammlung jedoch abwechselnd von drei jüngeren Menschen, den Schwestern Violeta und Marita und deren Freund Javier. Sie informieren über eine größere Blockadeaktion, die die Koordination der Versammlungen von La Florida für den kommenden Sonntag plant. Ein Nachbar stellt die Aktion infrage, da er eine Blockade an einem Sonntag, die nicht die Wirtschaft, sondern nur Familien trifft, für einen strategisch nicht sinnvollen Kräfteverschleiß hält und dafür nicht das Cabildo ausfallen lassen möchte. Eine jüngere Teilnehmerin betont dagegen, wie wichtig es gerade nach der Verschärfung des Demonstrationsrechtes ist, nicht zurückzuweichen, sondern nun erst recht auf die Straße zu gehen und Barrikaden zu bauen. Bei der Diskussion ist der Wille spürbar, alle zu Wort kommen zu lassen und alle Bedürfnisse zu berücksichtigen. Letzten Endes wird entschieden, beide Optionen offen zu halten – Aktion und Cabildo. Ein Pärchen in Feierlaune kommt vorbei, hört sich die Diskussion eine Zeitlang an und ist begeistert: Das sei ja eine Supergeschichte, so eine Versammlung, warum es das in ihrer Nachbarschaft denn nicht gebe? „Selber machen!“, kommt die Antwort im Chor, verbunden mit dem Angebot, ihnen im Anschluss zu erklären, wie so etwas in Gang zu bringen ist.

Diese Versammlung ist wie die meisten im Land spontan in den Tagen nach dem Beginn des Aufstands entstanden. Die Initiative hat Marita ergriffen: „Wir haben uns zum Cacerolazo vor dem Haus meines Bruders getroffen. Immer mehr Leute kamen vorbei und machten mit. Wir haben die Musikanlage auf die Straße gestellt. Aber nach ein paar Nächten fanden wir, dass das nicht reicht. An anderen Orten hatten sie schon angefangen, Versammlungen zu bilden und zu diskutieren. Das wollten wir auch machen, hier auf der Straße. Wir haben auf einen Karton geschrieben ‚Cabildo. Morgen um 18 Uhr hier‘. Dann kamen 80 Personen, gleich beim ersten Mal! Und wir hatten doch nur dieses eine schäbige Plakat. Wir hatten uns gefragt, was für Fragen wir für die Versammlung vorbereiten müssen. Aber so viel Methodik war gar nicht nötig, weil die Leute mit dem offenen Mikrofon sofort anfingen zu reden. Das war wie eine kollektive Katharsis. Alle fingen an zu erzählen, wie schlecht es ihnen in Wirklichkeit ging, wie das System ihnen geschadet hatte, wie krank sie sind. Dass sie kein Geld haben, ihre Medikamente zu bezahlen. Dass ihre Rente viel zu niedrig ist. Dass sie am Ende des Monats kein Geld mehr für Lebensmittel haben. Dass sie hoch verschuldet sind wegen der Studienkredite.“

Violeta und Nora, die ebenfalls zu dieser Clique gehört, waren beide schon in der Bewegung der Schüler*innen 2006 aktiv, kannten sich aber noch nicht näher. Heute bilden sie einen Kern, der sich fast täglich trifft. Nora ist arbeitslos, aber ausgebildete Krankenschwester und hat ihre Kenntnisse bei den Demonstrationen in einer der Sanitätsbrigaden zur Verfügung gestellt. Marita hat als Hausmädchen gearbeitet. Sie und Javier haben ihre Jobs geschmissen: „Wir brauchen Zeit für die Revolution!“ Violeta erklärt ihren Hintergrund: „Wir vier sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Wir sind mit Eltern aufgewachsen, welche die Diktatur erlebt haben. Wir sind Arbeiterkinder, ohne große Privilegien und mit ziemlichen ökonomischen Schwierigkeiten. Uns wurde immer gesagt, wenn wir etwas lernen und uns anstrengen würden, könnten wir der Armut entkommen. Wir mussten uns verschulden, weil unsere Eltern unser Studium nicht finanzieren konnten. Wir kommen auch nicht an eine eigene Wohnung, ohne uns für unser ganzes Leben zu verschulden. Wir haben keine würdige Gesundheitsversorgung. Wir leben in einer ganz anderen Realität als ein bestimmter Teil Chiles, der ziemliche Privilegien hat. Dieser Aufstand hat unser Leben verändert! Wir haben fast seit unserer Geburt auf diesen Moment gewartet. Ich bin ‘89 geboren, in dem Jahr, in dem das ‚NO‘ gewann. Wir hatten schon gedacht, es sei alles verloren, die Gesellschaft würde immer so bleiben, so unwürdig.“

Am ersten Tag des Aufstands waren sie und Marita unterwegs, um einen Geburtstagskuchen für ihre Mutter zu kaufen, als sie von einer Nachbarin eine Nachricht aufs Handy bekamen, dass selbst in ihrer weit vom Zentrum entfernten Metro-Station Proteste stattfanden. Statt Kuchen kauften sie Zitronen gegen das Tränengas, um sie gemeinsam mit ihrer Mutter bei den Demonstrierenden zu verteilen. Auch die Mutter ist der Meinung, dass dies ein wunderbarer Geburtstag war. Violeta und Nora betonen, dass diese Revolte auch oder sogar in erster Linie eine Rache ist für die Unterdrückung, die ihre Eltern erfahren haben. „Chile ist aufgewacht“ ist eine beliebte Aufstandsparole, aber Nora hat Verständnis für die Jahre der Passivität: „Vor der Revolte hatte ich Depressionen und viele Sorgen. Ich war einsam. Diese Revolution hat uns Jugendlichen eine neue Hoffnung gegeben. Aber das Schöne ist, dass wir uns verziehen haben. Wir haben uns als Gesellschaft verziehen und verstanden, dass all diese Jahre, in denen Chile ‚geschlafen‘ hat, von den Wunden geprägt waren, die die Diktatur hinterlassen hatte. Dass sich unsere Eltern in diesem System eingerichtet hatten, weil sie jetzt wenigstens nicht mehr umgebracht und gefoltert wurden. Der erste Tag der Revolte war sehr intensiv. Das war ein Gefühl von Glückseligkeit, dass Chile endlich aufgewacht ist! Aber als um 21 Uhr die Ausgangssperre verhängt wurde, passierten Dinge, die wir bisher nur in Büchern gelesen hatten, die uns unsere Großeltern und Eltern erzählt hatten. Das ging vom höchsten Glück bis zu Angst und Tränen. All diese Emotionen an einem einzigen Tag!“

Der Aufstand zeigt eine tiefe Legitimationskrise des Systems. Parteien und Politiker*innen sind verpönt. Bei einer Umfrage des Forschungsinstitutes CEP im Januar bekundeten gerade noch sechs Prozent ihre Zustimmung zu Präsident Piñera; noch weiter ist das Vertrauen in den Kongress (drei Prozent) und die politischen Parteien (zwei Prozent) gesunken. Die repräsentative Demokratie ist diskreditiert. Die Menschen möchten für sich selbst sprechen und bestimmen. Sie sind skeptisch gegenüber Führungsfiguren. Während die Parteien gemeinsam versuchen, den Aufstand niederzuschlagen (auch Abgeordnete der linken Frente Amplio stimmten im Dezember für die Verschärfung des Demonstrationsrechtes), wird auf der Straße ernsthaft über andere Gesellschaftsmodelle diskutiert. Marita macht sich Gedanken darüber, ob sie dadurch, dass sie das Cabildo vorbereiten, nicht schon zu sehr in eine Führungsrolle geraten: „Wir versuchen das beizubehalten, dass es keine Anführer gibt, aber trotzdem muss sich jemand darum kümmern, dass die Dinge wirklich passieren. Das ist manchmal ziemlich anstrengend. Man muss manche Leute daran erinnern, dass sie Aufgaben übernommen haben. Es geht nicht um Repräsentation, sondern um Verantwortung. Wir versuchen trotzdem, dass wir alle bei diesen Aufgaben rotieren.“

Neben dem Cabildo organisieren sie auch kulturelle Veranstaltungen, die sich die meisten Nachbar*innen in der Población ansonsten nicht leisten können, und es gibt gemeinsames Essen: „Wir haben dazu eingeladen, um wieder Gemeinschaft herzustellen. Um zu teilen. Wenn wir nochmal in eine Situation kommen wie beim Putsch, wo die Armen nichts zu essen hatten, wären wir darauf vorbereitet zu teilen. Das kapitalistische System bringt dir bei, dass das, was du bezahlt hast, dir gehört. Aber wir können zeigen, dass das auch anders geht. In diesem Sinne haben wir dazu aufgerufen, Brot oder Kekse mitzubringen, Tee oder Saft, um das während der Versammlung zu teilen.“

Die Kritik am Neoliberalismus bezieht sich nicht nur auf die materielle Armut. Es geht auch um die Zurichtung der Menschen. Zum neoliberalen Subjekt gehören Erfolg und Konkurrenz. Violeta merkt selbstkritisch an, dass auch sie andere diskriminiert und sich als etwas Besseres gefühlt hätten. Auch sie hätten sich vorher nicht um die Repression gegen die Mapuche oder das Elend der Heimkinder gekümmert. „Das System bringt dir über das Fernsehen und die ganzen Netzwerke bei, dass Konsum etwas Gutes ist. Eine Person, die es nicht schafft zu reisen, ein Auto zu haben oder in den teuren Läden einzukaufen, gilt als Außenseiter. Konsumieren war das Normale. Deshalb fielst du in eine Depression, wenn du nicht mithalten konntest. Das hat den Individualismus verstärkt. Auch in der Schule bringen sie uns bei, dass wir die Besten sein müssen. Besser als die anderen. Abgesehen von den ökonomischen hatten wir auch menschliche Defizite. Dies ist ein System mit sehr wenig Empathie, wo ich mich nicht in den anderen hineinversetze, sondern mich nur um mich kümmere. Diese Revolution ist auch deswegen gut für uns, weil wir uns jetzt über die Gesellschaft informieren. Wir verstehen jetzt, dass die Ursachen unserer Probleme in einem neoliberalen System liegen, das von der Verfassung geschützt wird. Vorher haben wir in den Tag hineingelebt.“

Ganz ähnliche Erfahrungen von Politisierung hat Gabriela, die als Fotografin die Demonstrationen im Zentrum von Santiago und in den Poblaciones begleitet, bei der Asamblea in ihrem Stadtteil gemacht: „Meine Población Nueva Habana hat eine lange Geschichte von Mobilisierungen. Aber wo ich wohne, lebten die Leute in ihren vier Wänden und waren schwer zu etwas zu bewegen. Diesmal kamen sie jedoch beim Cacerolazo aus allen Ecken auf dem zentralen Platz zusammen, mit eigenen Vorschlägen, von den kleinsten Kleinigkeiten bis hin zu großen Organisationsfragen. Und das ist in fast allen Poblaciones passiert. Als es um einen Sprecher ging, waren sich alle einig, dass dies eine Organisation der Bewohner und Bewohnerinnen der Población ist. Nicht mehr. Es soll dort keine politischen Parteien geben, und keine persönlichen oder individuellen Interessen.

Eine der ersten Entscheidungen auf dem Platz war, das Mikrofon für alle, die sprechen wollten, zu öffnen. Und dann sprachen die unterschiedlichsten Leute, von einer Führungsperson der FENAPO, welche die Obdachlosen organisiert und viel Erfahrung mit Reden hat, bis hin zu einer Frau, die erzählte, dass sie psychische Probleme hat, ihre Medikamente nicht bezahlen kann und deshalb aus dem Gleichgewicht gerät. Da traute sich eine Frau, das Mikrofon zu nehmen und das zu erzählen, was alle verheimlichten! Alle waren verschuldet, aber niemand sollte es merken. Alle wussten, dass die Leute winzige Renten bekommen, aber vorher wurde nicht darüber geredet. Opas mit 70 Jahren arbeiteten weiter und waren stolz darauf, sie redeten nicht über ihre Armut. Aber wer arbeitet schon gerne mit 70 Jahren draußen, macht mit einem kaputten Rücken noch Gartenarbeiten? In diesem Land sind viele Leute mit Kreditkarten hoch verschuldet. Wenn sie am Monatsende kein Geld mehr hatten, benutzten sie die Kreditkarten, um Lebensmittel zu kaufen. Außerdem musstest du viele Überstunden machen für den extremen Konsumismus, wo schon Kindern Handys für 300000 Pesos geschenkt werden, was dem Mindestlohn eines Arbeiters entspricht. Alle diese Leute haben sich gegenseitig vorgespielt, dass sie gut leben, haben den Nachbarn erzählt, dass es ihnen gut geht, dass sie den größten Fernseher haben. Mit dem Aufstand ist bei uns allen diese Maske gefallen. Und wir sind alle viel kommunikativer geworden! Jetzt ist es einfacher, die Geschäfte dazu zu bringen, für die Volksküchen zu spenden. Weil es mehr solche Ereignisse gibt, bei denen geteilt wird, aber auch weil wir angefangen haben, miteinander zu reden. Die Leute haben aufgehört, sich Lügengeschichten zu erzählen. Sie haben begonnen, sich als das zu fühlen, was sie sind. Nicht mehr als Mittelschicht, sondern als Arbeiterklasse.“

Für April ist ein Referendum angesetzt über die Änderung der Verfassung, die noch aus der Diktatur stammt. Die Aufnahme dieser Forderung in die politische Agenda ist ein Versuch, den Protest in die institutionellen Formen zu kanalisieren. Viele wie Nora befürchten, dass auf diesem Weg keine großen Veränderungen zu erreichen sind: „Abstimmungen können schon was bringen, aber die Demonstrationen bewegen viel mehr. Nur so können wir die Verfassung ändern. Wenn heute ein Politiker ein ungerechtes Gesetz einbringt, wird das Volk wieder ganz Santiago in Brand setzen. Es wird wieder geplündert werden, und wenn sie uns wieder nicht zuhören, werden wir noch mehr destruktive Waffen ausgraben müssen. Das Wichtigste ist das, was wir heute machen: eine Revolution auf der Straße.“ Über diese Fragen wird zurzeit heftig diskutiert, denn es wäre ebenfalls ein fataler Sieg des Systems, wenn die Verfassungsänderung aufgrund von Stimmenthaltungen keine Mehrheit fände. Von daher machen die verschiedensten Gruppen Kampagnen, beim Referendum für eine Verfassungsänderung zu stimmen und für eine verfassunggebende Versammlung ohne die herrschenden Parteien. Aber es wird auch weiter demonstriert, und die Aktivist*innen stellen sich auf einen langen Kampf ein: „Wir wissen, dass das hier erst der Anfang ist. Dieser Aufbruch ist etwas sehr Schönes. Die Jugendlichen haben diese Bewegung in Gang gebracht. Von daher haben wir noch viel Energie, um weiter zu kämpfen. Wir können jetzt nicht aufgeben, weil wir immer noch nichts erreicht haben. Außer, dass wir hier die Gemeinschaft geschaffen haben, und das ist schon ein großer Fortschritt. Piñera muss weg, aber er ist nicht das Problem, er ist nur eine Marionette. Das Problem geht viel tiefer. Es geht ja nicht nur um Chile. Es geht um die ganze Welt. Es geht um den Kapitalismus.“

Siehe zum Thema die Fotos von AFI Santiago, Asociaciones de Fotógrafos Independientes

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