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Kunst, die sich einmischte

Ein empfehlenswertes Buch von Jens Kastner über die Künstler*innenbewegung „Los Grupos“ im Mexiko der 1970er-Jahre
Laura Held

Unter dem herausfordernden Titel „Kunst, Kampf, Kollektivität“ veröffentlichte Jens Kastner 2019 in der Reihe Tranvía Sur eine Studie über die mexikanische Künstler*innenbewegung Los Grupos. Die Arbeit beruht auf Forschungen und Interviews, die der Autor in den 2010er-Jahren in Mexiko führte.  Schon lange beschäftigt sich Kastner mit den Schnittpunkten, Überlappungen und Einflüssen der Themenbereiche Kunst und Politik. Dabei ist er einerseits sehr von der Kunstfeldtheorie Pierre Bourdieus geprägt, steht aber andererseits den aktuellen sozialen Bewegungen nahe: Er schreibt zum Beispiel über Occupy oder die Zapatist*innen. Ein besonderes Interesse gilt der lateinamerikanischen Konzeptkunst. Diese nennt er mit den Worten des peruanischen Kunsthistorikers Juan Acha lieber no-objetualismo.  Neben klassischen künstlerischen Ausdrucksformen umfasse diese Form vor allem „Körperaktionen“ wie Performances, Happenings und andere Aktionskunst sowie Arbeiten mit allen möglichen, oft gefundenen Objekten und Materialien. All diese Kunstformen prägten sich in Lateinamerika ganz besondere aus, da sie, so die These des Autors, eng mit den politisch-transformatorischen Strömungen der Zeit verknüpft, nicht nur den Kunstbetrieb, sondern auch die Gesamtgesellschaft veränderten.

Die Bewegungen der künstlerischen Gruppen in Mexiko fanden in einem revolutionären Umfeld statt. Die brutale Niederschlagung der Studierendenbewegung auf dem Platz der drei Kulturen am 2. Oktober 1968 (Massaker von Tlatelolco), die anschließende Umarmungspolitik der längst zentralistisch-autoritär und immer korrupter gewordenen ehemaligen Revolutionspartei PRI gegenüber Künstler*innen und Schriftsteller*innen, die gleichzeitige brutale Praxis des Verschwindenlassens wirklicher oder vermeintlicher Regimegegner*innen, Aufstände der verarmten Mittelschicht und der Landbevölkerung, zunehmende Urbanisierung sowie die internationalen Revolten bestimmten auch die künstlerischen Entscheidungen der vielen Künstler*innen-Kollektive, eben Los Grupos, die sich in den 1970er-Jahren zumeist in Mexiko-Stadt gründeten. Sie ließen sich wie viele Schriftsteller*innen und Intellektuelle nicht von der Regierung kooptieren, nannten sich zum Beispiel Grupo Proceso Pentágono (1976–1985, danach einzelne Aktionen bis 1997), Taller de Arte y Ideología (1974 - Mitte der 1980er), No Grupo (1977-1983), Grupo Suma (1976-1982) oder Tepito Arte Acá (1973-1997), Grupo Mira (1965-1982), El Colectivo (1976-1979), Grupo Germinal, Grupo Março, Tetraedo. Die Künstler*innen organisierten sich bewusst kollektiv, diskutierten viel über ihr Selbstverständnis, ihre Aktionsformen und für wen sie Kunst produzierten, opponierten gegen den offiziellen Kunstbetrieb ebenso wie den Konsumismus und verstanden sich als Teil der sozialrevolutionären Bewegung. Ein wichtiger Bezugspunkt war die 1978 gegründete Frente Mexicano de Trabajadores de la Cultura, deren Auflösung 1982 große Auswirkungen auf die Bewegung hatte.

Typische Aktionen waren zum Beispiel El secuestro (Die Entführung), wo sich drei Mitglieder der Gruppe Pentágono vor dem Palacio de Bellas Artes in Mexiko DF auf einen vierten stürzten, ihm einen Sack über den Kopf zogen und ihn von der Straße zogen – eine direkte Konfrontation der Zuschauer*innen mit dem schmutzigen Krieg der Regierung in den 70er-Jahren. Bei der Biennale in Paris 1977 stellten sie in einem Raum die Staatsausgaben der Regierungen Lateinamerikas in den vorangegangenen Jahren für Militär und Bildung grafisch dar. Während Pentágono trotz aller Kritik auch Einladungen offizieller Kunstbetriebe annahm, arbeiteten andere mehr auf der Straße und mit bis dahin wenig kunst-affinen Bevölkerungsschichten.

Die Grupo Suma benutzte Bauzäune, Stadionwände und Straßenecken für ihre Kunst, wie zum Beispiel die mit Sprühschablonen aufgebrachten Schattenmänner mit Aktentaschen (El Burócrato), die damals unschwer als PRI-Politiker identifiziert wurden, oder sie druckten die Gesichter von Verschwundenen auf Süßigkeitentüten oder Zeitungsblätter.

El Colectivo organisierte Installationen in Barrios mit 15 gestapelten Pappkartons (El Circuito Interno), mit denen sie den inneren Zirkel der Macht ohne Transparenz und Partizipationsmöglichkeiten in Workshops präsentierten. Die zwischen 1960 und 1980 überaus wichtige Arte correo (engl. Mail Art), eine mit Briefen, Postkarten, Telegrammen oder Faxen meist über Ländergrenzen hinweg transportierte Mischung aus Minipostern und Wortkunst, war ebenfalls Bestandteil der künstlerischen Arbeit vieler Gruppen. Es war einfach, wenig aufwändig, internationalistisch, schuf eine Gegenöffentlichkeit und unterlief die staatliche Repression.

Bekannt geworden ist das Poema Colectivo Revolución ab 1981, wo über 300 Künstler*innen aus der ganzen Welt ihr Verständnis von Revolution artikulierten. Germinal und Taller de Investigación Plástica (TIP) führten wie viele andere neben Kunstaktionen auch Befragungen, Diskussionen und Workshops durch, um eine neue, kollektive, dekoloniale und antiimperialistische Kunst zusammen mit den Rezipient*innen zu entwickeln.

No Grupo war, wie der Name schon nahelegt, mit ihren oft ironischen und sarkastischen Aktionen eine Reaktion auf die als zu strikt empfundene politische Kunst. Marisa Bustamente, eine der wenigen Frauen in der Bewegung, zog sich 1982 während mehrerer Aktionen der Gruppe eine Maske mit einem Penis als Nase über das Gesicht. Diese als Instrumento de Trabajo (Arbeitsinstrument) betitelte Arbeit war eine der wenigen feministischen Aktionen der Grupos und thematisierte die ungleiche Anerkennung der Arbeit von Frauen und Männern. Nach der Auflösung von No Grupo 1983 gründete Bustamente zusammen mit Mónica Meyer die feministische Gruppe El Polvo de Gallina Negra (1983-1993). Auch wenn uns all diese Aktionsformen der Grupos heute bekannt vorkommen – damals waren sie absolutes Neuland.

Kastner beschreibt aber nicht nur Genese und Entwicklung der Grupos. Mit ihrem Bezug auf und ihrer Abgrenzung zum staatstragend gewordenen Muralismo (Wandmalerei) interessiert er sich vor allem für die Frage, ob Kunst eine gesellschaftsverändernde Wirkung haben kann. Den theoretischen Rahmen dazu umfasst der größte Teil des Buches. Wie bereits erwähnt, setzt er sich dabei intensiv mit Bourdieus Kunstfeldtheorie auseinander. Er fragt, ob Konflikte und Kämpfe im Kulturbereich, also um Symbole, Werte, Kommunikationskanäle, Sichtweisen und Glaubenssätze,  die Bourdieu zugeschriebene Stärkung und Erneuerung der Klassen- und Milieuzugehörigkeit (Kunst für Eliten reproduziert diese Eliten) nicht auch angreifen und in Frage stellen können. Für die untersuchten Gruppen im Mexiko der 1970er-Jahre bejaht er das. Durch ihre Verknüpfung mit den sozialen Bewegungen hätten sie die bisher feststehenden Bedingungen des Sozialen infrage gestellt, ohne sie deshalb aber ins Wanken gebracht haben zu können.

Waren die Gruppen seit der Auflösung der Frente Mexicano de Trabajadores de la Cultura 1982 nahezu vergessen, galten als gescheitert und tauchten in den kunsthistorischen Auseinandersetzungen zunächst nicht auf, hat sich das Bild seit der Ausstellung La Era de la discrepancia (Die Ära der Diskrepanzen, Kunst und visuelle Kulturen in Mexiko 1968 bis 1997, Mexiko Stadt 2007; Buenos Aires 2008) gewandelt. Seit den 2010er-Jahren gibt es vielfältige Untersuchungen, Ausstellungen, Interviews und Studien über die Grupos. Dieses Buch ist eine davon. Nicht zuletzt sind viele ihrer Aktionsformen heute aus dem Kunstgeschehen nicht mehr wegzudenken. Kollektivisitsche Organisierung, die Abkehr vom offiziellen Kunstmarkt, die direkten künstlerischen Interventionen auf der Straße, die anti-elitäre Ausstellungspraxis sowie die Beteiligung der Zuschauer*innen bestätigen Kastners These, dass Los Grupos die Grenzen des Kunstfeldes erweitert haben. So verstandene und gelebte Kunst ist ein Mittel im Kampf um kulturelle Hegemonie.