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Sie warfen Flaschen und Steine auf uns

Der Film „Una Banda de Chicas“ dokumentiert die Musikerinnen-Szene in Buenos Aires
Britt Weyde

Es fängt mit einer für Argentinien archetypischen Szenerie an: beim Asado, dem gemütlichen Grillen. Also bei der Lieblingsbeschäftigung der allermeisten Einheimischen vom Río de la Plata. Hier setzt Filmemacherin Marilina Giménez ihre ehemaligen Mitmusikerinnen der 2013 aufgelösten Elektropop-Band Yilet in Szene. Die Inszenierung ist Dogma-Style. Die Kamera wackelt, der Mikrofonständer baumelt ins Bild, was wortreich ausdiskutiert wird. Wir sind direkt mitten drin in einem speziellen Mikrokosmos von Buenos Aires: der weiblichen und queeren Musikszene dieser Stadt.

„Ich habe den Bass gegen die Kamera getauscht“, sagt Regisseurin Giménez. „Als ich noch bei Yilet spielte, wurden wir immer für Auftritte mit anderen Frauenbands gebucht. Warum eigentlich?“ Sie waren nicht sehr bekannt. Tauchten weder in Zeitschriften noch im Fernsehen auf. „Wir schienen auf ewig für den Underground bestimmt zu sein. Ich fragte mich: Welche Rolle haben Frauen in der aktuellen Musikszene? Was geschieht, wenn sie die Musik spielen, auf die sie Bock haben? Was passiert, wenn ihre Körper auf der Bühne aggressiv und sinnlich zugleich sind?“ Giménez begann bei Konzerten zu filmen und eine Chronik der weiblichen Musikszene im Buenos Aires der letzten Jahre zusammenzustellen. Ihr Ergebnis nennt sie ein „musikalisches Manifest“. Im November 2019 hatte der Film in Argentinien Premiere, seitdem ist er auf Festivals zu sehen. Der Film möchte die „Normalität“ des Patriarchats untergraben, das im Musik-Business immer noch ziemlich fest im Sattel sitzt. Musik von Frauen wird weniger wahrgenommen, viel seltener im Radio gespielt und schlechter bezahlt.

Die nächste Szene spielt im Kinosaal. Musikerinnen gucken sich einen Musikfilm an, im Off hört man ihre Kommentare: „Warum sind da immer nur Männer zu sehen?“ Sie erzählen von ihren Erfahrungen, von vergifteten Komplimenten: „Du spielst wie ein Mann“. Oder von der Erwartung, dass sie als Frauen bestimmte Musik zu spielen hätten. „Im Musikbusiness wird eine Frau nur dann akzeptiert, wenn sie schön und richtig singt. Über eine freie, selbstbestimmte Frau werden Witze gemacht oder sie wird zum Beispiel als ‚drogensüchtige Nutte‘ diskreditiert“. Paula Maffía von dem siebenköpfigen Orchester Las Taradas, die eine melodische Mischung aus Rumba Flamenca, Swing, Cumbia und Bossa Nova machen, hat eine Metapher parat, um die Malaise zu beschreiben: „Der Begriff ‚Rockstar‘ spiegelt das Bild vom Sonnensystem wider, das voller männlicher Sterne ist. Drum herum kreisen kleine Planeten. Das sind die Musen oder Background-Sängerinnen“.

Lucy Patané, Gitarristin der Taradas, erinnert sich: Als sie 13 war, sah sie Gitarristin Pilar von den She Devils auf der Bühne. „Da ist etwas in meinem Kopf explodiert“. Eine rein weibliche Punkband auf argentinischen Bühnen, das war anno 1998 tatsächlich noch absolut unerhört. Illustriert wird dies durch eine Aufnahme aus jener Zeit. Die drei She Devils Pilar Arrese, Inés Laurencena und Patricia Pietrafesa spielen Naturaleza muerta. Im Publikum sind pogende Jungs und Männer zu sehen. „Sie warfen Flaschen und Steine auf uns“, erzählt Bassistin Patricia. „Das war wie im Krieg“, ergänzt Pilar. Sie mussten damals richtig hart sein und um ihren Platz auf der Bühne kämpfen.

Als Pilar von den Kumbia Queers gefragt wird, ob sie Frauen kenne, die als Produzentinnen tätig sind, muss sie überlegen. Eine fällt ihr schließlich ein: Lucy von den Taradas. Wir sehen diese Ausnahmeerscheinung im Tonstudio, wie sie den Hit der Band, Qué no, qué no, abmischt, eine Hymne auf die freie Liebe. Es gibt kaum Toningenieurinnen oder Tonmischerinnen bei Live-Shows. Und die in dieser Männerdomäne tätigen Kerle zeigen es deutlich, wenn ihnen die Frauen auf der Bühne zu selbstbewusst sind. „Den Typen gefällt es nicht, wenn eine Frau ihnen sagt, wie er sie einzupegeln hat“. Ein Weg, um sich Anfeindungen und Demütigungen entgegenzustellen, ist es, die Sachen von A bis Z selbst in die Hand zu nehmen, etwa ein all-female Festival selbst zu organisieren, erzählt Chocolate Remix, Pionierin des weiblichen Reggaetón (siehe ila 406 und ila 416).

Der Musikbetrieb ist Teil des Nachtlebens und der Partywelt, gerade dort gibt es viele Grauzonen und Kontrollverlust. Sängerin Ludmila Guerzoni von der Postpunk-Band Liers erzählt von Sprüchen und Übergriffen „Wie kannst du nur so rumlaufen?! Wirst du nicht angemacht? – Das werde ich oft gefragt. Ich finde, Frauen sollten keine Angst haben. Ich habe mit 13 etwas Schreckliches erlebt. Aber seit diesem Wendepunkt bin ich stärker.“ Paula Maffía von den Taradas bestätigt solche Erfahrungen: „Ich habe mehr Schwänze im Leben gesehen, als ich sehen wollte. Es gab Tausende von übergriffigen Situationen. Werde ich jemals eine Tochter haben? Als wir jünger waren, war das alles noch viel schlimmer.“

Aber es tut sich etwas. Eine der größten Bewegungen im Argentinien der letzten Jahre richtet sich eben gegen die ubiquitäre sexualisierte Gewalt und gegen Feminizide. Die ersten riesigen Demos unter dem Motto Ni una menos fanden in Argentinien am 3. Juni 2015 statt. Demo-Aufnahmen werden gezeigt. Natürlich sind auch unsere Musikerinnen vor Ort, zentral im Bild ist Pilar von den Kumbia Queers mit ihrer Tochter auf dem Rücken.

Schnitt. Chocolate Remix performt Ni una menos. Bei diesem Song, egal ob live, vom Band oder Video, stellen sich nach wie vor die Armhärchen auf. Romina Bernardo, a.k.a Chocolate Remix, ist im Jahr 2017 von der BBC zu einer von hundert „innovativen und inspirierenden Personen“ gewählt worden. Im Frühsommer 2020 kommt sie übrigens wieder auf Tour nach Europa.

María Paz Ferreyra ist eine geniale Autodidaktin. Unter dem Künstlerinnennamen Miss Bolivia, angelehnt an den Namen der Straße, in der sie wohnte, macht sie eine extrem tanzbare Mischung aus Cumbia, Hiphop und Reggae. Der Film zeigt sie mit einem ihrer Hits Tómate el palo, in etwa „Warum verpisst du dich nicht einfach“. Frei nach dem Motto: Besser alleine, als schlecht begleitet – toxische Beziehungen besser beenden! „Dieser Song hat mich überrascht“, begeistert sich Miss Bolivia. „Er hatte einen Riesenerfolg über alle Altersstufen und Klassen hinweg“. Sie hatte wohl einen Nerv getroffen, inhaltlich. Musikalisch catchy ist der Song sowieso.

Auftritt Sasha Sathya. Sie macht queeren Pop-Trap, in ihren Songs mit Titeln wie Ladealer oder Wacha schmachtet sie, mit Autotune hochgepitcht, ins Mikro. Nach dem Gig verlässt sie mit ihrer Crew den Club, wird von einem angetrunkenen Typen belästigt. Sasha Sathyas Reaktion: Nach einem Wortgefecht gibt sie dem nervenden Kerl kurzerhand eine Kopfnuss. Sasha hat sich früher ihren Lebensunterhalt als Sex-Arbeiterin verdient.

Schnitt. „Mädchen singen, was sie wollen. Machen, was sie wollen“ singt das Electropop-Duo Kobra Kei. Die beiden Schwestern performen den Song La Punta. Die eine der beiden, Blancanieves („Schneewittchen“), sagte mal in einem Interview mit DMAG, dass Musik für sie Sexualität sei. Ein Instrument zu spielen sei ein sexueller Akt.

Zurück in die Realität. Wir sehen die Musikerinnen, wie sie sich für das Abtreibungsgesetz einsetzen. Im Zentrum von Buenos Aires gibt es ein großes Wiedersehen. Dann die denkwürdige, ungemütliche Regennacht im August 2018 vor dem argentinischen Kongress. Patricia von den Kumbia Queers erzählt: „Vor 20 Jahren spielten wir hier schon mal für die Entkriminalisierung der Abtreibung. Damals waren 50 Leute im Publikum.“

Ein knappes Dutzend Acts wird in dem Film porträtiert. „Auf den großen Bühnen herrscht immer noch ein krasses Übergewicht an Jungs-Bands, aber im Underground sind wir sooo viele“, kommentiert Pilar von den Kumbia Queers. „Die hätten alle eine Chance verdient, bekannter zu werden“. Und wie viele es gibt, zeigt der beeindruckende Abspann, der gut 100 Bands und Künstlerinnen nennt, die der Rezensentin unbekannt sind. Eigentlich wollte Filmemacherin Giménez Musikerinnen aus ganz Lateinamerika vorstellen. Gut, dass sie sich beschränkt hat. So haben die starken Persönlichkeiten, die exzellenten Musikerinnen samt ihrer auf den Punkt gebrachten Aussagen und die nah dran gedrehten Konzertszenen genügend Raum im Film. Dass der Film dramaturgisch nicht absolut ausgereift ist und eher punkig-collagenhaft daherkommt, tut dem keinen Abbruch. Dafür versöhnen das Wiedersehen mit den Lieblingsmusikerinnen und das Entdecken von neuen spannenden Acts