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Die Corona-Quarantäne-Odyssee

Wie ein Reisender aus Köln den März 2020 in Kolumbien erlebte

Im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern belegt Kolumbien Ende März eine mittlere Position, was die Verbreitung des Coronavirus anbelangt. Dennoch erwischt die Corona-Krise das Land mit seinen strukturellen Problemen hart. Auch dort ist das Gesundheitssystem größtenteils privatisiert und überlastet, breite Teile der Bevölkerung sind besonders verletzlich, weil sie knapp über der Armutsgrenze leben und im informellen Sektor oder im schlecht bezahlten Care-Bereich arbeiten. Die kolumbianischen Gefängnisse sind berühmt für ihre Überbelegung (bis zu 200 Prozent), die dortigen sanitären Standards sind menschenunwürdig (siehe ila 394). Ende März kam es wegen der Katastrophe, die massenweise Corona-Infizierte in den Gefängnissen bedeuten würden, zu Rebellionen in vier Anstalten mit über 20 Toten. Die Bürgermeisterin von Bogotá, Claudia López, gab angesichts des drohenden Corona-Notstands schnell die Kümmerin und verhängte Mitte März die Ausgangssperre für die Hauptstadt; Präsident Iván Duque zog ab dem 22. März für das gesamte Land nach.

Britt Weyde

Während seines Studiums war Peter Förster oft in Kolumbien, er hat viele Freund*innen in dem Land. Im März 2020 wollte der 37-jährige Deutschlehrer Leute vor Ort besuchen, schon seit vielen Jahren war er nicht mehr dort. Doch kurz nach seiner Ankunft wurde er krank. Grippe. Oder vielleicht sogar Corona? Sicherheitshalber begab er sich ins Krankenhaus. „Schon kurz nach meiner Ankunft Ende Februar bekam ich Husten und andere Symptome. Ich war mir aber sicher, dass ich nicht mit dem Coronavirus infiziert bin. Sicherheitshalber bin ich trotzdem in San José Guaviare zu einer Notaufnahme gegangen.“ Diese ländliche Region liegt etwa 400 Kilometer südöstlich von der Hauptstadt Bogotá. „Ich wurde sehr freundlich aufgenommen und es wurde mir sofort ein Abstrich abgenommen“, erzählt Förster. Die Probe wurde nach Bogotá geschickt. „Die Quarantäne verbrachte ich in einem Hotel. Allerdings hatte einer der Ärzte meinen Fall öffentlich gemacht. Daraufhin riefen einige Leute bei der Polizei und dem Krankenhaus an: Ein Deutscher wäre im Kino gesehen worden und andere Sachen. Das war sehr ärgerlich und hat in der Bevölkerung für Unruhe gesorgt. Die Leute vom Krankenhaus entschuldigten sich dafür.“

Nach vier Tagen bekam Peter F. das Ergebnis aus Bogotá: negativ. Doch seine surreale Corona-Odyssee durch Kolumbien war noch nicht zu Ende. „Eine ähnliche Situation hatten wir später mit Freunden in einem anderen kleinen Ort auf dem Land, in Lejanías, auf der Finca einer Freundin. Der Verwalter der Finca rief vorsichtshalber einen Arzt an: Wie das denn jetzt mit Corona sei, wenn Ausländer kommen. Statt mit uns oder dem Verwalter Rücksprache zu halten, hat dieser Arzt das direkt öffentlich gemacht: Es wären Deutsche im Ort und es sei absolut unverantwortlich, dass die im Dorf spazieren gehen! Das hat wieder zu Unruhe in der Bevölkerung geführt. So mussten wir auch in Lejanías in Quarantäne. Im Allgemeinen waren die Leute aber in beiden Orten sehr freundlich zu uns, wir hatten keine Probleme mit Anfeindungen. Es gibt eben Einzelne, die unverantwortlich handeln und für Unruhe sorgen. Die Behörden gingen aber sehr vernünftig damit um.“

Was für eine verkehrte Welt: Dass man als Europäer, der sonst immer alle Privilegien genossen hat – Reisefreiheit und so weiter –, nun als Gefahr, als derjenige, der von außen das Virus einschleppt, angesehen wird. „In San José de Guaviare war es ein Radio“, erzählt Peter Förster, „über das sich die Unheilsnachricht schnell verbreitete, dann über Facebook. In Lejanías war es eine Whatsapp-Mitteilung. Insgesamt sind die sozialen Medien insofern problematisch, weil sich darüber Informationen rasend schnell verbreiten.“ Auch wenn sie nur zur Hälfte stimmen. „Und in einer Situation, wo sich – zu Recht – niemand auf staatliches Handeln verlässt, sorgt das für große Verunsicherung.“ Die ganze Aufregung führte dazu, dass Peter Förster den Großteil seines Urlaubs in Quarantäne verbrachte.

„Wenn man weiß, dass sich in den sozialen Medien Nachrichten darüber verbreiten, dass irgendwo Deutsche stecken, die gefährlich seien, ruft das natürlich ein ungutes Gefühl hervor. Und man selber ist isoliert und kann gar nicht handeln. Das ist eine ungewöhnliche Erfahrung. Da kann man vielleicht ein bisschen besser nachvollziehen – auch wenn die Erfahrungen bei weitem nicht vergleichbar sind –, wie sich die Geflüchteten an der griechischen Grenze gerade fühlen müssen: Sie kommen nicht rein und werden zum Sicherheitsrisiko erklärt. Dass diese Menschen jetzt wegen Corona aus dem Blickfeld verschwinden, ist ein Riesenproblem.“

Im Umgang mit der Corona-Krise können die Leute wie überall nicht über einen Kamm geschoren werden. „Ich sehe eine besondere Schwierigkeit“, meint Förster. „Es gibt hier, wie in vielen Ländern Lateinamerikas auch, einen Aufschwung von radikalen christlichen Gruppen, die sehr irrational sind und alles auf ‚Sünden‘ und ‚Schuld‘ zurückführen. Sie gehen davon aus, dass den Gläubigen, die immer beten und sich an Gott wenden, nichts passieren wird.“

Nicht so gute Erfahrungen hatte der Kolumbien-Reisende mit den Maßnahmen der Bundesregierung. „Auch wenn das Personal der deutschen Botschaft am Telefon sehr freundlich ist, hat uns die Bundesregierung und letztlich auch die Botschaft alleine gelassen. Die Flüge sind alle gestrichen, die Fluglinien sind nicht einmal bereit, die Flugkosten zu erstatten, und sagen den Leuten: Guckt, dass ihr irgendwie noch Flüge kriegt. Die Botschaft hat sich überhaupt nicht dafür interessiert. Auch sie sagte: Ihr müsst euch selber um Ersatzflüge kümmern. Angeblich gibt es irgendwelche Rückholprogramme, aber es gibt keine konkreten Informationen. Einzelne Krankenversicherungen haben angekündigt, dass sie aufgrund der Situation ihre Leistungen im Ausland streichen würden, wenn man sich selbst nicht darum bemüht, so schnell wie möglich zurückzukommen. Das ist unglaublich! Die Versicherungen sind doch für solche Fälle da, die individuell nicht zu stemmen sind: dafür zu sorgen, dass jeder eine gute Gesundheitsversorgung hat, gerade in so einer Situation. Ich hoffe, dass es sowohl im Hinblick auf die Fluglinien als auch auf die Krankenversicherungen eine Klagewelle geben wird, dass das politische Konsequenzen hat.“

Für Sonntagnacht, 22. März, hat Peter Förster dann doch noch einen Flug ergattern können. Die letzten Tage verbringt er in Bogotá bei einer Freundin. Viele Gespräche drehen sich um den Umgang mit der drohenden Infektionswelle und um die Maßnahmen der Regierung. Peters Gastgeberin Nadia Catalina Ángel Pardo, eine Sozial- und Erziehungswissenschaftlerin, berichtet, dass es in ganz Kolumbien 220 offizielle COVID-19-Fälle und zwei Tote gebe (Stand: 22. März). „Die Regierung hat sehr langsam reagiert. Ab diesem Wochenende gilt aber eine landesweite Quarantäne, eine sogenannte präventive Isolierung, die zunächst drei Wochen, bis zum 13. April, andauern soll. Personen, die in der Lebensmittelversorgung, in Apotheken und natürlich im Gesundheitssystem arbeiten, dürfen noch auf die Straße, weil sie ja zur Arbeit gelangen müssen. Für alle anderen, die dennoch draußen sind, gibt es Sanktionen wie Bußgelder. Wenn du ohne triftigen Grund mit deinem Auto draußen unterwegs bist und nicht zu den relevanten Berufsgruppen gehörst, können sie dir auch deinen Wagen oder deinen Führerschein wegnehmen. Gerade warten wir auf die Entscheidung darüber, welche Hilfsangebote die Regierung beschließt für die Leute, die im informellen Sektor arbeiten, also von der Hand in den Mund. Ein anderes Problem ist die öffentliche Grundversorgung: Wenn du hierzulande eine Rechnung nicht bezahlst, werden dir Strom oder Wasser sofort abgestellt. Viele Familien haben jetzt schon kein Wasser mehr. Die Beschlüsse zur sozialen Grundversorgung sind wie gesagt sehr zögerlich gefasst worden und die Leute fangen langsam an zu verzweifeln.“

Gustavo Petro von der linken Partei Polo Democrático Alternativo, der 2018 auch für die Präsidentschaft kandidiert hatte, äußerte sich schon früh, als es noch kaum Fälle gab, zu den Maßnahmen, die ergriffen werden müssten. Einige linke und grüne Bürgermeister*innen reagierten darauf und verhängten schon eine Woche früher die Ausgangssperre. „Das Problem dabei war, dass viele Leute anfangs das Problem nicht ernst nahmen“, berichtet Catalina Ángel Pardo. „Als die Ausgangssperre angekündigt wurde, fuhren viele Leute noch mal schnell aufs Land – was natürlich absolut kontraproduktiv ist, weil sich das Virus so erst recht überall verbreitet.“

Auch Präsident Duque erkannt zunächst den Ernst der Bedrohungslage nicht an und zögerte. „Wenn der Präsident abwiegelt, fast schon wie Bolsonaro in Brasilien, dann nehmen das viele Leute nicht ernst“, meint Peter Förster. „In Verbindung mit dem radikalen evangelikalen Glauben ist das fatal: Ich habe viele Leute sagen gehört, dass Corona eine Erfindung sei. Und bezüglich der Ausgangssperre: Viele Menschen können einfach nicht zu Hause bleiben, sie müssen auf die Straße, um Einnahmen zu generieren. Absolut unverantwortlich angesichts der drohenden Corona-Krise finde ich außerdem, dass es nach wie vor Sanktionen gegen Länder wie Venezuela oder Cuba gibt. Und Cuba schickt nun zur Unterstützung medizinisches Personal nach Italien, was eigentlich die anderen europäischen Länder machen müssten. Es ist beschämend.“

Die breiten sozialen Proteste in Kolumbien Ende letzten Jahres forderten auch das Recht auf Gesundheit ein. „Unser Gesundheitssystem hat sehr viele Defizite und wir befürchten, dass es den Anforderungen nicht gewachsen sein wird“, sagt die Sozialwissenschaftlerin. „Einige Oppositionspolitiker fordern nun, dass auch die privaten Krankenhäuser für den Notstand mit verpflichtet werden. Das Militärkrankenhaus schafft bereits Platz für mehr Betten. Es gibt einige Gebäude, die früher Kliniken waren, die aufgrund von Misswirtschaft schließen mussten. Gustavo Petro fordert zum Beispiel, dass diese Gebäude genutzt und für die Versorgung von COVID-19-Patient*innen eingerichtet werden müssten. Und dann gibt es noch die Krankenhäuser, wo Krankenschwestern und Ärzt*innen schon seit drei Monaten kein Gehalt mehr bekommen haben.“

Ende März sind dann alle Grenzen Kolumbiens dicht. Ab der letzten Märzwoche starten auch keine internationalen Flüge mehr. Kurz vor seinem Abflug guckt Peter Förster aus dem Fenster. „Jetzt scheinen die Maßnahmen zu wirken. Das ist absolut beeindruckend, Bogotá mit menschenleeren Straßen zu sehen. Alle Geschäfte sind zu. Alle Hauptverkehrsstraßen sind für den Autoverkehr dicht. Um zurück nach Bogotá zu kommen, musste mich ein Wagen mit Lebensmitteln mitnehmen, Busse durften ja nicht mehr fahren. Das war meine Rettung, sonst hätte ich es nicht mehr hierhin geschafft.“

Das Interview mit Peter Förster und Nadia Catalina Ángel Pardo führte Britt Weyde am 22. März 2020 per Whatsapp.