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Was passiert denn da in meinem Land?

„Rationalste“ restriktive Covid-19-Maßnahmen in der Dominikanischen Republik

„Ich werde spätestens am 1. April ein neues Restaurant aufmachen. Die Leute können dann Frühstück, Mittagessen und Abendessen kaufen. Nicht so wie jetzt nur Hühnchen“, erzählt Alfonso. Es ist Mitte März 2020 in Las Galeras, einem kleinen touristischen Fischerdorf in der Provinz Samaná in der Dominikanischen Republik. Alfonso ist selbstständig und wir sitzen in seinem kleinen Schnellimbiss, in dem er Pica Pollo (frittierte Hühnchen und Kochbananen mit Ketchup und Mayo) verkauft. „Aber wie willst du das denn machen, in Zeiten des Coronavirus und mit der kommenden Quarantäne?“, frage ich ihn. „Das wird funktionieren. Gott wird mir helfen. Und die Menschen müssen auch in der Quarantäne essen. Nicht alle können sich Vorräte für 14 Tage kaufen“, ist er zuversichtlich. Wenige Tage später wurde sein Pica-Pollo-Imbiss von der Polizei geschlossen.

Denise Schaffrinski

Am 22. Februar 2020 reiste über den Flughafen La Romana ein italienischer Tourist ein, der am 1. März zum ersten bekannten Covid-19-Fall in dem karibischen Land wurde. Nach dem Aufkommen weiterer Infektionen und im Zuge der internationalen Grenzschließungen annullierte auch die Dominikanische Republik Mitte März alle touristischen Flüge. Am 20. März verhängte die Regierung schließlich eine 15-tägige nächtliche Ausgangssperre zwischen 17 und 6 Uhr, die zweimal bis zum 30. April verlängert wurde. Bis zum gleichen Datum wurde auch der nationale Notstand ausgerufen. Die Schulen bleiben geschlossen, ebenso wie verschiedene Behörden, Restaurants, Bars, Geschäfte und Dienstleistungsbetriebe. Der Nah- und Fernverkehr sind eingestellt. Alle Bürger*innen sind dazu angehalten, eine soziale Distanz zu wahren und so wenig wie möglich die Häuser zu verlassen.

„Das Traurige sind die Familienväter wie zum Beispiel die Motoconcho-Fahrer. Ich war selber mal Motoconcho-Fahrer. Sie fahren den ganzen Vormittag die Straße auf und ab und finden keine Klienten, weil niemand mehr auf der Straße ist oder die Leute kein Geld haben. Dann kommen sie mittags nach Hause zu ihrer Familie und haben nichts, was sie auf den Tisch bringen können“, sinniert Alberto. Er ist Reiseführer in Las Galeras und befindet sich wie die Mehrheit der im Tourismus arbeitenden Dominikaner*innen in einer schwierigen Situation. Der Tourismus ist die Haupteinnahmequelle für Devisen im Land und steht im Moment komplett still. Allein in der letzten Märzwoche verließen mehr als 70 000 Tourist*innen über den Internationalen Flughafen in Punta Cana das Land. Nahezu alle Hotels haben ihre Mitarbeiter*innen entlassen oder freigestellt, vom Tourismus abhängige Bauprojekte stehen still, Restaurants, Bars und Souvenirläden sind geschlossen. Die Tourismusbranche generiert etwa 8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) und beschäftigt direkt und indirekt etwa 16 Prozent der gesamten Arbeitnehmer*innen im Land. Sie ist eine Säule für andere Branchen wie die Landwirtschaft, den Dienstleistungs- und den Bausektor. Im April 2020 waren bereits 80-90 Prozent der formalen Beschäftigten im Tourismusbereich arbeitslos.

Betrachtet man die ansteigende Covid-19-Kurve, so wird sich dieser Zustand vermutlich in den kommenden Monaten nicht deutlich ändern. Am 23. April verzeichnete die Dominikanische Republik nach offiziellen Zahlen 5543 Infizierte, 265 Verstorbene und 674 Geheilte. In Zentralamerika ist sie aktuell das Land mit der größten Anzahl an Infizierten und Todesfällen. Nach der Meinung des Präsidenten Danilo Medina ist sie trotzdem eines der Länder mit den rationalsten restriktiven Covid-19-Maßnahmen. Am 17. April lobte Medina in einer Fernsehansprache die staatlichen Regelungen und die Aufopferungsbereitschaft der Bevölkerung: „Wir gehören zu den Ländern, die auf der Welt am besten die Regeln für soziale Distanz durchgesetzt haben. Millionen von Dominikanern haben mit Schnelligkeit, Verantwortungsbewusstsein, Solidarität und Gewissenhaftigkeit agiert und das Resultat davon wird man bald sehen … Diese vier Wochen der Isolation und kollektiven Aufopferung tragen bereits die ersten Früchte.“

Entgegen seiner Aussagen kursieren in den sozialen Medien Fotos aus verschiedenen Provinzen, die meterlange Schlangen von dichtgedrängten Menschen vor Banken, Apotheken und Supermärkten zeigen sowie mit Bürger*innen mit Masken und Handschuhen vollgestopfte Straßen. Auf @somospueblord kommentieren Instagram-User*innen die schwache Durchsetzung der Quarantäne mit Erschrecken und Unglauben: „Wenn wir so weitermachen, dann beenden wir das hier erst im Jahr 2069“, schreibt eine Userin und eine andere fragt sich: „Aber was passiert denn da in meinem Land?“

„Danilo hat noch nie etwas Vernünftigeres von sich gegeben“, meint Miguel resigniert. Seine Familie lebt in Punta Rusia im Norden der Insel und wie die Mehrheit der im Ausland lebenden Dominikaner*innen verfolgt er aufmerksam das Geschehen in seinem Heimatland. 2020 ist ein von sozialen Protesten erschüttertes Wahljahr, was die zögerlichen Entscheidungen der Regierung sicherlich beeinflusst. Während der Großteil der Bürger*innen mittlerweile Masken und Handschuhe tragen, wird nur selten ein Sicherheitsabstand eingehalten. Kritiker*innen erklärt Miguel: „Die Menschen kennen diese soziale Distanz nicht. Wie sollen sie die dann von alleine einhalten? Wir haben eine ganz andere Kultur. In vielen Familien schlafen sie zu dritt in einem Bett und zu fünft in einem Zimmer. Das ist normal bei uns. Man trifft sich immer in der Großfamilie und unter Freunden. Das ist nicht wie in Deutschland.“

Aus diesen Gründen fordert das Colegio Médico Dominicano bereits seit März die strikte Durchsetzung einer totalen Quarantäne. Der Gesundheitsminister Rafael Sánchez Cárdenas bat den Präsidenten Mitte April ebenfalls um eine totale Quarantäne für die Dauer von einer Woche: „Die nächtliche Ausgangssperre bringt wenig, wenn sich die Menschen tagsüber wieder treffen.“ Die Ärztegeschwister Ruben und Ligia Peralta warnen zudem vor einer Hungerwelle und einem kollateralen Effekt der Pandemie, dem Kollaps von Krankenhäusern und einem Teil der Wirtschaft, wenn die Coronaviruskurve nicht kontrolliert wird.

Präsident Danilo Medina hält trotzdem an den bisherigen Maßnahmen fest und warnte in einer Ansprache Ende April, dass man bei der Wiederaufnahme nicht notwendiger Geschäftsbetriebe aktuell überflüssige Risiken eingehen würde. Trotzdem öffneten in Las Galeras wenige Tage später erneut Schnellimbisse, kleine Läden und der Gebrauchswarenhandel. „Die Menschen müssen raus. Sie müssen arbeiten. Sie können sonst nicht überleben. Viele sind abhängig von dieser Arbeit und die Hilfe der Regierung erreicht nicht alle. Mit dem Verkauf auf der Straße ernähren viele ihre ganze Familie“, erläutert Miguel. Laut Aussagen des Präsidenten arbeiten 97 Prozent der Dominikaner*innen im Sektor der Mikro-, Klein- und mittleren Unternehmen. Viele von ihnen gehen einer informellen Beschäftigung nach, etwa als ambulante Händler*innen auf den Straßen. Unter ihnen gehören die haitianischen Migrant*innen in der Covid-19-Krise zu den verletzlichsten Personen. Sie fallen aus jedem Regierungsprogramm raus, können aufgrund des eingestellten Nahverkehrs nicht in ihr Heimatland zurückkehren und dürfen nachts nicht auf der Straße schlafen. „Corona oder Hunger“, sagen sie, eines von beiden wird sie treffen.

Viele Dominikaner*innen befürchten Ähnliches und setzen ihre Hoffnung auf staatliche Hilfe. Ende März informierte der Präsident die Bevölkerung darüber, dass im Rahmen des Programms „Bleib zu Hause“ 811 000 Haushalte, die im Besitz einer Solidaritätskarte sind, in den Monaten April und Mai eine Erhöhung der Sozialleistungen von durchschnittlich 1500 Pesos (25 Euro) auf 5000 Pesos (85 Euro) erhalten würden. Diese monatlichen Zahlungen würden vor dem Hintergrund der aktuellen Quarantäne im Rahmen der Komponente „Essen kommt an erster Stelle“ auf die Karte überwiesen werden. Das Geld sei für den Zweck der Versorgung mit Lebensmitteln und Basisprodukten in ausgewählten Einkaufszentren bestimmt.1 Weitere 600 646 begünstigte Familien seien durch eine sozioökonomische Studie der Haushalte von 2018-2019 identifiziert worden und würden ab Anfang April ebenfalls die Solidaritätskarte erhalten. Nach dieser Ankündigung gingen Hunderte von Bürger*innen an verschiedenen Orten auf die Suche nach der besagten Karte. Wochenlang war nicht klar, wie, wo und wann man die staatliche Unterstützung bekommen kann und welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen.

Die mangelhafte Informationspolitik der Regierung führte dazu, dass betrügerische Gruppen erfolgreich an persönliche Daten und Geld kamen, indem sie hoffnungsvollen Bürger*innen die Aushändigung der Karte versprachen. Aktuell erhalten diejenigen Haushalte eine Solidaritätskarte, die als „in extremer Armut lebend“ identifiziert worden sind. Am 23. April informierte die Regierung, dass weitere 70 000 Haushalte in das Programm „Bleib zu Hause“ einbezogen werden, ohne weitere Informationen über deren Auswahl zu geben. Die Bevölkerung wurde dazu aufgefordert, keine Einrichtungen aufzusuchen, um die Solidaritätskarte zu bekommen. Begünstigte Haushalte würden einen Anruf der Behörden erhalten und dadurch über die Aufnahme in das Programm informiert werden. Insgesamt würde die staatliche Unterstützung aktuell etwa 1,5 Millionen Haushalten und sechs Millionen Personen bei einer Einwohner*innenzahl von fast elf Millionen zugutekommen.

Francia ist Albertos Schwester und lebt in La Vega. Sie ist selbstständige Frisörin und ihr Ehemann saisonaler Bauarbeiter. Beide sind durch die Quarantäne momentan arbeitslos und kämpfen darum, zwei Kinder und ein Neugeborenes zu versorgen. Francia erkundigte sich mehrmals persönlich bei verschiedenen Behörden nach der Solidaritätskarte, obwohl die Regierung ausdrücklich dazu aufgefordert hatte, dies zu unterlassen. Mitte April verkündete sie nach einem weiteren Amtsbesuch schließlich glücklich: „Sie haben mir die Karte gegeben! Seit vielen Jahren versuche ich bereits sie zu bekommen. Uff, bestimmt vier bis fünf Jahre versuche ich es schon und niemals hat es geklappt. Gott sei Dank habe ich sie jetzt bekommen.“ Einen Anruf der Behörden erhielt sie nie.

  • 1. Die 5000 Pesos gelten pro Familie. In einem Haushalt darf es nur einen Begünstigten geben. Die Autorin kauft in lokalen Supermärkten und Gemüseläden und gibt für sich alleine im Monat etwa 6000-9000 Pesos für Lebensmittel aus.