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Wir sind darauf eingestellt, die Mobilisierung lange aufrechtzuerhalten

Chilen*innen in Berlin organisieren sich im Cabildo

Schon zu Beginn der Protestbewegung in Chile war auch die Solidarität in Berlin sichtbar: mit Kundgebungen und Parolen, Filmen und Musik, Diskussionen um eine neue Verfassung und dem Aufbau des Cabildo, der Versammlung der Chilen*innen in Berlin. Wenn unvorhersehbare Dinge passieren, wie der Ausbruch von Covid-19, dann ändern sich die Ausdrucksformen der Bewegung. Doch viele Engagierte sind darauf eingestellt, die Mobilisierung für sehr lange Zeit aufrechtzuerhalten.

Ute Löhning

Als selbstorganisierte Versammlung von Chilen*innen in Berlin für ein neues Chile beschreibt sich der Cabildo Berlin Chile, außerdem als multikulturell, pluriethnisch und feministisch orientiert. Er ist offen nicht nur für Chilen*innen, sondern auch für Menschen anderer Nationalität, die einen Bezug zu Chile haben und die Bewegung des „Chile despertó“ unterstützen. Seit deren Beginn im Oktober 2019 trifft sich auch der Cabildo Berlin etwa einmal im Monat. Als sogenannte Kommissionen haben sich Untergruppen gebildet, zum Beispiel für Öffentlichkeitsarbeit, Spendensammlungen und für die Vorbereitung von Aktionen.

Der Cabildo und andere Gruppen und Einzelpersonen in dessen Umfeld organisieren Fotoausstellungen und Filmreihen, feministische Performances und Workshops, Soliparties und andere Spendensammlungen, Kundgebungen und viel Öffentlichkeitsarbeit. Sie verbreiten Informationen über den Estallido Social, die Protestbewegung in Chile in der realen und der virtuellen Welt – das gezwungenermaßen inzwischen mehr denn je. Über Twitter und Facebook veröffentlichen sie in regelmäßigen Abständen Zusammenfassungen der aktuellen Ereignisse. Und sie diskutieren mögliche Wege für ein gerechteres Chile.

Dazu gehört unabdingbar eine neue Verfassung. Auf dem Weg dahin haben die Kommunen in Chile am 15. Dezember 2019 eine Consulta Ciudadana, eine unverbindliche Bürgerbefragung angesetzt, um herauszufinden, wie die Menschen sich den Weg zu einer neuen Verfassung vorstellen. Als Vertretung der Chilen*innen in Berlin hat der Cabildo also auch eine Befragung organisiert, unter freiem Himmel am Neuköllner Hermannplatz.

Um die 100 Chilen*innen sind gekommen, um ihre Stimme an einem provisorischen Wahlstand abzugeben. Auf einem Tisch mit Notizblöcken, Thermoskannen und heißem Tee steht auch ein Karton mit der Aufschrift „Urna. Consulta Ciudadana. Berlin 2019“. Dahinter stehen mehrere Menschen in Winterjacken, mit Mütze und Schal, denn es ist kalt. Einer von ihnen, Mauricio Tapia, zieht die abgegebenen Stimmzettel aus dem Karton, der als Wahlurne dient, und reicht sie Daniela Mondiaca zum Auszählen. 115 Stimmen werden an diesem Sonntag abgegeben.

Auf dem Abstimmungszettel stehen zwölf Fragen. Daniela liest einige vor: „Sind Sie dafür, dass Chile eine neue Verfassung bekommt? Wer soll Ihrer Meinung nach diese Neue Verfassung ausarbeiten? Sind Sie dafür, dass dieses Gremium je zur Hälfte mit Männern und Frauen besetzt wird? Und dass ein bestimmter Anteil der Plätze reserviert wird, um indigene Völker zu repräsentieren, ebenso die Diversität der sexuellen Orientierung oder auch Menschen mit Behinderungen zu vertreten?“ Es folgen weitere Fragen und in der letzten geht es darum, welche sozialen Forderungen den Befragten am wichtigsten sind: „Die Einführung eines funktionierenden öffentlichen Bildungssystems, Renten- und Gesundheitsversorgung für alle, Zugang zu Wasser als Grundrecht und ein würdiger Mindestlohn.“ Die Liste ist noch viel länger. Denn die öffentliche Daseinsvorsorge in Chile ist weitgehend privatisiert. „Nicht nur die Bildung ist in Chile privatisiert, sondern jeder Fleck dieses Landes! Jetzt werden Wasserquellen, Berge, einfach alles verkauft!“, sagt Vivian Moraga. Die Literaturwissenschaftlerin lebt seit fast 20 Jahren in Berlin, arbeitet als Lehrerin, malt und schreibt. An diesem Sonntag ist sie zur Bürgerbefragung gekommen, um ihr Votum abzugeben. „Der einzige Weg, grundlegende Veränderungen umzusetzen, führt über eine neue Verfassung. Und über einen ehrlichen Wandel, in dem die Vorschläge der Bevölkerung gehört werden“, meint Vivian.

Wie das gehen kann, ist eine zentrale Frage, denn im Kern geht es um Teilhabe: Wie können Menschen aus der Protestbewegung, die nicht parteipolitisch organisiert sind, ihre Positionen einbringen? In Chile ist das Misstrauen gegenüber den etablierten Parteien von rechts bis links sehr groß. Viele Menschen fürchten, es könnte zu einer parteipolitisch zwischen Abgeordneten und Experten ausgehandelten neuen Verfassung ohne Veränderungen in den grundlegenden Fragen kommen. Die Positionen der Bewegung in diesem Prozess stark zu machen, scheint die größte Herausforderung zu sein. „Uns allen ist bewusst, dass wir eine jahrelange Aufgabe vor uns haben. Aber wir sehen, dass sich viele soziale Akteure dafür verantwortlich fühlen und diese Mobilisierung aufrechterhalten. Das gibt uns eine gewisse Sicherheit“, sagt Mauricio. Es werde verschiedene Phasen geben, meint er, und es könnten viele unvorhersehbare Dinge passieren: „Dann werden sich vielleicht die Ausdrucksformen der Bewegung ändern. Außer den großen Demonstrationen gibt es zum Beispiel auch viele kulturelle Aktivitäten. Was zählt ist, dass wir die Mobilisierung für sehr lange Zeit aufrechterhalten werden.“

Mit der Corona-Pandemie ist so eine unvorhersehbare Entwicklung eingetreten. In Santiago hat die Bewegung die großen Demos von sich aus von einem Tag auf den anderen ausgesetzt, um die Menschen zu schützen. Inzwischen gibt es wieder einzelne kleine Kundgebungen mit wenigen Menschen, die viel Abstand zueinander halten und dennoch protestieren, etwa für bessere Bedingungen im Gesundheitswesen oder für ein gerechtes Rentensystem.

In Berlin konzentrieren sich die Aktivitäten des Cabildo derzeit auf Online-Initiativen. Die digitale Kommunikation und Vernetzung wird ausgebaut, Online-Diskussionen zur Situation in Chile werden organisiert und geteilt, Videos und Podcasts produziert. Schon seit Monaten halten die in der Bewegung engagierten Künstler*innen eine Welle kreativer Produktivität in Schwung. Ständig werden neue Musiktitel mit Bewegungsbezug getextet, Film­vorführungen organisiert, Performances entwickelt – und über Social Media geteilt. In Zeiten der physischen Distanzierung spielt die Solidarität mit den Gefangenen aus der Bewegung eine große Rolle.

In Testimonios desde la prisión política hat @esresistir, eine Gruppe von Chileninnen in Berlin zusammen mit dem Cabildo Briefe von zwei politischen Häftlingen und der Mutter eines Gefangenen in Chile vertont. „Niemand bringt eine Tochter oder einen Sohn zur Welt, damit sie oder er von der Polizei umgebracht wird. Niemand rechnet damit, wegen einer Demonstration ein Auge zu verlieren, sexueller Gewalt durch Polizisten ausgesetzt zu sein oder im Gefängnis zu landen“, heißt es in der bewegenden Einleitung zu diesem Audiopodcast, und weiter: „Vergessen wir nicht die Gefangenen! Es könnte uns alle treffen, die wir für ein Leben in Würde kämpfen“. In Chile gebe es 2500 politische Gefangene seit der Revolte, und weiter heißt es da, die Prozesse richteten sich gegen die „Übriggebliebenen“: gegen Demonstrierende, Mapuche, Arme, Frauen und Disidencias Sexuales (Menschen, die nicht der zweigeschlechtlichen Heteronorm entsprechen).

Die Stärke der Bewegung liegt auch in ihrer Vielfalt. Neben sozialen Forderungen sind feministische Positionen sowie Kämpfe und Fahnen der indigenen Mapuche bei allen Aktionen sehr präsent. So auch im November 2019 bei einer Kundgebung in Berlin, wo Tamara Lienkura spricht, die als Mapuche in einem der Außenbezirke Santiagos aufgewachsen ist. „Heute fühle ich mich der chilenischen Bevölkerung sehr verbunden“, sagt sie und: „Chilen*innen und Mapuche kämpfen gemeinsam. Das war früher nicht so. Wir sind schon seit langer Zeit dem Antiterrorismus-Gesetz unterworfen. Jetzt trifft es auch andere. Im Kampf gegen den Neoliberalismus laufen alle Gefahr, ein Auge zu verlieren.“

Bei den Auseinandersetzungen mit der chilenischen Polizei haben über 450 Menschen schwere Augenverletzungen erlitten, etwa 30 kamen zu Tode. Europäische und deutsche Kooperationen mit den chilenischen „Sicherheitsorganen“ stehen daher massiv in der Kritik. In der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken1 heißt es, deutsche Polizeidelegationen hätten chilenische Institutionen bei Besuchen im Dezember 2019 und Februar 2020 zur Reform der Polizeiausbildung beraten – „mit Blick auf Deeskalation, Wahrung der Menschenrechte“ – natürlich. Das LKA Baden-Württemberg habe die chilenischen Sicherheitsbehörden bei einem Arbeitsbesuch sogar zum Aufbau einer Dienststelle „Verdeckte Ermittler“ beraten. Finanziert wurde dieser Arbeitsbesuch durch das BKA.2

Besonders kritisiert Luis Cortés von der Menschenrechtskommission des Cabildo Berlin auch deutsche Exporte von Mercedes-Benz, von Wasserwerfern und von Gewehren zum Einsatz von Tränengas. „Wir wollen bei der Bevölkerung in Deutschland ein Bewusstsein dafür aufbauen und appellieren an ihre Verantwortung“, sagt er, „damit die internationale Unterstützung für die in Chile begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Ende hat.“

Podcast „Testimonios desde la prisión política en Chile“ (@esresistir):

https://cloud.cabildo-digital.de/s/cxHT2RCFjyYa6RE

https://open.spotify.com/episode/7egzgB0iXZpCWTPYO1OFlN?si=xwOV94GbTtyFL...

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Ute Löhning ist Print- und Hörfunkjournalistin und häufiger in Chile unterwegs.