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Denn sie wussten, was sie tun

Die deutsche Bundesregierung, die argentinische Militärdiktatur und die Operation Rubikon

Mitten im Ausbruch der Corona-Pandemie strahlte der Sender ZDF Info am 18. März 2020 einen Dokumentarfilm mit dem Titel „Operation Rubikon“ aus (https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/operation-rubikon--100.html). Dieser Film zeigt neue Aspekte über die mehr als enge Zusammenarbeit zwischen der damaligen deutschen Bundesregierung und der argentinischen Militärdiktatur (1976-83).

Roberto Frankenthal

In den 50er-Jahren gründete ein schwedischer Wissenschaftler den Chiffriermaschinenhersteller Crypto AG mit Sitz im Schweizer Steinhausen. Nachdem sich die Firma als Weltmarktführer etabliert hatte, wurde sie zu Beginn der 70er-Jahre an eine liechtensteinische Stiftung verkauft. Die war im Besitz des deutschen Geheimdienstes BND und der US-amerikanischen CIA, was natürlich nicht an die Öffentlichkeit drang. Stiftungsleitung und neue Geschäftsführung der Crypto AG wurden durch Personal der deutschen Siemens AG gestellt, die schon durch die räumliche Nähe in München enge Kontakte zum BND (mit Sitz in Pullach bei München) pflegte.

Die neuen Eigentümer der Crypto AG bauten in die ausgelieferten Chiffriergeräte einen Algorithmus ein, der sie befähigte, die chiffrierten Botschaften, die von den Käufern gesendet wurden, zu entziffern, also mitzulesen oder mitzuhören. Diese Maschinen wurden an ca. 130 Staaten verkauft, darunter auch NATO-Staaten, Länder des Mittleren Ostens (Iran, Saudi-Arabien) und fast alle lateinamerikanischen Diktaturen der 70er- und 80er-Jahre. Erst 1993 trennte sich der BND von der Crypto AG.

Lange wurde vermutet, dass bestimmte westliche Regierungen über die verschiedenen Militärputsche und Staatsstreiche im Lateinamerika der 70er-Jahre relativ gut informiert waren. Jetzt besteht die Gewissheit, dass die bundesdeutsche Regierung exakt Bescheid wusste, denn der BND konnte sämtliche Kommunikationen der südamerikanischen Streitkräfte mithören und weiterleiten. Der BND ist in der deutschen Bundesregierung dem Staatsminister im Kanzleramt unterstellt. Somit hatten die jeweiligen Staatsminister der Regierungen Brandt, Schmidt und Kohl Zugang zu diesen Informationen.

Die bisher offengelegten Akten des deutschen Auswärtigen Amtes aus der damaligen Zeit zeigen nur ein ungefähres Bild der Situation der Länder auf der südlichen Halbkugel, aber die jeweiligen Bundesregierungen waren bestens informiert. Die Vorbereitung des Chile-Putsches 1973 und des argentinischen Umsturzes 1976 waren im damaligen Bonn ganz genau bekannt.

Ebenso bekannt war die länderübergreifende Zusammenarbeit der südamerikanischen Sicherheits- und Streitkräfte bei der Verfolgung Andersdenkender, die unter dem Namen Operación Condor in die Geschichte eingegangen ist. Die Kommunikation zwischen den Militärs der Länder, die an der Operación Condor teilnahmen, wurde durch ein Condortel genanntes Gerät aufrechterhalten, eine Chiffriermaschine der Crypto AG. Die grenzübergreifende Zusammenarbeit beschränkte sich nicht auf die lateinamerikanischen Länder. Die Ermordung des ehemaligen chilenischen Außenministers Orlando Letelier in Washington und das Attentat auf den christdemokratischen chilenischen Abgeordneten Bernardo Leighton in Rom zeigten, dass die Krallen des Condors bis in die USA und nach Europa reichten, unter der Mitwisserschaft des BND und der CIA.

Nach diesem Stand der Dinge erscheint die Haltung der Regierung Schmidt-Genscher zum Verschwindenlassen deutscher Staatsbürger*innen in Argentinien 1976-77 in einem neuen Licht. Denn sehr oft in den letzten Jahrzehnten wurde seitens der deutschen Behörden ihr unzureichendes Engagement mit der Behauptung fehlender Information beziehungsweise der widerwilligen Kooperation der argentinischen Behörden entschuldigt (siehe die Fälle von Klaus Zieschank und Elisabeth Käsemann1). Diese Argumentation bricht in sich zusammen, wenn wie jetzt bekannt feststeht, dass das deutsche Bundeskanzleramt damals über Informationen aus erster Hand verfügte.

In der Minute 21 des Dokumentarfilms „Operation Rubikon“ wird ein weiteres Feld der Zusammenarbeit zwischen dem BND und der argentinischen Militärdiktatur erläutert. Im September 1977 gab es eine gemeinsame Reise von Mitgliedern des deutschen, britischen und französischen Geheimdienstes nach Buenos Aires. Dort sollten sie vom argentinischen Geheimdienst erfahren, wie die Struktur der Operación Condor funktionierte. Das gemeinsame Ziel der Reisegruppe war, auch in Europa eine grenzübergreifende Zusammenarbeit der europäischen Staatsorgane gegen die Subversion zu organisieren. Diese Reise fand wenige Wochen nach der Entführung und Ermordung des BDI-Präsidenten Hanns Martin Schleyer durch die Rote Armee Fraktion statt. Im April 1978 berichtete der CIA-Resident in Buenos Aires seiner Zentrale über diese Reise (siehe National Security-Dok.)

Im Dokument wird die Absicht der Geheimdienste erläutert, eine Condor-ähnliche Struktur in Europa aufzubauen, gleichzeitig wird festgehalten, dass eine Bestätigung für die Teilnahme des französischen Dienstes fehlt. Nach Angaben des BND-Experten Erich Schmidt-Eenboom im Dokumentarfilm ging es dem BND nicht darum, „neue Folterpraktiken oder Mord und Totschlag zu übernehmen“. Ausgehend von der CIA-Information, dass die argentinischen Geheimdienste sehr erfolgreich bei der Infiltrierung subversiver Gruppen seien, habe man sich in der Hysterie der deutschen Dienste nach dem Schleyer-Mord dieses Know-how aneignen wollen.

Der argentinische Journalist Ricardo Ragendorfer veröffentlichte 2016 das Buch Los doblados – la historia de las infiltraciones del Batallon 601 en la guerilla argentina (Die Eingeknickten – die Geschichte der Infiltrierung der argentinischen Guerilla durch das Bataillon 601). Das Bataillon 601 war der Nachrichtendienst der argentinischen Armee.

Im Buch werden drei Fälle ausführlich dargestellt. In einem dieser Fälle spielt ein Offizier, Carlos Alberto Españadero, die Rolle des Führungsoffiziers eines inoffiziellen Mitarbeiters, der dazu beitrug, dass die größte Aktion der argentinischen Guerilla, die Besetzung der Kaserne von Monte Chingolo im Dezember 1975, scheiterte.

Oberst Españadero spielte eine wichtige Rolle innerhalb des Bataillons 601, er leitete die Einsätze des Nachrichtendienstes. Danach war er auch in der deutschen Botschaft in Buenos Aires tätig. Unter den Decknamen Mayor Peirano sollte er dort, nachdem der Oberbefehlshaber der Armee Roberto Viola ihn der deutschen Botschaft als Verbindungsoffizier empfohlen hatte, die Familienangehörigen der deutschen und deutschstämmigen Verschwundenen bei ihren Recherchen über den Verbleib ihrer Angehörigen unterstützen. In keinem Fall, den die Angehörigen ihm vortrugen, war er erfolgreich. Die Gesprächspartner*innen von Mayor Peirano hatten vielmehr den Eindruck, dass er vor allem daran interessiert war, weitere Informationen über die bereits Verschwundenen zu erhalten.

Es gibt widersprüchliche Angaben, ab wann Españadero/Peirano in der deutschen Botschaft tätig war (1977 oder 1978). In einigen Interviews hat der Geheimdienstmann angegeben, dass er nur bis 1977 für das Bataillon 601 tätig war.

Der Zufall wollte es, dass die Reise der europäischen Geheimdienstler nach Buenos Aires gerade zu einem Zeitpunkt stattfand, als einer der größten argentinischen „Fachmänner“ für Infiltrierungen an der bundesrepublikanischen Botschaft in Buenos Aires tätig war. Es ist nicht sehr abwegig zu vermuten, dass Peirano möglicherweise Gespräche mit seinen europäischen Kollegen führte.

Darüber hinaus gab es eine weitere Ebene der Zusammenarbeit zwischen den argentinischen und deutschen Diensten. Schon unter der zivilen Regierung von Isabel Perón (1974-76) wurden Oppositionelle inhaftiert und jahrelang ohne Prozess oder Anklage festgehalten. Sie waren Gefangene zur Verfügung der Exekutive (Presos a disposición del PEN). Die argentinische Verfassung sah aber vor, dass diese Gefangenen nach zwei Jahren in Haft das Recht hatten, ins Exil zu gehen, wenn ein Land ihnen Asyl gewährte. Die Bundesregierung, die noch 1973 mehr als 1000 Exilierte aus Chile aufgenommen hatte, hat nur etwa 40 argentinischen Gefangenen (und ihren Familien) die Möglichkeit geboten, auf diese Weise das Land zu verlassen. Jeder einzelne Fall wurde durch den damaligen Vertreter des BND in der deutschen Botschaft in Buenos Aires überprüft. Es liegt auch nahe, dass die enge Kooperation mit Mitgliedern des argentinischen Geheimdienstes auch ein Grund dafür war, dass Deutschland so wenige Verfolgte aus Argentinien aufnahm.