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Mächtig(,) reich und weiß

Rezension: „Refeudalisierung und Rechtsruck“ von Olaf Kaltmeier
Britt Weyde

In seinem frisch erschienenen Lang-Essay entwirft Olaf Kaltmeier, Professor für Lateinamerikanische Geschichte an der Uni Bielefeld, eine Hypothese, die auf instruktive Weise historische, (kultur-)soziologische, stadtgeografische und ökonomische Ansätze zusammenbringt. Selbst Überlegungen aus der Critical-Whiteness-Debatte werden thematisiert. Der Ausgangspunkt: Weltweit ist eine Tendenz zur Refeudalisierung zu beobachten, die sich darin zeigt, dass die Zahl der Milliardäre zunimmt, Superreiche Politik machen, soziale Polarisierung und sozialräumliche Segregation immer stärker werden, die Reichen sich zunehmend abschotten. Diese Konjunktur spiegelt sich im politischen Feld in der Zunahme autokratischer Herrschaftsformen und dem Angriff auf erkämpfte Rechte und Partizipationsmöglichkeiten wider. Gerade in Lateinamerika zeigt sich diese Konjunktur deutlich. Der Kontinent gilt schon seit den 1960er-Jahren als Region mit der größten sozialen Ungleichheit. Die Linksregierungen der Nullerjahre hatten zwar einige Fortschritte bei der Armutsbekämpfung erzielen können, was jedoch der Verfestigung von Reichtumskonzentration nicht entgegenstand. Für Lateinamerikas Milliardäre, deren Vermögen zu einem guten Teil seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben wird, stellten die Sozialprogramme der sogenannten Pink-Tide-Regierungen keine Bedrohung dar.

Faktenreich stellt Kaltmeier die lateinamerikanische Geldaristokratie vor sowie die Mechanismen, wie die oberen ein bis zehn Prozent in Lateinamerika ihr Vermögen halten und mehren, wie sie leben und durch ostentativen Luxuskonsum Distinktionsgewinne erzielen, wie sie sich abschotten, sei es mit Mauern wie der „Mauer der Schande“ in Lima, Gated Communities oder in retro-kolonialen Shoppingcenter-Trutzburgen (man beachte die feudale Konnotation), sowie welche ökonomischen Entwicklungen ihren Reichtum mehren helfen (extraktivistische Ressourcenausbeutung, Landgrabbing, Drogenökonomie und organisierte, massive Steuerhinterziehung). Aufschlussreich sind die Kurzbios der politisch einflussreichen Milliardäre in Kapitel 2.2, nur ein Beispiel: Der deutsch-chilenische Milliardär Horst Paulmann, der (ohne gültige Baugenehmigung) das höchste Gebäude Lateinamerikas errichten ließ, den Gran Torre Santiago, hatte einen veritablen Nazivater: frühes NSDAP-Mitglied, Obersturmbannführer und später Richter. Im lateinamerikanischen Geldadel tummeln sich noch viele weitere Unsympathen und Autokraten, die erfolgreich in der Politik Fuß fassen konnten. Sebastián Piñera und Mauricio Macri sind da nur die Bekanntesten, zu nennen wären auch Horacio Cartes (Paraguay), Luis Camacho aus dem bolivianischen Santa Cruz oder der panamaische Ex-Präsident und Unternehmer Ricardo Martinelli. Und nicht zu vergessen die „neuen Raubritter“ (Kapitel 3.2), die Drogenbarone. Deren Namen stehen ebenfalls auf den Listen der reichsten Männer der Welt; ihre lukrativen Geschäfte sind zwar illegalisiert, aber keineswegs von formalen ökonomischen Kreisläufen getrennt.

Ein weiterer beachtenswerter Bezug ist die massive Verschuldung vieler Privatleute in Lateinamerika, „dank“ der leichten Zugänglichkeit zu Kreditkarten und Konsumkrediten. So entsteht eine neue Schuldknechtschaft. Auch Schulden werden vererbt. Die Folgen davon sind aktuell in Chile zu beobachten. Aufgrund dieser ständischen Verfestigung wird jegliche Proklamierung von Chancengleichheit oder gar Gerechtigkeit ad absurdum geführt. Und auch der neoliberale, letztlich meritokratische Grundsatz, dass sich persönlicher Erfolg mit Leistung, unternehmerischem Ehrgeiz und Eigeninitiative erzielen lasse, erweist sich angesichts der erdrückenden Übermacht des Geldadels als unhaltbar. Max Weber würde sich im Grabe rumdrehen.

Anregend für die Rezensentin waren die Ausführungen zu den Konzepten der „Retro-Kolonialität“ und „Heritage Mode“ (Kapitel 4.1. und 5.2). Das Koloniale wird verkaufbar, etwa als nostalgisches Sammlerstück oder zum Marketingfaktor, etwa in gentrifizierten Stadtzentren mit renovierten kolonialen Gebäudeensembles. Gleichzeitig wird das Koloniale seiner historischen Dimension beraubt, weil alles Hässliche (Gewalt, Ausbeutung, Raub) daraus getilgt ist. „Retrokoloniale Stadtlandschaften“ werden geschaffen, mit einer eingeschränkten und regulierten Geschichtsnarration: „Die Straße wird zum Themenpark.“ (S. 111) Die große Preisfrage stellt der Autor auf Seite 135: Wer unterstützt warum die herrschende Klasse, das ein bis zehn Prozent? Einen interessanten Erklärungsansatz umreißt er knapp für den Fall Brasilien und die Frage, warum sich die dortige aufgestiegene (untere) Mittelschicht von der PT angewidert abgewandt hat.

Das Buch ist in einem konzisen Stil verfasst und gut zu lesen (nicht nur im Vergleich zu anderen akademischen Publikationen). Der Rechtsruck in Lateinamerika wird letztlich nur gestreift (darüber wird ja genügend an anderer Stelle publiziert), im Mittelpunkt steht eher der Interpretationsrahmen dafür, nämlich die Konjunktur der Refeudalisierung. Bemerkenswert und (auch für andere Weltregionen) hochaktuell ist der intersektionale Ansatz in Kapitel 6.2 „Identitätspolitik: Angst – Gewalt – Rache“, in dem die Rückkehr des weißen Mannes skizziert wird, der nostalgisch auf alte Privilegien pocht und aggressiv auf die erkämpften Rechte infolge der demokratischen Öffnung seit den 90er-Jahren und die Aufstiegsmöglichkeiten dank der Sozialpolitik der Linksregierungen reagiert: mit Angriffen auf die als Emporkömmlinge empfundenen Indigenen, Armen und (feministischen) Frauen. Schade nur, dass sich in dem Abschnitt ein Begriffsschnitzer findet: So werden die in kolonialer Tradition ethnisch konstruierten „Anderen“ als „farbig“ bezeichnet. Das ist voll 80er, verströmt den Geist von Kolonial- und Apartheidsgeschichte und passt nicht zu der sonst sehr bewussten Sprache des Autors. Korrekt wäre das (leider etwas sperrige) PoC (People of Color).

Auf der Website des Verlags wird der Autor gefragt, mit wem er seine Thesen gerne diskutieren würde. Kaltmeiers Antwort: Mit AMLO, dem als progressiv geltenden mexikanischen Präsidenten. Schließlich könne „López Obrador aus den Fehlern der vorigen Linksregierungen lernen und Maßnahmen gegen die Refeudalisierung durchsetzen“. So werden im letzten Kapitel auch Vorschläge gemacht, die es immer wieder auf die politische Agenda zurückzuholen lohnt: Umverteilung in Form von Steuern auf Vermögen, Erbe und Finanztransaktionen; Agrarreform; die (Wieder-)Belebung der Commons; ein kulturrevolutionäres Umdenken, weg vom Konsum, hin zur Care-Economy; Verteidigung des öffentlichen Raums.

Der Titel im Open Access als PDF: https://www.transcript-verlag.de/media/pdf/f3/fd/20/oa9783839448304.pdf