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Die Natur als Sinnbild der politischen Geschichte

Filmbesprechung „La Cordillera de los Sueños – Die Kordillere der Träume“ von Patricio Guzmán
Verena Schmöller

Die Gebirgskette zu überqueren heißt, an einen Ort zu kommen, der in tiefer Vergangenheit liegt. In „La Cordillera de los Sueños – Die Kordillere der Träume“ (Frankreich/Chile, 2019) blickt Filmemacher Patricio Guzmán erneut auf sein Heimatland und hat dieses Mal vor allem eins im Blick, die Kordillere, das Bergmassiv der Anden, das das schmale Land von unten nach oben durchzieht, das die Bilder von der Landschaft Chiles prägt und auch charakteristisch ist für die Ansicht der Hauptstadt Santiago de Chile: „Jedes Mal, wenn ich über die Kordillere fliege“, sagt der Erzähler Guzmán zu Beginn des Films, „habe ich das Gefühl, im Land meiner Kindheit anzukommen, im Land meiner Herkunft.“ Und genau darum geht es ihm auch, um das Land seiner Kindheit, um die Ereignisse im Land, die ihn 1973 ins Exil und damit in die Perspektive mit Distanz getrieben haben, um den Umgang Chiles mit seiner Vergangenheit und den aktuellen Status Quo.

Guzmán spricht mit verschiedenen Künstler*innen über das gegenwärtige Chile und dessen Ungerechtigkeiten, über das Wirtschaftssystem, den Kapitalismus und die Armut der Massen, und auch darüber, was in den vergangenen Jahrzehnten passiert ist und wie dies immer noch weiterlebt in der chilenischen Gesellschaft. Er besucht das Nationalstadion, in dem mehr als 40 000 Regimegegner*innen (auch Guzmán selbst) gefangen gehalten und gefoltert wurden. Er erzählt von der Einführung eines neoliberalen Wirtschaftssystems durch die Chicago Boys in den 1980er-Jahren, und er berichtet von den Verschwundenen und den Demonstrationen der Hinterbliebenen noch Jahrzehnte später. Im Film findet sich alles wieder, was wichtig war in den vergangenen 50 Jahren chilenischer Geschichte.

Zum Zeitpunkt der Filmproduktion ist Guzmán seit 46 Jahren im Exil und beobachtet sein Heimatland aus der Ferne, aus der Distanz, wie er selbst sagt. Seine Filmkarriere aber hat er genau diesem Land gewidmet. Wie kein anderer hat er in 20 Filmen die politische und gesellschaftliche Geschichte des Landes dokumentiert. Zunächst die letzten Monate der Regierung Allende und dann den Putsch durch Pinochet – sein Film „La Batalla de Chile“ (1975–1979) ist das Zeugnis des Militärputsches, es sind bis heute die Bilder aus diesem Film, mit denen die Geschichte Chiles erzählt wird (siehe ila 345). Schon 1997 hat er sich in „Chile, la memoria obstinada“ (1997) mit der Vergangenheitsbewältigung Chiles beschäftigt, sich der Person und politischen Figur Salvador Allende genähert und in „El caso Pinochet“ (2001) die Chronologie der Ereignisse nach Pinochets Verhaftung in London gezeigt.

Die Kordillere der Träume beendet nun seine Trilogie, in der er die Natur seiner Heimat als Sinnbild der politischen Geschichte beschreibt. In „Nostalgia de la luz – Heimweh nach den Sternen“ (2010) hatte er sich der Atacama-Wüste im Norden des Landes gewidmet, einem der trockensten Gebiete der Welt, einem wichtigen Standort für die großen Weltraumteleskope, aber auch Tatort von Pinochets Menschenrechtsverletzungen und Ort, an dem viele Menschen verschwunden sind. „Der Perlmuttknopf“ (2015) hatte den Pazifik im Blick, das Meer im südlichen Patagonien, das ebenso charakteristisch ist für das Land wie seine Berge und Wüsten und in dem ebenso viele Regimegegner*innen, an Bahnschienen gefesselt, ertränkt wurden.

Die Anden im Zentrum des Landes, so sagt ein Interviewpartner im Film, machten 80 Prozent des Landes aus und würden doch permanent vernachlässigt. Sie seien den Chilen*innen nicht bewusst, würden links liegen gelassen. Viele Chilen*innen würden die Anden vor allem von den Aufdrucken auf Streichholzschachteln oder aus den U-Bahn-Stationen kennen, die mit den Bildern der gemalten Gebirgskette dekoriert sind. Dabei komme der Wohlstand des Landes vor allem aus dieser Region, in der in riesigen Bergwerken Chiles wertvollster Rohstoff Kupfer abgebaut werde. „In meinem Land ist die Cordillera allgegenwärtig“, sagt Guzmán, „doch für die Chilenen ist sie nach wie vor ein unbekanntes Land.“

Guzmán rückt die Gebirgskette in den Fokus und macht sie damit auch bewusst. Sie wird für ihn zur „Metapher für das Unveränderliche, für das, was bleibt und uns bewohnt, wenn wir denken, dass wir alles verloren haben“. Unverrückbar thronten die Anden über dem Land und schauten auf das, was darin geschehe. „Die Kordillere der Träume“ ist poetisch und philosophisch, man braucht Raum und Muße, um sich auf den Film einzulassen, die Bilder wirken zu lassen und sich mit den Sinnbildern, die Guzmán anbietet, zu beschäftigen. Für Chilekenner *innen ein Genuss, Neueinsteiger*innen sollten sich allerdings vor dem Kinobesuch mit der Geschichte des Landes zumindest ein wenig vertraut machen, um den Film ebenso genießen zu können.

Besonders wertvoll ist die Integration des Filmmaterials von Pablo Salas, einem Filmemacher, der seit den frühen 1980er-Jahren die Realität in Chile und vor allem seiner Hauptstadt dokumentiert. Salas konzentriert sich auf den Protest der Chilen*innen und filmt überwiegend Demonstrationen, Kundgebungen und das Aufeinandertreffen von Demonstrant*innen und Polizei. In nur wenigen Ein­stellungen wird einem bewusst, wie brutal die Diktatur unter dem Militärregime war, in der sie gegen friedlich singende Demonstrant*innen vorgegangen, auf Männer und Frauen eingeschlagen, willkürlich Personen festgenommen und Wasserwerfer aus kurzer Distanz auf sitzende Menschengruppen gerichtet haben. Dies sind noch nie gesehene Bilder, die in Bezug zu den Bildern von heute gesetzt werden, in einer Zeit, in der alle ein Mobiltelefon besitzen und selbst Filme machen. Aber wenn es chaotisch oder brenzlig werde, so sagt Salas, dann habe er wieder Ruhe, um seine Kamera mit Bedacht auf das Geschehen zu halten.

Die „Kordillere der Träume“ ist wie seine Trilogievorgänger ein sehr persönlicher Film, vielleicht gar der persönlichste. Besonders stark sind die Bilder von Guzmáns Geburtshaus, das er auf dieser Reise aufsucht, zuerst die Fassade in Detailaufnahmen filmt, dann auf Distanz geht und das Haus aus der Vogelperspektive filmt. Es war in den Wirren des Putsches zerstört worden, steht heute aber immer noch in Resten da. „Auf wundersame Weise wurde hier kein Hochhaus errichtet und ich kann mit meiner Kamera die Ruinen meiner Kindheit filmen.“

Der Film „Die Kordillere der Träume“ feierte 2019 seine Premiere auf den Internationalen Filmfestspielen in Cannes, wo er mit dem Preis für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde. Er ist ab dem 16. Juli 2020 in den deutschen Kinos zu sehen.