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Kreolität im Spiegel weiblicher Genealogien

Mérine Cécos Roman „Die Leben unter deinem“
Natascha Ueckmann

Mérine Céco, eine der bedeutendsten Gegenwartsautorinnen Martiniques, hat ein radikales Buch über generationenübergreifende Traumata von Frauen auf den Antillen und über das Verbrechen der Sklaverei als tabuisiertes Familiengeheimnis geschrieben. „Ich werde von meiner Geschichte nicht genesen. Sie ist meine Tätowierung, das Ekzem meiner Vorfahren. Sie sorgt aber auch dafür, dass ich ich bin. Sie ist meine geheime Kraft“ (S. 211), sagt die Protagonistin im Epilog und betont so final ein Bild von Geschichte als offene Wunde. In ihrem schriftstellerischen Werk legt sie besonders die gewaltvollen weiblichen Erfahrungen offen und fordert so die Literatur der Gründerfiguren der Créolité1 wie Patrick Chamoiseau oder Raphaël Confiant heraus. Céco insistiert auf Geschlechterdifferenz und reagiert als Autorin auf eine folgenreiche Leerstelle. Im Kontext innovativer, kreoler Geschichtsschreibungsentwürfe treffen wir nicht selten auf neue Meistererzählungen, auf Heldenkonstruktionen sowie stereotype Frauen- und Männerbilder. Geschichten zur männlichen Marronnage2 und zur Femme poteau mitan3 sind omnipräsent im antillianischen Raum.

In ihrem Roman „Die Leben unter deinem“, ihr erstes Werk, das dank des Litradukt-Verlags in einer sehr gelungenen Übersetzung auf Deutsch vorliegt, entlarvt Céco den karibischen Mythos vom Dorlis (einem Dämon, der sich nachts mit einer schlafenden Frau paart) als einen realen Vergewaltiger, als einen Penis, der keine Verantwortung tragen möchte (S. 115). Die Leugnung seiner Menschlichkeit erteilt dem Vergewaltiger Absolution. Wo kein Täter, da kein Verbrechen und kein Opfer. Céco geht es um die Benennung der Täter, statt eines folkloristischen Ausweichens auf Phantasiegeschöpfe, denen man die Tat stellvertretend anhängt. Ihr Roman illustriert die durch Verschleppung und Sklaverei begründeten psychischen Fragmentierungen und Traumata, die in den Körpern der „Besiegten“ (S. 205) transgenerational fortwirken. Der Raub der Körper und die Vergewaltigung als Ursprungsereignis führen zu einer ungesicherten Herkunft, zu einer genealogischen Abspaltung versklavter Menschen von ihrer eigenen Geschichte, auch zu Inzest, dem Gefühl der Illegitimität und zu bindungsloser Promiskuität. Das durch die Sklaverei verursachte „genealogische Erdbeben“ (S. 106) und die verinnerlichte Verachtung der eigenen „Körperfarbe“ (S. 126) manifestieren sich bis heute in seelischen Störungen, Gewaltausbrüchen und häufigen Krankheiten, bei Frauen zum Beispiel in Form von Fibromen „infolge des Traumas der ungewollten Schwangerschaften“ (S. 146). Der verdrängten toxischen Erinnerung, der Amnesie und dem allgegenwärtigen Schweigen kommt in „Die Leben unter deinem“ das Körpergedächtnis und das „befreite Wort“ (S. 211) der beiden Protagonistinnen zu Hilfe, denn der Roman gestaltet sich als ein Austausch von Briefen und Tagebucheinträgen zwischen Mutter und Tochter. Céline, eine antillianische Frau, lebt beruflich erfolgreich mit Mann und Kindern in der Pariser Diaspora und führt ein scheinbar ruhiges Leben in der „großen Metropole“. Dieses wohlsituierte Leben gerät aus den Fugen, als ihre Tochter Anita überraschend beschließt, mit einer NRO in „jenes Land“ zu gehen. Die Tochter sucht genau die Region auf, aus der die Mutter in jungen Jahren für einen „genealogischen Neustart“ (S. 74) geflohen ist. Erinnerungen und Traumata aus dem „Land der Kindheit“ bewegen die Mutter dazu, sich ihrer Tochter mittels eines langen Briefs, einer Beichte ähnelnd, anzuvertrauen. In „Mein Brief“ bezeugt die Mutter ihre bis dahin verheimlichte weibliche Genealogie, beginnend bei ihrer Ururgroßmutter Nanette bis zu ihrer eigenen Mutter Patricia, um die Tochter mit ihren Ahninnen bekannt zu machen. Es entfaltet sich eine Genealogie von Frauen, die durch Inzest, Verbrechen und Vergewaltigung entwertet wurde. Zugleich fällt auf, dass die männliche Linie voller Leerstellen ist, ein Mangel an Vätern und Ehemännern ist offensichtlich. Zeitgleich hat auch die Tochter einen Brief an die Mutter geschrieben. Auch „Ihr Brief“ veranschaulicht die Suche der Tochter nach genealogischen Spuren. Auslöser dafür ist eine Begegnung mit einem Onkel väterlicherseits, der sich mit Psychogenealogie beschäftigt und über den die Tochter erste Informationen über die verschwiegene männliche Familienlinie erhält. Die fortschreitende mehrperspektivische Enthüllung von Familiengeheimnissen mittels eines Zwiegesprächs zwischen Mutter und Tochter erfolgt bei Céco somit sowohl über die weibliche als auch über die problematischere männliche Linie, ist letztere doch meist ungesichert. Die beiden Frauen werden über ihren gemeinsamen Erinnerungsprozess und ihre gegenseitige Zeugenschaft zu Subjekten der eigenen Geschichte. Die Transformation der verletzten, teils ohnmächtigen Weiblichkeit zu einer handlungsfähigen Identität hängt mit dem Durchbrechen der Sprachlosigkeit und der Enthüllung von Familiengeheimnissen zusammen. Als wichtiger Träger von Erinnerung fungiert im Roman die kreolische Sprache. Cécos Erzählweise bleibt der oralen Erzähltradition verpflichtet, indem sie Passagen auf Kreol einbindet, die innerfamiliäre Beziehungen und Gespräche wiedergeben.

Als eine der ersten Autorinnen aus Martinique geht Céco dem Paradigma der vergewaltigten Weiblichkeit nach und der Interaktion von kolonialer Gewalt und dem durch Gewalt kontaminierten Geschlechterverhältnis, Themen, die bislang eher von Schriftstellerinnen aus Guadeloupe (Simone Schwarz-Bart, Maryse Condé, Gisèle Pineau) oder aus Haiti (Edwidge Danticat, Kettly Mars, Marie-Célie Agnant) Berücksichtigung fanden. All diese Autorinnen verhandeln dabei die Frage, wie Gewalt erzählt werden kann. Traumatische Erinnerungen widersetzen sich in der Regel einer Integration in Sprache und narrativer Repräsentation. Die Ermunterung, überhaupt zu sprechen, geht meist von einer anderen Frau aus. Aus dieser tiefen Verbundenheit schöpfen alle Beteiligten die Kraft, die es ihnen ermöglicht, Gewalterfahrung zu überleben und an den Katastrophen ihres Lebens nicht zu scheitern. Erst wenn das jeweilige Trauma der Vergangenheit erinnert und in die Lebenserzählung integriert wurde, wenn also die Diskontinuitätserfahrung in narrative Kontinuität überführt ist, werden positive Identifikationen möglich. In diesem kommunikativen Prozess sind aktives, empathisches Zuhören und Bezeugen, was nicht nur die Protagonistinnen, sondern auch die Rezipient*innen der Romane leisten, von ebenso großem Gewicht wie das Erzählen selbst. Céco wählt die Strategie der doppelten Perspektive von Mutter und Tochter, die sich individuell reflektieren und gegenseitig kommentieren. Es entsteht ein transgenerationales Zwiegespräch unter Frauen. In Anlehnung an Minh-ha T. Trinh könnte man dies als konstruktiven Mother’s talk bezeichnen. Mérine Cécos Roman wagt einen mutigen intersektionalen Blick in die verwundete antillianische Geschichte und Gegenwart.

  • 1. In den 1980er-Jahren entstandene literarische Bewegung antillianischer Autor*innen
  • 2. Afroamerikanische Widerstandsformen gegen die Sklaverei
  • 3. Mythos der antillianischen Frau, die alles erträgt und ihre Interessen hinter der Familie und der der Männer zurückstellt.