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Wir wollen die geraubte Zukunft zurückgewinnen

Interkulturelle Therapie für Aymaramädchen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind

Die Städte La Paz und insbesondere El Alto sind geprägt von der Migration aus ländlichen Gemeinden. Die Migrant*innen kommen insbesondere aus dem mehrheitlich von Aymara bewohnten Altiplano, von wo sie ihre Kultur und Denkweisen in die Großstadt mitgenommen haben. Seit einigen Jahren haben Mädchen und junge Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, Zugang zu Therapien, die gemeinsam von klinisch-systemisch geschulten Psycholog*innen und von Amawtas1 durchgeführt werden. Peter Strack unterhielt sich mit der Leiterin der Fundación Encuentro, Katya Morales, die an der Katholischen Universität Löwen (Belgien) zu interkultureller Psychotherapie promoviert hat, über diese spezielle Therapieform im urbanen Kontext

  • 1. Amawtas sind in der Aymarakultur die Weisen, die dem Leben der Gemeinden und Familien Orientierung bieten. Der Yatiri ist spezialisiert auf die Durchführung von Ritualen. Rituale gehören auch zum Repertoire der Amawtas. Diese haben in der Hierarchie aufgrund ihrer Erfahrung und Ausbildung jedoch einen höheren Status.
Peter Strack

Wie ist es zu der Zusammenarbeit mit den Amawtas gekommen?

Die Zusammenarbeit ist Ergebnis von Zweifeln und Fragen aus 14 Jahren therapeutischer Praxis mit indigenen Klientinnen in Bolivien. Ich war an dem Aufbau von Therapiezentren für Kinder und Jugendliche beteiligt, die Opfer sexueller Gewalt geworden waren. Wir arbeiteten mit dem systemischen Ansatz. Insbesondere in der Bergarbeiterstadt Oruro wurde das Bedürfnis geäußert, die eigene Kultur stärker zu berücksichtigen. Irgendwann, habe ich mir gesagt, muss ich mich diesen Fragen und Zweifeln stellen. Bei meiner Spezialisierung auf Familientherapie in Belgien hatte ich auch anthropologische Seminare besucht und zur Aymarakultur sowie der Rolle der Yatiris recherchiert. Als ich dann die Möglichkeit zur Promotion bekam, entschied ich mich für die Frage, wie beide Heilkonzepte miteinander verbunden werden können. Zum Glück waren die Dozenten sehr offen für die kulturelle Dimension. Gemeinsam mit dem CAIT, dem Rat der Amawtas des Tawantinsuyu und auch im Austausch mit afrikanischen Mitstudenten haben wir ein Forschungsprojekt entwickelt, an dessen Ende ein Modell interkultureller Therapie stand.

Gibt es ein gemeinsames Verständnis der Amawtas und der Aymarafamilien von der Problematik der sexuellen Gewalt?

Niemand ist mit Gewalt an Kindern einverstanden und auch nicht damit, dass sie leiden. Da gibt es bei den Amawtas eine große Sensibilität. Bei den männlichen Amawtas waren vor allem deren Ehefrauen sehr daran interessiert, dass wir uns für die Kinder einsetzen. Zwar arbeiten sie bei den Ritualen nicht unbedingt zu zweit, aber in der Aymarakultur ist es wichtig, dass die Partner die Arbeit unterstützen. Für die Forschung war die Frau des Amawtas KA. Willka Victor Menchaca Quispe eigentlich die treibende Kraft. Leider ist sie noch während der Vorbereitungen gestorben. Aber aus Loyalität mit ihrem Anliegen hat ihr Mann dann diese Rolle übernommen.

Welches Konzept haben die Aymara von sexueller Gewalt an Kindern? Welchen Begriff benutzen sie?

Sie benutzen unseren spanischen Begriff. Es gibt keinen Aymaraausdruck dafür. Aber sie verstehen sexuelle Gewalt wie eine Krankheit, bei der das Gleichgewicht der Energien in den Familien oder Hausgemeinschaften verloren gegangen ist. Wie im systemischen Ansatz auch sehen sie das Problem in einer Störung der Beziehungen untereinander. Aber die Ursache besteht darin, dass die negativen Energien überwiegen, dass sie stärker sind als die positiven. In vielen Fällen sexueller Gewalt kam das Thema des Limpu auf, an dem Frauen nach einem gewollten oder ungewollten Schwangerschaftsabbruch leiden. Der Geist des Fötus treibt sich im Haus herum und beeinträchtigt das energetische Gleichgewicht. Dann müssen Entschuldigungsrituale dafür sorgen, dass das Ungeborene die Fami­lie in Frieden lässt. Eine andere, häufig identifizierte Ursache ist ein Raub der Illas. Das sind die Ener­gien, die die Menschen, Pflanzen und Tiere für die Reproduktion haben. Im Fall der Pflanzen sind es die Samen. Im übertragenen Sinne ist es die Aussicht auf ein harmonisches und genügsames Leben, das Buen Vivir.

Das klingt aber sehr konträr zu einer eher westlichen Sicht, wo es einen verantwortlichen Täter und ein zu schützendes Opfer gibt. Hier scheinen mal wieder Frauen für das Problem verantwortlich gemacht zu werden, wenn sie den Erwartungen als Schöpferinnen des Lebens nicht gerecht werden.

Beim Limpu ist das wohl der Fall. Das hat aber auch damit zu tun, dass die Frauen für die Tradierung der Kultur und des emotionalen Gleichgewichts wichtiger sind. Wenn es ihnen schlecht geht, leidet auch die Familie darunter. Beim Raub der Illas sind aber in der Regel die Männer die Verantwortlichen für diese Gefährdung der Zukunft einer Familie.

Leben die Familien in einer Aymarawelt oder in einer Mischkultur? Oder erfahren und interpretieren sie postmodern, je nach Kontext, ihr Leben auf unterschiedliche Art und Weise? Diese Migrant*innen leben ja häufig schon in der zweiten oder dritten Generation in der Stadt.

Sie leben irgendwo zwischen den Kulturen. Insbesondere bei den Ritualen bewahren sie ihre Herkunftskultur. Aber sie haben auch viele Verhaltensweisen der städtischen, westlichen Kultur angenommen. Die Schwächung der gemeinschaftlichen Prinzipien und die Stärkung des Individualismus in der Stadt haben sicher zur Verschärfung der Gewaltproblematik beigetragen. Gewiss gibt es die Problematik aber auch in den traditionellen Gemeinden. Die eigene Kultur kritisch zu betrachten und andere Kulturen zu respektieren, kann nicht heißen, diese zu idealisieren.

Was also kann ein Amawta von einer in Europa klinisch geschulten Psychologin und was die Psychologin von dem oder der Amawta lernen?

Mir gefällt die philosophische Art der Amawtas. Wenn man sich öffnet, ergeben sich neue Sichtweisen. Ich erinnere mich an eine Jugendliche, die sich in einem Schei­dungsprozess ihrer Eltern dafür entschied, zum Vater zu gehen. Der Prozess startete damit, dass uns Gabriela Ticona, eine junge Amawta, Aufträge gab: Als Psychologin kümmere dich um den Reifungsprozess der Jugendlichen, forderte sie mich auf. Und ich bat sie, der Jugendlichen die Bedeutung der Rituale nahezubringen, die geplant waren und an denen teilzuhaben sie sich geweigert hatte. Sie fürchtete, dass es dabei um Schadenszauber gegen ihren Vater ging. Meist kommt es mit den Amawtas zu einem Tinku (ein traditioneller ritueller Kampf, der die Harmonisierung der Gemeinde zum Ziel hat). Sie stellen ihre, wir unsere Sichtweise dar. Dann versuchen wir, beides zusammenzubringen. Damit erzielen wir bessere Ergebnisse als jeder für sich alleine.

Kannst du ein Beispiel nennen?

Wir hatten eine 15-Jährige, die von ihrem zwei Jahre älteren Bruder vergewaltigt worden war. Aus unserer Sicht lag dahinter das Problem, dass sich die Mutter mit dem 30 Jahre älteren Vater auseinandergelebt hatte. Der Bruder hatte immer mehr die Rolle des Vaters als Herr im Haus eingenommen und die Mutter die Kontrolle über ihn verloren. Aber als das Mädchen auf Drängen der Mutter die Tat anzeigte und der Bruder in Untersuchungshaft kam, setzte die restliche Familie das Mädchen unter Druck, um den Bruder wieder freizubekommen.

Die Erklärung der Amawtas war, dass es zu dieser Ehe gar nicht hätte kommen dürfen. Tatsächlich hatte der Vater zuvor noch eine andere Familie und war deshalb nicht der Stern der Frau. In der Aymarakultur hat jeder seinen Stern am Himmel und wenn eine Beziehung gut ist, dann ist dieser Stern im Partner präsent. Die Therapie war in diesem Fall schwierig, weil das Mädchen selbst starke Schuldgefühle als vermeintliche Verursacherin der familiären Probleme hatte. Wir haben dann von der klinischen Seite her mit der Mutter und ihren ambivalenten Gefühlen gearbeitet, damit sie die Tochter als Opfer anerkennt und nicht als Teil ihres Autoritätsproblems mit dem Bruder. Mit den Amawtas arbeitete die Mutter mit Ritualen für die ganze Familie, weil auch die anderen Geschwister somatisierten. Das Ziel war es, die Rückkehr des Sohnes (der die Illas gestohlen hatte) in die Gemeinschaft vorzubereiten. Dabei kamen noch weitere Dinge zum Vorschein, die das Gleichgewicht der Energien beeinträchtigt hatten. Etwa dass die Mutter, ohne darauf vorbereitet gewesen zu sein, selbst Rituale durchgeführt hatte. Ganz am Ende eines langen Prozesses bildeten alle mit einem Wollknäuel ein Netz. Mit dem Knäuel wurden die Illas weitergegeben, die Energien, die als verbale Wünsche oder in Form von Zuckerbackwaren ausgedrückt wurden, die gewöhnlich Verwendung in den Brandopfern für „Mutter Erde“ finden.

So wurde ein Netzwerk geschaffen, um das Zusammenspiel der Energien aller für eine bessere Zukunft zu symbolisieren. Kurzum, es gab nicht nur eine Ursache und eine Erklärung, sondern eine Vielzahl, die den Prozess ganzheitlicher gemacht haben. Der Täter konnte nach seiner Entlassung allerdings nicht in die Familie zurückkehren. Das Mädchen musste geschützt werden. Trotz aller therapeutischen Bemühungen hat sie diese traumatischen Erfahrungen noch nicht ganz überwinden können.

Gibt es Unterschiede zwischen der Art, wie weibliche und männliche Amawtas arbeiten?

Bei den Ritualen der Frauen wird mehr über die Familie, den Alltag oder Kindheitserinnerungen gesprochen. Es geht viel um Gefühle und eine herzliche Atmosphäre herrscht vor. Die Männer sind formeller und treten bestimmter auf. Aber in beiden Fällen hinterlassen die Rituale Eindruck und eine Sensibilisierung. Die ersten 24 Stunden danach sind ganz wichtig, weil Dinge geschehen, weil die Personen bestimmte Träume haben oder Zeichen wahrnehmen. Diese zu deuten ist wichtig für ihren weiteren Weg. Eigentlich mischen sich die Amawtas ab da nicht mehr ein. Aber ich als Forscherin und klinische Psychologin kann natürlich Nachfragen stellen. Manchmal kommt es dazu, dass je nach Bedarf ein paar Wochen später noch einmal ein weiteres Ritual stattfindet oder die Kokablätter gelesen werden.

Welche Pläne gibt es für die Zukunft?

Wir wollen die Idee der Interkulturalität bei Therapien, aber auch zur Vorbeugung von Gewalt in Bolivien verbreiten, unter anderem mit einem universitären Postgraduiertenkurs, an dem sich Jugendliche, Amawtas und ausgebildete Psycholog*innen beteiligen werden. Schließlich ist im bolivianischen Kontext eine interkulturelle Herangehensweise einfach besser, weil die Menschen diesen kulturellen Ausdrucksformen vertrauen. Viele, die zu einem Psychologen oder einer Psychologin gehen, suchen ohnehin auch den oder die Amawta auf. Dann kann man das auch gleich offiziell und gemeinsam machen: die traditionellen Elemente anerkennen und in das öffentliche Gesundheitssystem aufnehmen.

Besteht nicht die Gefahr, dass die Kommerzialisierung und Individualisierung der Gesellschaft den Respekt vor den traditionellen Kulturen wegwischt und in zehn Jahren von der interkulturellen Therapie nichts mehr übrig ist?

Darin besteht gerade unsere Herausforderung, solchen Tendenzen zum Trotz die zwischenmenschlichen Beziehungen und Netzwerke oder schützenden Gemeinschaften zu stärken. Und die Corona-Epidemie zeigt uns, wie wichtig das ist. Sicher hat sie bei manchen Leuten die Frage aufgeworfen, ob der bisherige Weg der Beste ist und ob nicht auch die traditionellen Kulturen mit ihrer größeren Nähe zur Natur und dem Gedanken des Gleichgewichtes einen Beitrag leisten können.

Das Interview führte Peter Strack im Juni 2020 per Skype.