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Intensiv

Ema – Der neue Film von Pablo Larraín
Verena Schmöller

Pablo Larraín ist im Moment einer der angesagtesten und bedeutsamsten Filmemacher Chiles. Sein Film „No“ (Chile/Frankreich et al. 2012) wurde bei den 85. Academy Awards als erster chilenischer Film überhaupt für den Oscar für den besten fremdsprachigen Film nominiert. 2016 legte er in einem Jahr gleich zwei fulminante Biopics vor: „Neruda“ (Chile/Argentinien et al. 2016) und „Jackie: Die First Lady“ (USA/Chile et al. 2016), der seine Premiere auf den Filmfestspielen in Venedig feierte und dort für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde. Nun hat er mit „Ema“ (Chile 2019) wieder eine ganz andere Art von Film gemacht und zeigt damit, dass er auch einer der vielseitigsten Regisseure – nicht nur des Andenlandes – ist.

Der Film erzählt die Geschichte von Ema (absolut beeindruckend: Mariana Di Girólamo), einer jungen, impulsiven Tänzerin, die eine einmal gefällte Entscheidung bitter bereut und nun alles dafür tut, das Geschehene rückgängig zu machen. Der Film setzt genau in dem Zeitpunkt ein, als Ema zu erkennen beginnt, dass es falsch war, ihren zehnjährigen Adoptivsohn Polo (Christián Suárez) zur Adoption freizugeben.

Das Verhältnis zu Polo war nicht einfach, das wird im Rückblick und in den Erzählungen von Ema und Ehemann Gastón (Gael García Bernal) deutlich: Der Junge hatte es schwer mit seinen beiden Künstler-Adoptiveltern und wehrte mit Gewalt und verrückten Einfällen, die nicht zu bändigen waren. Als Polo die Wohnung in Brand setzt und Emas Schwester schwer verletzt, reagiert Ema spontan ganz radikal und stößt Polo von sich. Ihr Umfeld reagiert entsetzt und mit Kritik, doch auch Ema leidet an ihrer Entscheidung, es war doch ihr Sohn!

So sucht Ema die Sozialarbeiterin Marcela (Catalina Saavedra) auf, um herauszufinden, wie es Polo geht, was er macht, wo er sich aufhält. Als diese sich weigert, irgendeine Information preiszugeben, macht sich Ema auf eigene Faust auf die Suche. Und sie bricht mit ihrem bisherigen Leben, macht einen Cut, um – so meint man – frei zu sein, freier denken und handeln zu können. Dass sie ganz andere Dinge im Schilde führt, ahnt man zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Nach vielen Diskussionen, Streiten und seltsam zärtlichen Versöhnungen mit Gastón zieht sie aus, und nach weiteren Auseinandersetzungen verlässt sie auch die Tanzkompanie, denn der zwölf Jahre ältere Gastón ist nicht nur Emas Ehemann, sondern auch Choreograf der Tanzgruppe in Valparaíso, in der Ema seit Jahren tanzt.

In den Gesprächen rund um die Verarbeitung des Geschehenen – erst Polos Handlungen, dann Emas Entscheidung, ihn wegzugeben – klingen immer wieder die dunklen Seiten der Paarbeziehung an, in der jeder auf seine Weise seine Kunst auslebt, mit Emotionen experimentiert, diese künstlerische Verrücktheit aber auch zum Leben benötigt. Die beiden haben sich, das merkt man auch noch zum Zeitpunkt der schmerzvollen Trennung, gegenseitig befruchtet, aber auch immer wieder gegenseitig fast zerstört, sie sind über Grenzen hinweggegangen und haben einander an den Rand der Verzweiflung getrieben – wunderbar gespielt von den beiden Darstellern: Mariana Di Girólamo entwickelt einen ungeheuren Sog, Emas Kraft und Durchsetzungswille wird unheimlich stark über ihre Augen, ihre Mimik, ihre Körpersprache transportiert. Das Spiel von Gael García Bernal dagegen ist zurückgenommen, in manchen Szenen gar starr und so unnahbar wie seine Figur.

Ema emanzipiert sich nicht nur physisch, sondern auch emotional von Gastón: Sie erhält Kraft und Motivation durch die Freundschaft innerhalb ihrer Mädchen-Gang und lebt dort auch ihre Sexualität in alle Richtungen aus. Sie freundet sich mit der Anwältin Raquel (Paola Giannini) an, die sie bei der Scheidung von Gastón berät, und mehr, sie landet auch mit ihr im Bett. Und sie beginnt eine Affäre mit einem Feuerwehrmann, Aníbal (Santiago Cabrera), dem neuen Adoptivvater von Polo. Und beide Beziehungen sind kein Zufall: Denn eines Tages hat Ema Polo in einem Restaurant entdeckt, wie er stumm am Tisch mit seinen wohl neuen Adoptiveltern – Raquel und Aníbal – saß. Es waren nur Sekunden und einige heimliche Blicke, die Ema von ihrem kleinen Sohn erhascht hat, aber diese haben ihr gereicht.
Der Film erzählt seine Geschichte konsequent aus Emas Perspektive, zeigt aber nur bits and pieces und lässt viele wichtige Momente in ihrem Lebensabschnitt aus, was die Geschichte so spannend, weil bis zum Schluss undurchdringlich, fast mysteriös macht. Der Plot ist ein fein gewebter Stoff aus Verwicklungen und Verstrickungen, die sich erst am Ende auflösen. Und er zeigt eine selbstbewusste, zielstrebige Frau, die vor allem eins ist: impulsiv, radikal, voller Kraft, Verführung und Hunger nach Liebe, Leidenschaft und Leben.

Nach vielen internationalen Filmprojekten ist „Ema“ wieder eine rein chilenische Produktion aus dem Hause Fabula, dabei könnte gerade diese Geschichte überall auf der Welt spielen und hätte – mit Schauspielstar Gael García Bernal im Boot – bestimmt auch ausländische Koproduzenten angelockt. Und doch erzählt Pablo Larraín eine chilenische Geschichte: „Dies ist mein erster Film, der im heutigen Chile spielt, in dem ich von einer Generation spreche, die nicht meine eigene ist“, sagt Larraín. „Sie gehören einer neuen Generation an, die ohne falsche Befangenheit zu tanzen weiß. Sie drücken sich durch ihre Körper und durch Musik in einer Art aus, die komplett anders ist als die meiner Generation.“ „Ema“ ist auch ein Film über den Reggaeton – ein Tanz- und Musikstil, mit dem Larraín vor dem Filmprojekt nichts verband. Nun aber könne er verstehen, warum die junge Generation Chiles darauf derart abfahre. „Reggaeton hat einen Rhythmus, der alles durchdringt – so wie alle starken popkulturellen Elemente. Du bist hier und du bist gezwungen damit zu leben.“ Und der Reggaeton macht viel von dem aus, was den Film so besonders macht.

„Ema“ beeindruckt durch seine Dichte: Alles ist intensiv an diesem Film – die Erzählweise, das Schauspiel insbesondere von Mariana Di Girólamo, die Musik, die Choreografien. Pablo Larraín taucht tief in das Leben seiner Hauptfigur ein und spiegelt nicht nur deren Handeln wider, sondern gleichzeitig ihre Sichtweise auf die Welt und ihre Gefühle. Dabei spielen vor allem der Reggaeton, die Kameraarbeit und das Licht eine Rolle, die zeigen, wie Ema die Welt wahrnimmt und wie sie sich in ihr bewegt. Im Vergleich zu „No“ oder auch „Jackie“ ist „Ema“ allerdings ein Film, auf den man sich einlassen muss, der es einem nicht immer leicht macht, seiner Figur, seiner Geschichte und dem Milieu, in dem er spielt, zu folgen. Gelingt einem das aber, entwickelt der Film eine unglaubliche Wucht – und gesellt sich dadurch eher zu Larraíns „Neruda“, der ein ebensolch radikales Kunstwerk darstellt. Auf jeden Fall beweist Pablo Larraín mit „Ema“ einmal mehr, dass er eine unerschöpfliche Bandbreite an Filmkunst zu bieten hat, von der man nicht genug bekommen kann.

Dr. Verena Schmöller hat in Chile geforscht und 2009 das Buch „Kino in Chile – Chile im Kino. Die chilenische Filmlandschaft nach 1990“ veröffentlicht. Dafür hat sie über 200 Filme gesehen, darunter Pablo Larraíns Debütfilm „Fuga“ (Chile 2006), dessen Erzählkunst und Ästhetik sie sofort begeisterte. Dass seine späteren Filme sie noch mehr faszinieren würden, ahnte sie damals noch nicht.