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Wie ein Torwart, der jeden Ball fangen muss

Die Sängerin Marisol Díaz zur Kunstförderung in Bolivien

Marisol Diaz Vedia stammt aus einer Bergarbeiterfamilie im bolivianischen Kami. Sie hat Kommunikationswissenschaften studiert, als Druckerin, Erzieherin, Radio- und Fernsehmoderatorin gearbeitet. Sie teilt die Freuden, Sorgen und Aufgaben einer vielköpfigen Familie, engagiert sich in Frauen- und Kulturinitiativen, produziert Kunsthandwerk und Videos. Bekannt ist sie als Autorin und Sängerin der Musikgruppe Aymuray, die traditionelle Musik mit Jazz verbindet.

Peter Strack

Anders als die Bodenschätze nach Jahrhunderten ihrer Ausbeutung scheint die kulturelle Vielfalt Boliviens eine unerschöpfliche Ressource. Was wird im plurinationalen Staat Bolivien getan, um künstlerischen Reichtum zu fördern?

Kunst hat ihren eigenen Antrieb: Das Bedürfnis, sich mit anderen auszutauschen. In Kami haben wir uns als Kinder spontan in Musik- oder Theatergruppen organisiert. Die Bedingungen waren prekär. Viel hing von der Kirchengemeinde oder der Schule ab. Dort wurden eigentlich nur Hymnen gesungen. Aber ich habe mir dann meine eigenen Texte dazu gemacht. Wer mit einem Herz für die Kunst geboren wird, der lernt das von den Mitmenschen, der Umgebung und im Alltag.

Auf staatlicher Seite ist es komplizierter, da vieles parteipolitisch instrumentalisiert wird. Es fehlen auch Fachleute für Kunst- und Kulturförderung. In La Paz als politischem Zentrum gibt es die ein oder andere gezielte und geplante Maßnahme. Etwa der „Premio Avaroa“, ein Kunstwettbewerb des bolivianischen Staates, oder FOCUART (Fonds zur Förderung der Kultur und Kunst) der Stadtregierung von La Paz, auf den sich Künstler*innen unterschiedlicher Sparten bewerben können. Allerdings sind die Förderpreise niedrig im Vergleich mit den damit verbundenen Verwaltungskosten.

Die Bürokratisierung führt auch zu geschlossenen Zirkeln privilegierter Empfänger*innen. Um an Fördergelder zu kommen, musst du lernen, Projektanträge auszuarbeiten, und verbringst viel Zeit mit der anschließenden Berichterstattung.

Mit der Fotografin Ana Diaz zusammen habe ich im vergangenen Jahr einen Preis der Stiftung der Bolivianischen Zentralbank für eine Dokumentarserie über das Leben mit meiner über 90-jährigen Mutter in der Quarantäne gewonnen. Doch um die 400 Euro ausgezahlt zu bekommen, muss man zig Formulare ausfüllen, ein Konto bei der staatseigenen Banco Unión eröffnen... schließlich wollte die Stiftung, dass wir auf unsere Rechte als Autorinnen verzichten. Bis dato weiß ich nicht, ob wir das Preisgeld irgendwann noch bekommen.

Und wie sieht es mit internationalen Stiftungen aus, wie der Fundación Patiño (eine Schweizer Stiftung aus Mitteln des ehemaligen bolivianischen Zinnmagnaten) oder dem spanischen Instituto Cervantes?

Die Patiño-Stiftung ist ein guter Platz für Ausstellungen von bildenden Künstler*innen. Sie organisieren auch interessante Musikfestivals. Aber wenn du Räume für einen Auftritt beantragst, dann ist die Miete zu hoch. Im Cervantes-Institut bekommt man die Räumlichkeiten kostenlos. Aber ansonsten setzen sie ihr eigenes Programm um. Gezielte Förderung vor allem für neue Gruppen oder Initiativen kann man dort nicht erwarten. Das eher in Kultur- oder Gemeindezentren, die von Nichtregierungsorganisationen betrieben werden. So wie Wayna Tambo, die Casa de la Solidaridad-Projecto de Vida, oder Compa – Teatro Trono (vgl. Interview in dieser ila) in El Alto. Die haben selbst keine große Finanzierung aber bieten uns und vielen jungen Leuten umsonst ihre Räumlichkeiten oder auch das Aufnahmestudio an.

Können die Musiker deiner Gruppe Aymuray von ihrer Kunst leben?

Die meisten arbeiten als Musiklehrer. Aber ich bezweifle, dass selbst das Gehalt am Conservatorio Nacional (der Nationalen Musikschule) ausreicht, um sich künstlerisch entfalten und auch die Familie ernähren zu können. Die Musiker müssen deshalb in unterschiedlichen Gruppen spielen und jedwedes Auftrittsangebot annehmen. So wie ein Torwart, der jeden Ball fangen muss, egal aus welcher Richtung er kommt. Aymuray gehört zwar in den letzten fünf Jahren zu den renommierten Gruppen Boliviens in seinem Genre, generiert aber mit seiner alternativen Musik keine Gewinne. Deshalb spielen die Musiker gleichzeitig in vier oder fünf Gruppierungen. Am liebsten in einer Gruppe wie Kalamarka, die mit Folklore gutes Geld verdient. So können sie von der Musik leben, allerdings von der Hand in den Mund. Aymuray ist dagegen für ihre musikalische und kreative Entwicklung interessant. Deshalb sind sie dabei geblieben. Es erfordert natürlich Organisationstalent, um die unterschiedlichen Termine für Proben, Aufführungen, oder gar Tourneen unter einen Hut zu bringen.

Sind Auslandsauftritte eine Einnahmemöglichkeit?

Ja, Festivals zum Beispiel. Aber nur wenige bekommen eine solche Chance. Das hat auch mit der Verbreitung in Bolivien selbst zu tun. Unsere Musik wird meist nur von kleineren Alternativsendern gespielt. Ab und an hat strahlen auch das Staatsfernsehen, Abya Yala oder RTP Konzerte aus. Aber eher als Lückenfüller und ohne Bezahlung.

Zugegeben: Als Künstler*innen fühlen wir uns wohl in unserer kreativen Blase. Wir müssen aber auch lernen, uns zu vermarkten. Zum Beispiel die Brüder Arguedas, die nach vielen Jahren zurück nach Bolivien gekommen sind. Sie sind eine musikalische Legende. Aber niemand verbreitet ihre Musik. Das liegt auch an den geringen Einnahmen. Bei einer Gruppe wie Aymuray sind allein schon fünf Musiker. Dazu kommen die Beleuchtung, Fotografie und Videoaufnahme, der Ton, das Design für die Werbung... alles wird aus Liebe zur Musik und ehrenamtlich gemacht. Ab und an fragen wir um externe Unterstützung an. Aber das, was wir für einen Produzenten oder eine Produzentin zahlen können, ist nicht attraktiv.

Einer der wenigen jüngsten Gelegenheiten für Aymuray, etwas zu verdienen, war der Auftritt bei der Amtsübernahme der neuen Regierung. Und prompt kam Kritik insbesondere an deiner Person wegen politischer Inkohärenz.

Selbstverständlich habe ich eine politische Position. Und die Leute verstehen die Kritik, wenn sie meine Lieder hören. Bedauerlicherweise verhindert die Polarisierung eine wirkliche Debatte. Wir haben den Bau der Überlandstraße im indigenen und Naturschutzgebiet TIPNIS oder zerstörerische Großstaudämme kritisiert. Für die Regierungspartei bist du dann eine Agentin des Imperiums, eine Rechte, eine „Pitita“, die ihr Klassenbewusstsein verloren hat. Die Angriffe in den sozialen Medien zielen aber vor allem darauf, dich zum Schweigen zu bringen. Innerhalb des Regierungsapparats gibt es aber auch andere Einschätzungen: Leute, die verstehen, dass die Anliegen der Basis musikalisch von Aymuray zum Ausdruck gebracht werden, dass Aymuray die Erinnerung an die Vorfahren wach hält, dass Aymuray für den Respekt gegenüber der Natur und für Gerechtigkeit einsteht, und dass der Auftritt bei der Regierungsübernahme deshalb passend war.

Manchmal tretet ihr im Stadttheater von La Paz auf. Lohnt sich das finanziell?

Angeblich gab es Zeiten, wo die 600 Plätze besetzt waren. Ich habe das mit Aymuray nie erlebt. So viele Leute kommen vielleicht bei öffentlichen Auftritten auf dem Prado von La Paz oder bei Musikfestivals. Aber wenn du selbst den Auftritt organisierst, dann musst du etwas höhere Preise nehmen, um die Kosten zu decken. Und viele Menschen können sich das vielleicht einmal im Jahr leisten, aber nicht häufiger.

Und dann kommt die bolivianische Verwertungsgesellschaft für musikalische Rechte SOBODAYCOM...

Sie nennen sich Bolivianische Vereinigung der Künstler und Komponisten. Tatsächlich ist es eine kleine Gruppe, der irgendwann einmal vom Kulturministerium das Recht übertragen wurde, Gelder für Rechte musikalischer Autor*innen einzunehmen. Dies tun sie nicht nur für die Werke ihrer wenigen Mitglieder sondern bei allen Musikauftritten. Wenn wir als Aymuray ein Konzert im Stadttheater organisieren, müssen wir neben den Kosten für Werbung, Eintrittskarten und eine – gleichwohl symbolische – Miete auch noch Geld an SOBODAYCOM für die von uns selbst komponierten Stücke bezahlen. Als Nicht-Mitglieder bekommen wir von SOBODAYACOM keinen Centavo davon zurück. Und die CORONA-Krise hat mit dem Wegfall vieler Auftrittsmöglichkeiten dazu geführt, dass uns finanziell die Luft ausgeht. Da bleiben uns nur die eigenen Familien, das Engagement. Denn der Wille, uns mitzuteilen, geht nicht verloren.

Unabhängig von Aymuray engagierst du dich bei kleineren kulturellen Initiativen, wie LanzArte.

LanzArte ist ein langjähriges Förderprogramm für Jugendkulturinitiativen der Schweizer NRO Solidar Suisse. Ich wurde im letzten Jahr eingeladen, mit Jugendlichen aus den Yungas von La Paz Lieder zu kreieren. Es gibt eine Finanzierung von umgerechnet etwa 325 Euro für Workshops, in denen die Jugendlichen unter Anleitung von ausgewählten Künstler*innen ihre Themen verarbeiten. Bei etwa zwei Wochen Arbeit ist das ist ein gutes Verhältnis von Aufwand und Ertrag. Und vor allem ist die Antragstellung und Finanzierung unbürokratisch.

Aber wenn man die Material-, Reise- und Aufenthaltskosten abzieht, bleibt auch kaum noch etwas übrig.

Es wäre schon möglich gewesen, mehr auf Distanz zu arbeiten und etwas für mich zurückzubehalten. Aber man will ja seine Sache auch gut machen, eine Saat hinterlassen. Zunächst haben wir mit den Jugendlichen in Palos Blancos (eine Tagesreise von La Paz entfernt) über ihre Probleme geredet. Die Frauenmorde bewegen diese Jugendlichen, der Alkoholismus oder die Verschmutzung des Trinkwassers. Die Jugendlichen wählen die Themen aus und sind inzwischen wirklich zu Expert*innen dazu geworden. Meine Aufgabe war es, mit ihnen all dieses Wissen künstlerisch in Lieder umzusetzen. Die Jugendlichen haben gemerkt, dass man nicht vom Blitz getroffen werden muss oder erleuchtet sein muss, um Kunst zu machen. Was zählt ist der Wille. Ich vermittele ihnen einzelne Schritte und Techniken, die ich mir in meiner eigenen Praxis angeeignet habe. Wir hatten viel Spaß zusammen und haben die Lieder anschließend aufgenommen und öffentlich aufgeführt. Eines beschrieb die Situation der Jugendlichen in der Zuckerrohrernte, ein anderes die Gewalt in Paarbeziehungen und das dritte, warum es in einer so wasserreichen Region an sauberem Trinkwasser mangelt.

Welche Folgen hatte die Schließung des Kultur- und Tourismusministeriums unter der Übergangsregierung im vergangenen Jahr für die Künstler*innen?

Es ist lächerlich, mit dem Sparargument ein Kulturministerium zu schließen, wenn der Sektor sogar Einnahmen für das Land generieren könnte. Aber wenn man schaut, wie das Ministerium zuvor gearbeitet hatte, hat die Schließung auch keinen so großen Schaden verursacht. Nun, der Premio Avaroa wurde nicht vergeben zum Nachteil von ein paar Dutzend möglichen Gewinner*innen. Aber in Bezug auf eine systematische Kunstförderung hat eigentlich keine der letzten Regierungen viel bewegt. Und auch jetzt nach der Wiedereröffnung ist das meiste mehr Schein als Sein. Die neue Ministerin verdankt ihr Amt einer Quote der sogenannten sozialen Bewegungen. Das ist schön. Sicher wird sie auch das ein oder andere für ihre Basis zustande bringen. Aber wir brauchen jemanden mit einem Blick für die gesamte Szene und mit Engagement für die Kunst. Denn Fachleute hat es früher auch schon im Amt gegeben, ohne dass das einen großen Unterschied gemacht hat.

Viel wichtiger sind für uns einzelne Initiativen oder gar Persönlichkeiten wie Walter Gómez. Der hat seit mehr als drei Jahrzehnten das Internationale Jazzfestival von La Paz organisiert. Er hat persönlich die Kontakte zu den Finanzierungsquellen aufgebaut. Etwa mit Botschaften, um die Auftritte internationaler Gäste zu finanzieren. Und dabei fielen dann auch allgemeine Organisationskosten ab. Bis zur COVID-Krise war das FestiJazz für uns eine sichere Einnahmequelle und Motivation: Denn auftreten konnte man nur, wenn man etwas Neues vorzustellen hatte. Gómez hat gezeigt, wie man solche Veranstaltungen auf die Beine stellt.

Dass wir vom Staat nicht viel erwarten, hindert uns nicht, kreativ zu sein. Vielleicht hat das damit zu tun, wie wir aufgewachsen sind. Der kulturelle Reichtum muss einfach seinen künstlerischen Ausdruck finden.

Das Gespräch führte Peter Strack in La Paz im Januar 2021.