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Der American way of belief

Die protestantische Mission in den Amerikas
Laura Held

Im Bielefelder Transkript Verlag erschien 2020 das Buch „Die protestantischen ‚Sekten‘ und der Geist des (Anti-)Imperialismus“ des Religionssoziologen und evangelischen Theologen Heinrich Wilhelm Schäfer (vgl. seinen Beitrag in dieser ila). Es behandelt ein immens wichtiges Thema, ohne das die evangelikalen und neopfingstlichen Bewegungen in Lateinamerika nicht zu verstehen sind: die seit mehr als hundert Jahren währende Missionstätigkeit protestantischer Kirchenleute aus den USA in Lateinamerika, deren politische Einflussnahme, die Reaktionen darauf und die Rückwirkungen eines durch die lateinamerikanische Realität, vor allem durch die Migration, sich verändernden Protestantismus in die USA.

Dessen Geschichte und historische Rolle sind ganz andere als in Europa und Lateinamerika. Der Mythos des Neuanfangs in einem „leeren“ Kontinent durch aus Europa vertriebene Pilger*innen, die Idee eines exklusiven Bundes Gottes mit den puritanischen Siedler*innen und ihren Nachkommen, spielen bis heute eine Rolle im Selbstverständnis vieler US-Amerikaner*innen als die „Guten“, die der ganzen Welt Freiheit und Demokratie bringen, auch als religiöser Auftrag. Obwohl es auch in den USA eine institutionelle Trennung zwischen Staat und Kirche gibt, bestimmt die christliche Religion den öffentlichen politischen Diskurs in einem ganz anderen Maße als in Lateinamerika. Es geht um viel mehr als den Unterschied zwischen protestantischer (in den USA) und katholischer Hegemonie (in Lateinamerika).

Schäfer arbeitet seit Jahrzehnten zu diesem Thema, hat fast zehn Jahre als Theologieprofessor in Costa Rica gelehrt, eine ganze Reihe von Feldstudien über religiöse Akteure vor allem in Nicaragua und Guatemala begleitet, was zu einer „grundlegenden Sympathie für protestantische Akteure“ führte. Diese jedoch geriet durch aktuelle Studien über die „Abgründe“ der politischen Aktionen protestantischer „Experten“ (so nennt er religiöse Führungspersönlichkeiten in Abgrenzung zu den Laien) in den USA und Lateinamerika ins Wanken, wie die Korruption der Bancada Evangélica in Brasilien und die gezielte Doppelzüngigkeit der religiösen Rechten in den USA. Dennoch bricht er in dem Buch immer wieder eine Lanze für den „durchschnittlichen protestantischen Gläubigen“, dem der Glaube hilft, einen schwierigen Alltag zu bewältigen.

Die Klammer für die Betrachtung bieten Kongresse überwiegend US-amerikanischer Missionar*innen 1916 und 2016 in Panama. Der erste war der Auftakt für eine koordinierte Arbeit historischer protestantischer Missionskirchen, die dann in späteren regionalen und kontinentalen Treffen weitergeführt wurde. Bereits 1900 hatte es in New York mit 200000 Teilnehmer*innen eine riesige Ecumenical Missionary Conference gegeben. Es ging darum, das Evangelium zu allen nicht-christlichen Völkern zu tragen, ein Programm mit durchaus kolonialistischem Hintergrund.

Zunächst war Lateinamerika ausgeschlossen, da schon durch die katholische Kirche christianisiert. Jedoch ab 1913 arbeitete und 1914 gründetet sich formell das Committee on Cooperation in Latin America (CCLA), um gezielt den „vernachlässigten Kontinent“ zu missionieren, nicht direkt gegen die katholische Kirche, aber mit der Intention, „die unzureichenden religiösen und erzieherischen Standards“ zu verbessern.

100 Jahre später, 2016, fanden gleich zwei Kongresse in Panama statt. Die Weltversammlung der World Evangelical Alliance, die zwar Polyzentrismus from all nations to all nations propagierte, der es aber ganz in der Tradition von 1916 um evangelikale Mission weltweit ging, um möglichst hohen Zuwachs an Gläubigen auf Kosten nicht-evangelischer Konfessionen, um die Verbreitung einer konservativen Opfertheologie, um individuelle Bekehrungen und darum, wie Schäfer zuspitzt: „die Bekehrten so zu kolonialisieren, dass die Bekehrten … vollkommen freiwillig so denken und handeln wie die Kolonialisten“. Der zweite Kongress war das Treffen des lateinamerikanischen Netzwerkes für pfingstliche Studien RELEP, dem der Verfasser als einziger Europäer selbst angehört. Dort tagten pfingstliche Akademiker*innen, die an sozialer Gerechtigkeit sowie einem interdisziplinären und interreligiösen Dialog interessiert sind. Sie setzten sich zum Ziel, den Kongress von 1916 kritisch aufzuarbeiten.

Der Autor schwankt sichtbar zwischen christlichen Loyalitäten, wo er sich ganz klar links mit Sympathien für Befreiungstheologien verortet, einer akribisch wissenschaftlichen Aufarbeitung jahrhundertelanger Missionsaktivitäten und vielen eher anekdotenhaften Beschreibungen der lateinamerikanischen Besonderheiten, wobei mir letztere besonders im Gedächtnis geblieben sind. Da ist die Gläubige in São Paulo, die in der pfingstlichen Assembleia de Deus organisiert ist, weil diese gute Gemeindearbeit macht, die in die katholische Kirche geht, um dort zu meditieren, und zum Candomblé-Priester, wenn sie krank ist. Oder der guatemaltekische, tiefgläubige Migrant, dem nur sein Glaube half, die lebensgefährliche Reise in die USA und das dortige Leben als Gelegenheitsarbeiter zu meistern, und der fast alles Geld seiner Familie schickt. Oder die vielen kleinen und kleinsten evangelikalen Latinogemeinden überall in den USA, meist von einer Frau geleitet, die dort das Überleben in einem oft rassistischen, immer schwierigen Umfeld ermöglichen sowie den regelmäßigen Austausch mit den Heimatgemeinden stemmen.

Aber das sind die kleinen Geschichten am Rande. Das Buch enthält nach einer knappen, gut strukturierten Einleitung, in der es dem Autor unter anderem gelingt, auf vier (!) Seiten die Literatur über interamerikanische religiöse Beziehungen (fokussiert auf den Protestantismus) zu systematisieren, samt Nennung der jeweils wichtigsten Vertreter*innen, sechs weitere spannende Kapitel.

Panama 1916“ beschreibt neben der Darstellung der erwähnten Konferenz vor allem deren Vorlauf, das heißt die protestantische Geschichte in den USA seit dem 18. Jahrhundert. Das lange dritte Kapitel widmet sich den unterschiedlichen religiösen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Dispositionen der Amerikas, die er in Stichpunkten wie Hacienda, Libera­lis­mus, hegemonialer Protestantismus beziehungsweise Katholizismus, Wertevergleich und Identitäten durchdekliniert, um dann die Verflechtungen und Transformationen zu nennen. Diese fasst er aber nicht soziokulturell, sondern anhand religiöser Narrative, die unterschiedlich gelebt werden. So findet die in den USA populäre Einzigartigkeit (American exceptionalism – das auserwählte Volk) in Lateinamerika keinerlei Widerhall, die direkten Offenbarungen, die charismatischen Legitimationen und die neue Emotionalität finden ihn dagegen sehr wohl, ebenso wie die Wohlstands-/Prosperity-Idee.

Das vierte Kapitel, die soziale Frage „von unten“, ist sehr kurz. Es behandelt die Herausbildung progressiver evangelischer nationaler Kirchen in Brasilien vor und in der Diktatur von 1964 bis 1985; und es geht auf die vom rechtsgerichteten Missionsestablishment in den USA strikt bekämpfte Loslösung evangelikaler lateinamerikanischer Theologen von den „Anglo“-Theorien in den 1970er-Jahren ein. Beides führte in den USA zur Gründung progressiver christlicher Gruppen, die mit diesen Bewegungen in Lateinamerika zusammenarbeiten.

Das nächste Kapitel behandelt ausführlich die militärisch-spirituellen Kriege in Zentralamerika in den 1970er- und 80er-Jahren, die von der religiösen und politischen Rechten in den USA mit aller Grausamkeit und ideologischen Härte geführt wurden. Als Reaktion darauf gründeten ökumenische Akteur*innen kritisch-linke Organisationen wie den North American Congress on Latin America (NACLA, 1966) und das Washington Office on Latin America (WOLA, 1974) in den USA, zur Unterstützung der bedrängten Latin@s und zur Gegeninformation. Das sechste Kapitel steht unter dem Motto: „Prosperity und Migration“, behandelt aber überwiegend und sehr anekdotisch die Bedrängnisse katholischer und pfingstlerischer kleiner Gemeinden im Grenzland USA - Mexiko, die zwischen der konkreten Hilfe für Migrant*innen und kriminellen Drogenbanden samt Narco-Iglesias, Todesdrohungen und -kult zu überleben versuchen.

Das letzte Kapitel widmet sich neben dem Panama-Kongress von 2016 einem grundsätzlichen Missverständnis zwischen US- und lateinamerikanischen pfingstlichen Missionar*innen. Nach Schäfers Darstellung sind für die Lateinamerikaner*innen sozio-ökonomische Fragen zentral, während die US-Amerikaner*innen überall theologische Bedrohungen sehen, die die Kirche gefährden. Selbst der Neoliberalismus wird nicht als ein mehr Ungleichheit und Armut produzierendes ökonomisches Projekt betrachtet, sondern vor allem als theologisches Problem (in Fragen der Sexualmoral oder der Akzeptanz von Lebensformen jenseits der heterosexuellen Familie ist der Neoliberalismus ja durchaus offen), der mit religiösen Traktaten beizukommen ist. Hier werden unter dem Stichwort „Refeudalisierung“ auch die biblizistischen Fundamentalist*innen und die neuen religiösen Eventstars mit ihren Megakirchen behandelt, die der Autor zwar scharf ablehnt, deren Einfluss er aber relativiert.

Anschließend wird es wieder akademisch, Schäfer kategorisiert die Aktivitäten lateinamerikanischer Evangelikaler in den USA, von den missionierenden Megakirchen, die mit ihren Latinoanhänger*innen, die auch in den USA ganze Stadien füllen, bis zu den vielen kleinen Latinokirchengründungen. Beide haben ihre Organisation, die 2010 gegründete multiethnische und linksliberale National Latino Evangelical Coalition (NaLEC), die aus etwa 3000 kleineren Latinokirchen, NRO und Einzelpersonen besteht, und die ungleich größere, 2001 gegründete National Hispanic Christian Leadership Conference, die rund 4000 Gemeinden meist etablierter, eher konservativ orientierter Hispanics repräsentiert. Ihr Gründer Samuel Rodríguez gehörte nicht umsonst zu dem religiösen Beraterkreis von Ex-Präsident Trump.

Insgesamt bietet das Buch eine riesige Fülle an Fakten, Einschätzungen und Einordnungen. Ich hätte mir aber ein Glossar gewünscht, die Leser*innen eine Orientierung angesichts der Menge an Organisationen und Kirchenrichtungen erlaubt.

Sehr gut auf den Punkt gebracht finde ich die Einschätzung, dass Revolution für den weißen US-Protestantismus ja bereits (in den USA) verwirklicht wurde, also höchstens restaurativ aufgefasst wird, wohin gegen für Schwarze und Latino Evangelics und Katholik*innen Reformen und Revolutionen in der Zukunft liegen und dringend realisiert werden müssen. Ob es angesichts der Refeudalisierung des Denkens auch durch die evangelikalen konservativen Kirchen dazu kommen wird? Schön wär‘s.