ila

Warum sie so unglücklich sind

Luiz Ruffatos Roman „Sonntage ohne Gott“
Gert Eisenbürger

Seit im Jahr 2013 sein Roman „Es waren viele Pferde“ in deutscher Übersetzung erschien, gilt Luiz Ruffato vielen hierzulande als der vielleicht wichtigste zeitgenössische brasilianische Autor. Die fünf Romane seines Zyklus „Vorläufige Hölle“, dessen letzter Band, „Sonntage ohne Gott“, gerade erschienen ist, haben nichts mit der Vorstellung von lateinamerikanischer Literatur zu tun, die nach wie vor in den Köpfen vieler Europäer*innen existiert. Es gibt keine archaischen Familienclans, an deren Spitze aus der Zeit gefallene Patriarchen stehen, keine überbordende Natur, keine mythischen Gestalten. Prostituierte sind keine Produkte von Männerphantasien, die sie als Gegenmodell zu einem tradierten Frauenbild stilisieren. Ruffatos „Held*innen“ arbeiten in Fabriken, verkaufen Essen und manchmal auch sich selbst auf der Straße, sind Leute, die mit ihren Geschäftsideen und Träumen scheitern, sind alleinerziehende Mütter, hängen an der Flasche oder an der Nadel, sind vom lebenslangen Schuften ausgemergelt und krank. Kurzum, sein Realismus ist alles andere als magisch, die von ihm geschilderte Wirklichkeit ist nicht wunderbar, sondern über weite Strecken öde.

Im Zentrum des Romans „Sonntage ohne Gott“ stehen, wie in den anderen Büchern des Zyklus „Vorläufige Hölle“, Migrant*innen, die in São Paulo ihr Glück suchen – und nicht finden. Formal ist das Buch gar kein Roman, sondern besteht aus sechs Geschichten von Menschen, die allesamt wie auch Ruffato selbst aus der Stadt Cataguases im Bundestaat Minas Gerais stammen.

Alle kommen irgendwie über die Runden, leben nicht in Favelas, sondern in (winzigen) Mietwohnungen, einige habe es sogar zu bescheidenem Wohlstand und dessen wichtigstem Statussymbol, dem eigenen Auto, gebracht. Soziale Ungerechtigkeiten und Ausbeutungsverhältnisse werden kaum beschrieben. Deren Existenz wird vielmehr vorausgesetzt.

In den siebziger Jahren war auch in Europa viel vom „brasilianischen Wirtschaftswunder“ die Rede. Die damalige Diktatur verfolgte ein ehrgeiziges Industrialisierungsprojekt und schaffte es mit Wohlstandsversprechen, große Teile der Bevölkerung einzubinden oder zumindest stillzuhalten – für diejenigen, die dennoch opponierten, stand der Repressionsapparat bereit.

Das von den Regierenden versprochene Leben im Wohlstand erforderte zunächst die Migration innerhalb des Landes. In vielen Regionen blieb die Lage nämlich genauso armselig wie vorher. Größere soziale Durchlässigkeit und Aufstiegsmöglichkeiten gab es dort weiterhin nicht, die sollte es aber angeblich in den boomenden Metropolen des Südostens, allen voran im Industriezentrum São Paulo geben. Diese Stadt und ihr urbanes Umfeld, vor allem die Industriestädte des ABCD-Gürtels (São Andre, São Bernardo do Campo, São Caetano, Diadema) waren das gelobte Land, wo es angeblich alle Fleißigen zu etwas bringen konnten. Und die Menschen kamen in Scharen, machten sich mit großem Elan daran, ihren Traum vom besseren Leben zu verwirklichen.

Vielen, wahrscheinlich den meisten von denen, die sich aufmachten, geht es nach einer schwierigen Anfangszeit ökonomisch besser als in ihren Herkunftsregionen. Auch ihre Nachkommen haben mehr Möglichkeiten, selbst wenn manche abstürzen, in der Drogenszene oder in kriminellen Banden und damit über kurz oder lang im Knast oder auf dem Friedhof landen. Durchlässiger, offener und gerechter ist die brasilianische Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten nicht geworden. Soziale, rassistische und bildungspolitische Barrieren bestehen fort, ebenso die Privilegien der Begüterten. So bleiben die Träume, mit denen die Migrant*innen einst aus der Provinz aufbrachen, im tristen Alltag der Vorstädte und engen Appartements größtenteils auf der Strecke.

Genau darüber schreibt Luiz Ruffato. Er klagt nicht die Ausbeutung armer Arbeiter*innen durch fiese Kapitalistinnen, Großgrundbesitzer oder Zwischenhändlerinnen an, er beschreibt Menschen, die sich um ihr Glück betrogen fühlen. Das erzeugt Frustrationen. Sie machen sich selbst und alle möglichen anderen, vorzugsweise aus dem eigenen sozialen Umfeld, für das gefühlte Scheitern verantwortlich. Derartig enttäuschte Menschen werden nicht zu Revolutionär*innen, sie suchen ihr Heil dort, wo sie sich verstanden fühlen. Das kann der Alkohol sein, das können Kirchen sein (in den Geschichten in „Sonntage ohne Gott“ sind es einmal die evangelikale Universalkirche und ein anderes Mal ein frömmlerischer Katholizismus), das kann auch ein Bolsonaro sein, der sich zum Anwalt einer „schweigenden Mehrheit“ hochstilisiert, indem er vor allem Vorurteile bedient.

Wenn man mich fragen würde, warum man Luiz Ruffatos Schilderungen der meist tristen Wirklichkeit lesen soll, hätte ich drei Antworten: Zum einen, weil er wunderbar schreibt (dass er durchaus auch humorvoll unterwegs sein kann, zeigt er in seinem im brasilianischen Migrant*innenmilieu in Portugal spielenden Schelmenroman „Ich war in Lissabon und dachte an dich“). Zweitens, weil er eine ganz neue Form sozial engagierter Literatur geschaffen hat, nämlich kurze Einzelskizzen, aus denen sich nach und nach ein Bild der Zerrissenheit der heutigen brasilianischen Gesellschaft zusammensetzt. Und drittens, weil er lange vor dem Aufstieg Bolsonaros (das portugiesischsprachige Original von „Sonntage ohne Gott“ erschien bereits 2011) soziale Milieus ausleuchtet, in denen eine solche Figur Anklang finden konnte.

Mit „Noch eine Fabel“, der letzten Geschichte des Buches, bricht Luiz Ruffato in gewisser Weise mit seinem erbarmungslos sezierenden Blick auf die Gesellschaft, indem er autobiographische Elemente einflicht. Die Hauptperson Luís Alberto, ein Journalist, der einst als Migrant nach São Paulo kam, sich in einem mühsamen Prozess von den familiären und gesellschaftlichen Erwartungen löst und seinen eigenen Weg findet, weist zahlreiche Parallelen zum Autor und dessen Werdegang auf.

Es ist toll, dass alle fünf Romane des Zyklus „Vorläufige Hölle“ von Luiz Ruffato nun auf Deutsch vorliegen und dass mit Assoziation A ein Kleinstverlag mit einer gepflegt anarchistisch-linksradikalen Tradition in Zusammenarbeit mit dem großartigen Übersetzer Michael Kegler diese verlegerische Leistung vollbracht hat.

Siehe auch ein Interview mit dem Autor in der ila 439.