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Alle wollen sich jetzt Funk zu eigen machen

Interview mit der MC und Sängerin Zuzuka Poderosa

„Ich bin halb brasilianisch, halb indonesisch, meine Kindheit und Jugend verbrachte ich in Rio de Janeiro und Grand Caiman, der größten der drei Cayman Islands. Deswegen liebe ich Baile Funk und Dancehall“, erzählt Zuzuka Poderosa im Video-Gespräch. Seit dem Jahr 2000 ist New York ihr Lebensmittelpunkt. Sie macht globale elektronische Sounds, die sie selbst als „Carioca Bass“ bezeichnet. Britt Weyde sprach mit ihr über ihre Liebe zum Funk, über Rassismus, Hass im Netz und das Vordringen des Funk in den Mainstream.

Britt Weyde

Wie begann deine Liebe zum Funk?

Ich muss etwa neun oder zehn Jahre alt gewesen sein, als ich es endlich schaffte, meinen zehn Jahre älteren Bruder rumzukriegen. Damals gab es die legendären Funk-Shows von Furacão 2000 (die auch im TV übertragen wurden, d. Red.). Ich wollte immer mit meinem Bruder dahin gehen, war aber zu jung dafür. Eines Tages erpresste ich ihn: Wenn du mich nicht mitnimmst, erzähle ich Mama und Papa davon, was ich in deinem Zimmer gesehen habe. Er nahm mich mit, und ich tanzte die ganze Nacht durch. Damals war ich besessen davon, zu tanzen und mit meinen Freundinnen Choreografien einzustudieren. Das ist heute immer noch so. Dich ausprobieren, den Passinho perfektionieren – das ist ein wichtiger Bestandteil der Funk-Kultur. Das ist vor allem Fuß- und Beinarbeit. Damals ging es für mich gar nicht darum zu twerken, also die Hüfte und den Po zu schwingen. Wobei ich gar nicht gegen das Arschwackeln bin. Im Gegenteil: Die Welt wäre ein besserer Ort, wenn wir alle mehr mit dem Arsch wackeln würden! Die Gesellschaft will nicht, dass du bestimmte Dinge machst, wegen bestimmter Werte oder weil es angeblich ein Tabu ist. Meiner Meinung nach gibt es im Hinblick auf deinen Körper und was du mit ihm anstellst kein Richtig und kein Falsch. Afrikanische Musik zum Beispiel bringt dich unweigerlich dazu, deinen Körper zu bewegen, und es ist kein Tabu. Dieser Gedanke, dass bestimmte Bewegungen zu versaut sind oder was weiß ich – wer hat das festgelegt? Den Körper loszulassen und sich frei zu bewegen, hat etwas Spirituelles.

Aber bei vielen Funk-Lyrics geht es immer nur um das Eine. Und beim Subgenre Putaria auch so richtig deftig. Wie arrangierst du dich damit?

Ich denke, klassistische und rassistische Einstellungen sowie religiöse Vorstellungen stempeln bestimmte Musik ab. Wenn zum Beispiel ein brasilianischer Song eines anderen Musikgenres die gleichen Themen berührt, aber nicht von einer schwarzen Person beziehungsweise jemandem aus der Favela gesungen wird, dann gilt das Ganze als lustig oder doppeldeutig und ist auf einmal kein Tabu mehr.

Im Baile Funk werden die Themen verhandelt, die die Leute tagtäglich erleben. Es gibt keine guten Bildungsmöglichkeiten in den Favelas, es gibt super viel Polizeigewalt, viele schwarze Menschen werden dort umgebracht. Ich selbst habe zum Beispiel gar keinen richtigen Sexualunterricht in der Schule gehabt. Und ich konnte wenigstens zur Schule gehen, während viele Favela-Kids diese Möglichkeit nicht haben. In den Songs wird darüber gesprochen, wie sie das alles erleben. Wenn du ein sexuell aktiver Teenager bist, erzählst du im Funk davon. Wenn ich viel Gewalt erlebe und die Polizei hasse, erzähle ich auch davon im Funk. Die Leute, die Baile Funk machen, sind schon immer unterdrückt worden. Wenn sie dann über die scheiß Bullen rappen, werden sie in eine Ecke mit den Drogengangs gesteckt. Die Gesellschaft will nicht, dass du dir so etwas anhörst, dass du über solche Missstände informiert wirst. Das ist immer wieder mit afrobrasilianischer Kultur passiert: Capoeira war eine Zeit lang verpönt, die Leuten durften es nicht praktizieren und machten es im Verborgenen. Bei der Samba war es ähnlich, sie kam ebenfalls aus den Favelas. Aber die Leute haben um ihre Kultur gekämpft. Es gibt so viele, die dich an der freien Ausübung deiner Kultur hindern wollen. Im Moment geht eine Welle von organisierter Kriminalität von evangelikalen Milizen aus, die Yoruba-Tempel zerstören und Leute umbringen, die afrobrasilianische Kulte praktizieren. Jede schwarze Kultur, jede kulturelle Bewegung aus der Favela, von Leuten mit weniger Privilegien, wird immer tabuisiert werden.

Ich selbst habe gerne eine sexuelle Konnotation in meiner Kunst, sei es durch die Art und Weise, wie ich tanze, oder indem ich darüber spreche, und zwar so, wie ich das möchte. Die Musik ist sehr sinnlich, die Leute lieben es so sehr, dazu zu tanzen. Und mittlerweile ist sie im Mainstream angekommen. Im größten Fernsehsender des Landes, TV Globo, siehst du täglich Baile Funk-Popstars im Programm, etwa in „Big Brother“. Im Fernsehen läuft ständig Funk-Musik. Der Kampf hat sich insofern gelohnt.

Du selber hast ein Stück mit dem Titel „Pussy Control“ – wie kam es dazu?

Das Stück habe ich zusammen mit Nego Mozambique und Amy Douglas gemacht. Es hat einen politischen Text: Warum Frauen die Welt regieren sollten, wie wir das schaffen, damit würden wir die Erde retten. Wir brauchen mehr weibliche Führungsfiguren. Das ist ein Appell für mehr Pussy Power – und für weniger Kriege!

Du singst meistens auf Portugiesisch, warum?

Beim Singen fühle ich mich im Portugiesischen zu Hause. Ich probiere gerade aus, ganze Stücke auf Englisch zu machen, fühle mich aber noch nicht hundertprozentig wohl damit. Aktuell nehme ich ein Stück in Portu-Spanglish auf. Die Pandemie hat uns zu Hause eingesperrt, und ich habe die Zeit genutzt, eine Menge Songs zu schreiben. Jetzt habe ich zehn beisammen, die ich hoffentlich dieses Jahr veröffentlichen werde. Ich habe ein paar Sachen gelernt, Gesangsunterricht genommen, weil ich in Zukunft mehr singen will, nicht nur rappen. Demnächst werde ich mich mit ein paar Producern treffen, mal gucken, mit wem ich am besten ein Album mit den neuen Songs veröffentlichen kann. Manche Producer sind etwas empfindlich wenn du ihnen sagst, dass du dies oder das ein bisschen anders haben möchtest; deswegen musst du als Team gut zusammenarbeiten. Das musste ich erst lernen, wie so vieles: Du unterschreibst den falschen Vertrag, wirst nicht angemessen bezahlt. Und als Solo-Künstlerin ist es echt nicht einfach. Da ich aber viele Featurings, also Songs, mit anderen zusammen gemacht habe, kennen mich jetzt immer mehr, die auch gerne mit mir zusammenarbeiten.

Eine Kollaboration, die sofort aufploppt, wenn man zu dir recherchiert, ist der Song „Boom Cha“, den du mit der mexikanischen Schauspielerin und Latinpop-Sängerin Anahí gemacht hast. Darin wirken die Funk-Parts von dir als exotisches Element, das allerdings wesentlich für den Charakter des Tracks ist. Wie kam es dazu?

Anahí ist ein Mega-Star, bekannt aus mexikanischen Telenovelas. Und die sind wiederum super beliebt in Brasilien – umgekehrt sind brasilianische Telenovelas auch in Mexiko total angesagt. Ich hatte anfangs keinen blassen Schimmer, wer sie war. Als mich dann der Producer DJ Cassiano, der mich übrigens ursprünglich dazu gepusht hatte, MC zu werden, wegen des Songs kontaktierte, sagte ich, o.k., ich probier’s. Ich nahm den Song auf und wusste zu dem Zeitpunkt immer noch nicht, wer sie war. Erst als der Song fertig aufgenommen war, erfuhr ich es: Wir kamen in Miami zusammen, um das Video zum Song aufzunehmen. Und das war eine Videoproduktion, die eine Million Dollar gekostet hat! Da erst dämmerte es mir, und ich googelte die Frau. Die interessanteste Erfahrung kam aber danach. Sie hat Millionen von Fans, auch in Brasilien. Als ihre Fans mitbekamen, dass es eine Zusammenarbeit mit mir gab, fingen sie an, mich unglaublich zu mobben. Tausende von Anahí-Fans deckten mich in den sozialen Medien mit bösen Kommentaren ein. Sie nannten mich „Müll“, „fürchterlich“, schließlich ist Baile Funk ja keine Musik, wie konnte Anahí es nur wagen, so einen Song zu machen! Ein ganzer Kübel voll klassistischer, rassistischer Vorurteile wurde über mich ausgekippt. Das war vor etwa fünf Jahren, als Baile Funk noch nicht den Mainstream erreicht hatte. Diese Reaktionen haben mir so viel Angst eingejagt, ich wusste gar nicht, wie ich reagieren sollte. Ich war noch nie dermaßen gemobbt worden. Mir wurde klar: Das ist also Cancel-Culture. Ich werde hier gerade ausgelöscht, nur weil ich mit einem Star einen Song mache. Nachdem der Song viral ging und Millionen von Klicks bekam, schrieben mir dieselben Fans erneut, wollten, dass ich ihnen verzeihe und sie auf Instagram nicht mehr blocke. No way, diese Leute haben keine eigene Meinung!

Seitdem überlegst du dir genauer, mit wem du zusammenarbeitest.

Absolut. Nina Simone sagte einst: Als Künstler*in musst du eine Message haben. Meine frühere Managerin hat mich stets gefragt: Weißt du, warum du Künstlerin bist? Was willst du den Leuten mitteilen? Das ist in meinem Kopf hängen geblieben. Du fragst dich auch, mit wem du zusammenarbeiten willst.

Was ist deine Botschaft?

Ich habe eine Menge zu sagen. Ich bin halb Asiatin, und aktuell ist das Leben für Asiat*innen in den USA echt hart, es gibt so viel Hass und Gewalt gegenüber der asiatischen Community; oder auch die grausame Behandlung von lateinamerikanischen Immigrant*innen in den USA, oder die schwarzen Menschen, die jeden Tag umgebracht werden. Das sind alles wichtige Themen. Natürlich will ich trotzdem weiterhin über Sex singen, finde es schön, sexy zu performen, mit dem Po zu wackeln, aber das ist nicht alles. Ein weiteres wichtiges Thema ist, wie wir von den Musikplattformen ausgebeutet werden, von denen wir nur einen minimalen Preis für unsere Kunst erstattet bekommen.

Dein neuster Song heißt „Vem meu amor“ (Komm her, meine Liebe), er ist durchdrungen von einer leichten Melancholie.

Der Producer des Tracks ist Au Contraire, er lebt in Brooklyn, er widmet sich Dancehall, Moombahton und brasilianischen Sounds. An ihm gefällt mir sein melodischer, irgendwie emotionaler Touch. 2020 war ein Jahr, in dem viele Leute sehr einsam waren, uns allen hat Liebe gefehlt, ein hoher Tribut für die mentale Gesundheit ist bezahlt worden. Deswegen wollte ich in dem Song über Liebe singen. Und Liebe geben. Ich singe davon, wie gerne ich mit dieser Person zusammen sein möchte, dass ich sie gerne in meiner Nähe hätte, nicht mehr länger warten möchte und sie so sehr vermisse. So fühlen wir alle ja gerade. Veröffentlicht wurde der Song übrigens am Valentinstag.

Funk Carioca scheint in den globalen Mainstream vorzudringen. Das zeigt etwa der Auftritt von Rapperin Cardi B bei der Grammy-Verleihung diesen März, wo sie ihren Hit WAP performte. Am Ende waren ein paar Takte im Baile Funk-Stil gehalten.

Cardi B ist echt super, ich habe großen Respekt vor ihr, und sie hat eine tolle Stimme. In ihren Instagram-Stories spielt sie immer mal wieder Baile Funk, sie hat Songs zusammen mit Pop-Funk Star Anitta gemacht. Auch Rihanna hat schon Funk Songs eingesetzt bei ihren Fenty Modenschauen, zum Beispiel einen Song von den 150 BPM Stars MC Kevin O Chris und MC Rebecca. Der Beat vom Funk ist einfach unschlagbar, er bringt dich in Bewegung, macht dich glücklich!

Was denkst du angesichts dessen über die Diskussion zu kultureller Aneignung, schließlich war es ursprünglich der Sound der Armen, der Schwarzen, der Marginalisierten, und der war verpönt.

Die Diskussion ist auf jeden Fall interessant. Das Gleiche ist mit House Music passiert, mit Reggaetón, Hip Hop – alle haben schwarze Wurzeln. Aber wenn es Mainstream wird, will jede*r an dem Spaß teilhaben. Die Tatsache, dass der Funk Mainstream ist, gibt den Baile Funk-Künstler*innen mehr Sichtbarkeit und damit Erfolg. Zugleich ist es auch kulturelle Aneignung. Wenn du nicht gut recherchierst und die Geschichte eines Stils nicht kennst, sie dann deinen eigenen nennst, ist das für mich kulturelle Aneignung. Wir müssen verstehen, wo die Musik herkommt. Und darüber kommunizieren.

Wenn etwas Mainstream ist, wird es jeder aufgreifen. Reggaetón hat jetzt Baile Funk umarmt und Baile Funk umarmt gerade Reggaetón. Reggaetón ist riesig in Brasilien! Es macht mich glücklich, wenn ich die Mega Baile Funk-Stars in Brasilien sehe, die weltweit Erfolge feiern: Anitta, Rebecca, Kevin O Chris, alle sind sie im Fernsehen und machen fett Kohle. Damit wird dem Genre der Respekt verschafft, den es verdient. Die Gesellschaft akzeptiert nun den Funk, aber bis dahin war es ein langer Kampf, besonders in den Favelas, wo die Funk-Fans mit den all den religiösen Leuten zu tun haben und die Polizei Funk DJs wie Rennan da Penha und Iasmin Turbininha verhaftet. Bist du schwarz in Brasilien, giltst du als kriminell.

Und es ist gut, dass Musik sich weiter entwickelt, dass wir uns austauschen. Dank des Internet ist das normal geworden, alle haben Zugang zu Informationen. Auf Instagram habe ich den Hashtag #interracialmusicbabies erstellt, weil ich mich damit identifiziere. Ich habe so viele musikalische Backgrounds, deswegen will ich meine Musik aus all dem erschaffen, was ich in meinem Leben erlebt habe.

Das Interview mit Zuzuka Poderosa führte Britt Weyde am 24. März 2021 per Zoom.