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Hässlich, aber angesagt

Tati Quebra Barraco, die Putaria-Ikone der ersten Stunde

Tati Quebra Barraco sagt, was ist: dass Frauen keine Heiligen sein müssen, dass und wie sie Spaß an Sex haben. Dass Marielle Francos Tod noch immer ungeklärt ist und dass die Modeindustrie keine Bikinis für große Vulvalippen im Angebot hat. Seit Anfang der 2000er rockt sie mit ihren unverblümten Texten internationale Bühnen und ist zur feministischen Ikone des Funk geworden.

Mirjana Jandik

Als Tatiana dos Santos Lourenço 1998 mit Freunden unterwegs ist, ahnt sie wahrscheinlich noch nicht, dass dieser Abend entscheidend für ihre spätere Karriere als eine der einflussreichsten Funk-Stars Brasiliens sein sollte. Zu dem Zeitpunkt ist Tatiana noch keine zwanzig, hat zwei Kinder und lebt in der Cidade de Deus, der wegen Armut, Drogenkriminalität und Polizeigewalt berüchtigten Favela Rio de Janeiros. Auf ihrem Twitter-Account berichtet die heute 41-jährige Funk-Sängerin, wie aus ihr Tati Quebra Barraco wurde: „Ich hatte drei Monate lang niemanden mehr flachgelegt (wenn ihr versteht, was ich meine). Die Typen in der Funk-Szene hatten ständig Flirts am Start. Unflätig wie ich bin, und geboren in Rio, der Wiege des Funk, haute ich in einer Runde mit Freunden ein paar Reime raus und ließ die Leute wissen, dass ich auf dem Trockenen saß.“ So entstanden die legendären Zeilen „Eu fiquei tres meses sem quebrar o barraco, sou feia mas tô na moda“ (Ich habe drei Monate niemanden flachgelegt, ich bin hässlich, aber angesagt). Jahre später sollte „Sou Feia Mas Tô Na Moda“ zu einem ihrer größten Hits werden – und auch ihr Bühnenname war geboren, aus Tatiana dos Santos Lourenço wurde Tati Quebra Barraco.

Die Unflätigkeit hat sich Tati bewahrt. Wo immer über sie geschrieben wird, heißt es, dass Tati kein Blatt vor den Mund nimmt. In ihren Songs geht es vor allem um eins: Sex. Tati Quebra Barraco, die Flachlegerin, rappt über Lust und Fantasien, über Selbstliebe und Empowerment. Vergleichsweise harmlos war noch ihr erster Song aus dem Jahr 2000: „Me Chama de Cachorra (que eu faço au au)“. In dem kurzen Track sampelt sie den Song „Dreams“ von The Corrs, macht daraus ein kurzes treibendes Techno-Funk Stück mit wenig Inhalt. Zum Mega-Star wurde Tati Quebra Barraco dann erst 2004 mit dem von der Szene-Größe DJ Marlboro produzierten Song „Boladona“. Auf ein Sample aus dem Song „Lovestory“ vom Elektro-Duo Layo & Bushwacka singt sie zweideutig über eine Wahnsinnsfrau, die ihre Bestie rauslässt. Ein gleichnamiges Album erscheint im selben Jahr, und Tati unternimmt ihre erste Auslandsreise – nach Berlin. In einem Interview mit dem Internetportal iG aus dem Jahr 2012 nannte sie diese Reise den wichtigsten Meilenstein ihrer damaligen Karriere. Ein Jahr nach Erscheinen des Albums Boladona steuerte sie 2005 drei Hits zur brasilianischen Telenovela „América“ bei, ein weiterer Bekanntheitsschub. Zu diesem frühen Zeitpunkt ihrer Karriere ist Mr. Catra, der die Funk-Szene von Rio seit den 1990ern maßgeblich mitprägte, ein wichtiger Mentor für die junge Künstlerin, wie sie sagt.

Zu einer Stunde, in der die Baile Funk-Szene absolut männerdominiert war, ist Tati Quebra Barraco eine weibliche Stimme, die auffällt. Zwar sagt sie selbst in einem Video der Plattform Universo Online, dass sie nicht die erste Funk-Sängerin war – diese Ehre gebühre MC Cacau. Sie sei aber die erste weibliche Interpretin des Putaria gewesen, jener Spielart des Funk, die sich durch mehrdeutige oder explizit sexuelle Texte und entsprechende Inszenierungen auszeichnet. Tatis Texte sind keinen Deut weniger obszön als die ihrer männlichen Kollegen, ihre Songs sind treibend, oft witzig, voller Power und ex­trem tanzbar. Mit der offenen Thematisierung und Betonung weiblicher Sexualität ist Tati Quebra Barraco zur feministischen Ikone geworden, die von sich selbst sagt, dass sie immer für Frauen und die LBST-Community sprechen und eintreten werde. Aber es ist kein anklagender Feminismus, den sie betreibt. Trotz struktureller Diskriminierung spricht Tati niemals aus einer Opferrolle und weist diese auch explizit von sich. So sagte sie 2019 gegenüber der Zeitschrift Marie Claire: „Ich habe zum Glück nie Diskriminierung oder Missbrauch erfahren, obwohl ich aus der Favela komme. Belästigung wird es immer geben, und sei es nur in Worten oder Gesten, wer kennt das nicht? Aber über unsere Körper bestimmen wir selbst, die Regeln machen wir.“

Nicht nur in ihren Songtexten, auch in öffentlichen Statements und auf ihren Social-Media-Kanälen redet die Sängerin über weibliche Lust und die Schönheit aller Körper – und das schon lange vor der Body Positivity-Welle auf Instagram. Dabei ist sie, die ihren Körper so zur Schau stellt, nicht frei von Widersprüchen. So berichten Medien besonders gerne über Tatis bislang 26 Schönheitsoperationen an allen möglichen Körperstellen. Vor allem ließ sie sich immer wieder Fett absaugen. Das ist übrigens keine Ausnahme in Brasilien. Das Land mit dem ausgeprägten Schönheits- und Körperkult verzeichnete 2019 laut International Society of Aesthetic Plastic Surgery mit 1,5 Millionen die allermeisten chirurgischen Eingriffe zu ästhetischen Zwecken weltweit (siehe den Schwerpunkt Körperkult der ila 392). Tati Quebra Barraco verkündet aber selbstbewusst, dass sie diese Eingriffe nicht vornehmen ließ, weil sie ihren Körper nicht möge. Vielmehr wolle sie sich selbst gerne immer wieder neu erfinden und ihr Erscheinungsbild verändern. Und auf eine etwas verrückte Weise nimmt man es ihr ab, der Ikone, die mit „Sou Feia Mas Tô Na Moda“ 2004 einen Mega-Hit landete. Ihr, die in der gleichnamigen 60-minütigen Dokumentation von Denise Garcia aus dem Jahr 2005 hochschwanger auf der Bühne ihren Po schwingt. Ihr, die mit ihrer rotzigen Stimme laut lacht und ins Mikro schreit: „Wem es gefallen hat, applaudiere! Wem es nicht gefallen hat – Geduld!“ Heute ist das ein geflügeltes Wort.

Ja, man nimmt ihr ab, dass sie mit sich selbst im Reinen ist, wenn sie öffentlich darüber schreibt, dass sie neben ihrem Bühnenleben auch eine zufriedene Ehe- und Hausfrau ist, die sich vor allem um ihre Kinder und Enkelkinder kümmert und ungern ihre Telenovelas am Nachmittag verpasst. In Interviews hat sie immer wieder betont, dass sie vor allem für ihre drei Kinder hart arbeite. Sie sollen es besser haben als Tatiana, die kaum Schulbildung genossen hat und in einer Schulküche arbeitete, als sie mit 13 schwanger wurde. Von ihren drei Kindern leben heute nur noch zwei. Ihr zweitältester Sohn kam im Dezember 2016 mit 19 Jahren bei einem Einsatz der Militärpolizei in der Cidade de Deus ums Leben. Noch immer ist die Favela im äußersten Westen der Stadt eine der gefährlichsten Gegenden Rios. Insbesondere seit 2018 das rechtskonservative Bolsonaro-Abziehbild Wilson Witzel zum Gouverneur der Stadt wurde, häufen sich Berichte über Polizeigewalt. Allein im Jahr 2019 tötete die Polizei von Rio de Janeiro 1810 Menschen, wie Niklas Franzen 2020 im Neuen Deutschland berichtete. Zum Verlust ihres Sohnes veröffentliche Tati Quebra Barraco damals einen langen Post auf ihren Social-Media-Kanälen und ließ ihre Fans an ihrer Trauer und Wut teilhaben.

In der Zwischenzeit befand sich Tati Quebra Barraco mitten in ihrer zweiten Karrierewelle. Nach ihrem Album Boladona von 2004 war es zunächst eine Weile still geworden um die Sängerin, es folgte eine längere Karrierepause. 2014 legte sie dann endlich nach und veröffentlichte mit „Se liberta“ nicht nur ein neues Album, sondern lancierte zum gleichnamigen Song auch den ersten Videoclip ihrer Karriere. Die Zeiten hatten sich wohl auch geändert, weibliche Stars waren mittlerweile präsenter in der Baile Funk-Szene, und ihre Appelle an weibliches Empowerment stießen bei einer neuen Generation von Feminist*innen auf fruchtbaren Boden, wie etliche Kommentare unter Tatis YouTube-Videos belegen. Was ihren Sound angeht, sagte Tati letztes Jahr in einem Interview mit dem Musikmagazin Observatório de Música, probiere sie zwar neue Sachen aus, bleibe aber doch ihren Wurzeln treu: dem Tamborzão, dem Voltmix und der neueren Strömung 150 BPM. Dieser Mix aus internationalen Sounds, bekannten Beats und bewährt-provokanten Texten zieht. In aufregenden Kooperationen hat Tati in den letzten Jahren zwei richtige Bretter produziert: 2017 den Song „Berro“ mit Heavy Baile (siehe Interview mit Leo Justi auf S. 20) und der Drag Künstlerin Lia Clark. 2019 folgte „Mamãe da Putaria“ zusammen mit ihrem Zögling MC Carol. Mit diesem Song machte Tati einerseits deutlich, dass sie noch immer die unangefochtene Rainha da Putaria, die Königin des Putaria ist, und präsentierte andererseits ihre Nachfolgerin auf dem Thron. Und diese könnte würdiger kaum sein. Mit MC Carol steht heute ein Star im Rampenlicht, dessen Körper noch mehr als jener von Tati Quebra Barraco mit gängigen Schönheitsstandards bricht, und dessen Texte mit explizit feministischen Botschaften geladen sind. Zusammen mit Karol Conká veröffentlichte sie 2016 den Song „100% Feminista“ – ein Identifikationsangebot an eine große Menge junger selbstbewusster Frauen. Die Funk-Szene scheint heute bunt und gut vernetzt, Schwarze Frauen, Queers und explizite Feminist*innen wie MC Carol, Karol Conká oder Linn da Quebrada genießen Sichtbarkeit und Einfluss. In Zeiten der rechtspopulistischen Regierung und der multiplen Krisen ist das von unschätzbarem Wert.

Und wie verbringt Tati die Zeit während der Pandemie, ohne Konzerte und Touren? Sie gibt zum Beispiel Beziehungstipps auf Instagram. Auf die Frage, ob es in Ordnung sei, trotz Liebeskummer bereits einen neuen Typen zu haben, sagt sie einfach: „Mega! Was leidet, ist dein Herz, nicht deine Vagina!“ Und sie regt sich über die Modeindustrie auf, die für real existierende Körper wenig zu bieten habe. So stellt sie fest, dass es keine Bikinis für Menschen mit großen Vulvalippen gebe. Ob große Vulvalippen zu den großen Themen unserer Zeit gehören, darüber können wir sicher streiten. Fest steht jedoch: Tati Quebra Barraco ist ein Vorbild, das Raster sprengt und kein Blatt vor den Mund nimmt. Eine Ikone, die lässig auf ihrem Twitter-Account schreibt: „Aber ich will mich hier nicht selber loben. Ich will euch einfach ein bisschen unterhalten in der Quarantäne.“