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Von kollektivierter Kunst und gemeinsamer Stärke

Das neue feministische Manifest „Verbrennt eure Angst!“ vom Kollektiv LASTESIS
Inga Triebel

Fast anderthalb Jahre ist es her, seitdem das Video der Performance „Un violador en tu camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) des chilenischen Kollektivs LASTESIS um die Welt ging. Nach der Erstaufführung in Valparaíso am 20. November 2019, dann auf den Straßen Santiago de Chiles anlässlich des Internationalen Tags gegen Gewalt an Frauen, füllten performende Körper schnell die Straßen zahlreicher Orte weit über Chile hinaus. Schnell wurde klar, sexualisierte Gewalt an Frauen- und LGBTQIA+-körpern passiert auf der ganzen Welt. So begannen Aktivist*innen die Performance an ihre Erfahrungen und Sprachen anzupassen. Und dass wir die Performance in unsere eigenen Kontexte übersetzen können, verdanken wir der (unbezahlten!) Arbeit der vier Ursprungs-LASTESIS-Frauen. So ist diese Performance beispielsweise das Ergebnis ihrer kreativen Arbeit an und mit den Ideen vieler Feminist*innen, unter anderem der Anthropologin Rita Segato, die Schriftstellerin Virginie Despentes und der Philosophin Silvia Federici.

Dieses Jahr erschien pünktlich zum feministischen Kampftag am 8. März ihr feministisches Manifest ¡Quemar el miedo! (Verbrennt eure Angst!). In sechs Kapiteln begegnen sie den Themen und Konflikten, die sie bereits in verschiedenen Theaterstücken sichtbar machten. Es sind gewaltvolle Themen wie Abtreibungen, sexualisierte Gewalt, Femizide, der repressive Staat, aber auch kollektive emanzipatorische Kräfte, wie die eigene Wut oder das Potenzial, durch Performances Veränderung herbeizuführen. In jedem Kapitel vereinen sie Erzählkunst und Anklage. Sie schreiben durch ein „Wir“, eine kollektive Verbindung der Erfahrungen, ganz nach der zu Beginn angeführten Stellungnahme: „Was eine von uns erlebt, erleben wir alle.“ Die unterschiedlichen Stimmen, die wir sonst auf verschiedenen Straßen und Plätzen dieser Welt hören würden, begleiten uns auch beim Lesen. Ausschnitte aus sechs Stücken des Kollektivs leiten in jedes Kapitel ein und nehmen uns mit, von imaginierten kollektiven Rufen aus dem öffentlichen Raum hin zu einer starken Stimme, die auch im Text nachhallt. So schaffen sie es, die Performance durch dieses Buch in alle Räume zu tragen, in denen es gelesen wird. Dieses Manifest ist ein Teil der im Buch beschriebenen „kollektivierte[n] Kunst, die über die gemeinsame Erfahrung zur eigenen werden kann“.

In dieser gemeinsamen Erfahrung die eigene (wieder) zu finden, kann einen Teil der Angst nehmen, die oft mit Erfahrungen systematischer Gewalt einhergeht, Gewalt, die über Körper ausgeübt und erfahren wird. Wie bereits in vorherigen Stücken benennt das Kollektiv die staatlichen Machtapparate, in welchen das Patriarchat im Zusammenspiel mit dem Kapitalismus tief verankert ist. Es ist die „Wut und Angst, dass man uns angreift, ermordet, vergisst“, die Frauen alltäglich erleben. Diese Angst wird so zum Teil eines Systems, das seine Macht missbraucht, um die Schuldzuweisung umzuschreiben, das das kollektive Wir dazu zwingen kann, aus dieser Angst heraus zu handeln, sich zurückzuziehen, zu schweigen. Das ist das Perfide an dieser systematischen Angst. Und genau hier fordern die Autorinnen des Manifestes: „Verbrennt eure Angst! Denn Wir sind viele, und Du bist nicht allein.“

Dass ihre Performance auf so vielen Straßen der Welt aufgeführt wurde, hat das Kollektiv in gleichen Maßen gerührt wie auch beunruhigt. Denn es zeigt auch, wie präsent systematische Gewalt gegen Frauen- und LGBTIQA+-körper in allen Teilen der Welt ist und wie nötig die Performance war. Ihre mediale Aufmerksamkeit wollen sie dafür nutzen, ihre künstlerische Arbeit fortzusetzen und sich notfalls immer und immer wieder zu wiederholen: „Wenn wir darüber hinaus zu einer Verbreitungsplattform für all diese Stimmen werden, dann werden wir das maximal nutzen. Wir sind Nervensägen und das soll uns recht sein.“ Ihr Manifest ist somit vor allem eins: eine Ansage.