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Kritik der kolonialen Moderne

Ausgewählte Texte des marxistischen Philosophen Bolívar Echeverría (1942–2010) fordern zu dessen Wiederentdeckung auf
Jens Kastner

Seit dem 15. Jahrhundert“, heißt es in einem Text von 1969, „entwickelte sich mit dem Entstehen des Weltmarktes ein mehr oder weniger kompliziertes System der Ausbeutung zwischen den Metropolen und den Kolonien.“ Dass dieses Ausbeutungssystem fortdauernde Effekte bis in die Gegenwart hat, ist der Tenor des Buches. Ihren analytischen und politischen Konsequenzen widmen sich die (ausnahmslos männlichen) Autoren unter dem Titel „Kritik des bürgerlichen Anti-Imperialismus“. Mitautor des Textes und Mitherausgeber des Bandes war der ecuadorianische Philosoph Bolívar Echeverría. Er hatte in Frankfurt am Main studiert, bevor er hier die dependenztheoretische Diskussion bereicherte, der zufolge die weltweite Ausbeutung nicht ohne die zwischen europäischen Zentren und der Peripherie in der sogenannten Dritten Welt waltenden Machtverhältnisse zu verstehen sind. Trotz dieser frühen und grundlegenden Positionierung ist Echeverría im deutschsprachigen Raum ein weitgehend Unbekannter. Auch die ihm und Adolfo Sánchez Vázquez gewidmete Studie des deutschen Lateinamerikanisten Stefan Gandler, „Peripherer Marxismus. Kritische Theorie in Mexiko“ (1999), hat daran wenig ändern können.

Mehr als fünfzig Jahre nach dem eingangs zitierten Text ist nun eine Aufsatzsammlung des marxistischen Theoretikers im Argument Verlag erschienen. Die Textsammlung, kenntnisreich und zugleich sehr nachvollziehbar eingeleitet von Javier Sigüenza, ermöglicht einen guten Überblick über die Themen und Thesen des 2010 verstorbenen Philosophen, der seit Anfang der 1970er-Jahre in Mexiko lehrte. Indem er von der dependenztheoretischen Feststellung ausgeht, dass koloniale Strukturen auch nach Beendigung der staatspolitisch-militärischen Besatzung weiterexistieren, lässt sich Echeverría zweifelsohne als Vorläufer der heutigen dekolonialistischen Theorieansätze bezeichnen. Während die Dependenztheorie allerdings gemeinhin ökonomische und soziologische Beobachtungen gegenüber kulturtheoretischen Fragestellungen priorisierte, finden sie sich bei Echeverría durchaus miteinander verknüpft. Koloniale Strukturen sind bei ihm nicht bloß Produktionsverhältnisse und Handelsbeziehungen. Sie finden sich darüber hinaus auch in den Sichtweisen der Menschen von sich selbst, in der kollektiven Identifizierung „in einer bestimmten geschichtlichen Lage“ (S. 178). Dementsprechend analysiert er immer wieder die widersprüchlichen Selbstverhältnisse unter kapitalistischen Bedingungen, die er mit Max Weber als verschiedene Formen von „Ethos“ bezeichnet. Auf der Basis der Erzeugung von Knappheit und des Zur-Ware-Werdens aller Lebensbereiche entstehen laut Echeverría „vier grundlegende Formen des Ethos“ (S. 198), mit denen sich das menschliche Handeln zugleich affirmierend und verändernd an die Gegebenheiten anpasst. Das „barocke Ethos“, so genannt wegen seiner prachtvollen Inszenierung des Lebens trotz widriger, also kapitalistischer Umstände, hat sich vor allem in Lateinamerika ausgebildet. Es hat indigene Praxisformen nicht nur unterdrückt, sondern auch integriert. Für diese Integration steht der Begriff der Mestizaje.

In den Mischformen (Mestizaje) sieht Echeverría aber, anders als der mexikanische Politiker und Philosoph José Vasconcelos, der das Konzept in den 1920er-Jahren prägte, keine Kombination naturgegebener Eigenschaften. Echeverría kritisiert den Essenzialismus, als „naturalistische Metapher“ (S. 222) könne die Mestizaje bloß auf feststehende Elemente zurückgreifen, die zu einer starren und unumkehrbaren Kombination aus beiden führten. Er plädiert dafür, diese naturalistische Perspektive aufzugeben und sich den Prozessen zuzuwenden, in denen symbolische Formen entstehen und durch Akteur*innen verwirklicht und verändert werden.

Die Kombination marxistischer Grundannahmen mit semiotischen, also den Gebrauch von Zeichen betreffenden Theorieansätzen gehört sicherlich zu den faszinierendsten Aspekten von Echeverrías Schriften. Dabei lässt er keinen Zweifel daran, dass eine kritische Theorie des Kapitalismus ein „privilegierter Ausgangspunkt für das Verständnis der Moderne“ (S. 84) sei. Von hier aus ließen sich das Fortwirken des Kolonialismus, die globale Arbeitsteilung und die kulturelle Mischungsverhältnisse, die sich aus ihnen ergeben, am besten rekonstruieren.

Bei aller Brillanz der theoretischen Konzeptionen wirkt schließlich doch befremdlich, dass Echeverría kein Wort verliert zur für die Moderne konstitutiven Trennung von öffentlicher und privater Sphäre und ihrer geschlechterpolitischen Konnotation. Die Geschlechterverhältnisse sind die große Leerstelle seines Ansatzes. Der Gedanke daran, dass soziale Ungleichheit auch entlang der Kategorie Geschlecht organisiert ist, kommt ihm selbst da nicht, wo er über die „Möglichkeit, seinen eigenen natürlichen Körper erkunden zu können“ (S. 120), als Versprechen der Moderne schreibt, dessen Einlösung vom Kapitalismus verhindert wird.

Wo er über Reproduktion spricht, geht es um den Gebrauchswert, als hätte es feministische Kritik nie gegeben. Echeverrías steter und tiefschürfender Anspruch, die Potenziale einer „alternativen Moderne“ zu bergen, bleibt ohne antipatriarchale Perspektive zumindest partiell unerfüllt. Nichtsdestotrotz ist mit der Textsammlung die Möglichkeit gegeben, einen anregenden Denker wiederzuentdecken, der seine soziophilosophische Analyse der katastrophalen Folgen des kolonialen Kapitalismus mit etwas verbindet, was er in einem Interview zur zapatistischen Bewegung als kennzeichnend für deren Politikverständnis beschreibt: „tiefes Vertrauen und Solidarität“.