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Uuun Alemáaan! strampelt durch die Atacama

Rezension: Auf den Spuren des Gedächtnisses der Wüste
Henry Schmahlfeldt

Bei der Recherche zum Thema Fahrrad und Lateinamerika stieß ich auf das Buch „Allein durch die Atacama: Eine Wüste bricht ihr Schweigen“ von Christian Hannig. Eigentlich wollten wir keine Berichte über Fahrradtouren bringen, das weltweite Web ist voll davon, aber der Klappentext klang vielversprechend, denn der Autor wollte „den Leser auf schmaler Radspur und neugierigen Schritten mit auf eine Reise durch die trockenste Wüste der Erde (nehmen), den Aufzeichnungen eines Chilenen (folgen): Schatzsuche in Ruinen, stumme Zeugen der Salpeter-Ära. Dazu die Einsamkeit als Begleiter und das blutige Vermächtnis Pinochets: Wüsten-KZ und Hinrichtungsstätten.“ Also genau die Mischung, die ich mir wünschte: Geschichte, menschliche Schicksale und die Verbindung zum Heute. Als ich erfuhr, dass es sich bei den Aufzeichnungen des Chilenen, denen er gefolgt war, um „Das Gedächtnis der Wüste: Meine Reise durch den Norden Chiles“ des bekannten chilenischen Autoren Ariel Dorfman handelte, war die Entscheidung für eine Rezension gefallen.

Das Buch kam an in DIN A5 gebunden, 160 Seiten, davon 16 mit 32 Farb- und zwei weiteren Schwarzweiß-Fotos und einer selbstgezeichneten groben Karte mit den wichtigsten Orten seiner Route. Auf dem Titel ein Wüstenbild mit Kreuzen, auf der Rückseite ein Bild mit einem Meer von Kreuzen in der Wüste und der Klappentext, dessen Ende verspricht: „Ein Buch, in dem die Atacama-Wüste ihr Schweigen bricht. Wer ihr ‚zuhört‘, wird dem Autor bis zum letzten Wort folgen.“ Ich war gespannt.

Anflug Santiago de Chile. Vom Flugzeug aus werden aus kleinen Hügeln „Müllberge, das quirlige Leben zwischen ihnen – Menschen! Chile begrüßt seine Gäste mit einem unerwarteten Anblick.“ Die Zöllner sind lediglich neugierig auf das Fahrrad. „Qué marca? – Auf mein gespielt stolzes Marca Alemana! folgt sogleich ein anerkennendes Kopfnicken.“ Zu unser aller Glück ist die deutsche Wehrmacht in den 40er-Jahren nicht bis nach Chile gekommen. Da kann man noch stolz sagen, „Soy alemán“, und alle Türen gehen scheinbar auf, zumindest zeigt es „eine ungewöhnliche Wirkung“. Davon ist unser Autor überzeugt. Auch mit seinem Alter kokettiert er gerne und zeigt auf seinen grauen Bart.

Von Santiago fliegt er nach La Serena am Rande der Atacama-Wüste, keine 500 Kilometer nördlich von Santiago. Einmal dort, entscheidet er sich, erst nach Süden zu fahren, um das „Vorzimmer der Wüste“ kennenzulernen. Um sich zu vergewissern, fragt er eine Frau nach der „Ruta 5“. Ein Fehler? „Die Frau hängt an ihre Antwort einen wahren Fragenkatalog und leider ist es manchmal so, dass man weiblicher Neugier oft erst den Mund mit Auskünften stopfen muss, ehe sie sich zufriedengibt.“ Da sprechen über 60 Jahre männliche Erfahrung. Manche kommen ihm scheinbar auch zu nahe. Das Essens- und Übernachtungsangebot der Verkäuferin eines der Stände unterwegs „klingt keineswegs klebrig, es ist eher von christlicher Gesinnung getragen. Trotzdem stelle ich mir scherzhaft die Szene vor: wir beide im Bett – und zwischen uns – die Bibel.“ Da geht wohl seine männliche Phantasie mit ihm durch. Er bedankt sich „artig“ und fährt weiter.

Auch Männer scheint sein Bart anzuziehen. Der nächste Wirt, der ihm eine Cazuela (chilenischer Eintopf) bringt, setzt sich zu ihm „unangenehm nahe. Es wirkt, als wolle er mit vom gleichen Teller essen. In mir spreizt sich etwas.“ Aber alles gut. „Bei dem Mann paarten sich wohl nur Gesprächsmangel und Neugierde.“ Ich bin erst auf Seite 16 und die Lust zu lesen lässt etwas nach. Ich wünsche mir, Egon Erwin Kisch wäre noch am Leben und würde durch die Atacama-Wüste „rasen“, egal auf welchem Esel.

Auch wenn manche mehr von Christian Hannig wollen, als ihm recht ist, nett sind sie alle und sehr hilfsbereit. Und immer wieder hört er zum Abschied „Con Dios“. Er meint wohl „Vaya con Dios“. Aber vielleicht schlucken die Chilen*innen das „vaya“, ich war noch nie in Chile. Der Umgang des Autors mit dem Spanischen hat mich von Anfang an gestört. Ich weiß nicht, ob und wie viel Spanisch er spricht, aber er macht viele Fehler, die er zumindest im Buch vermeiden könnte. „Norte Grande“, der nördlichste Teil Chiles, heißt bei ihm „Grande Norte“, so steht es auf seiner gezeichneten Route und wird stets wiederholt. Saliteras statt salitreras. Auch die Namen der Orte werden immer wieder falsch geschrieben, sind manchmal unauffindbar. Das „Pueblo Punilla“ suche ich noch heute, habe verschiedene Varianten versucht. Um seine Route nachvollziehen zu können, habe ich Google Maps, Google Street und Mapcarta zu Hilfe gezogen. Dabei habe ich festgestellt, wie weit das Googlewägelchen schon gekommen ist. Nicht nur die Panamericana, auch viele Nebenstraßen und oft kleinste Orte lassen sich durchgoogeln. Unglaublich. Da sieht manches nüchterner aus, als der Autor es uns vorschreiben möchte. Sehr genau nimmt er es mit den Namen. „Meine Reisetagebücher sind stets voller Namen, das macht sie zu Dokumenten.“ Fotos von den erwähnten Personen suche ich vergebens, und das im Selfiezeitalter! Schade. Manchmal wirken seine Schilderungen, als ob er einer der ersten Weißen ist, die durch die Atacama touren. Mit Fahrrad und in seinem Alter könnte das stimmen. Wie alt war er überhaupt zur Zeit seiner Reise? Nirgendwo steht das Datum seiner Reise. Absicht? Hannig ist Jahrgang 1941, also war er 2020 79 Jahre alt. Ein stolzes Alter, um die Atacama mit dem Fahrrad zu durchqueren, aber warum nicht. Mir ist aufgefallen, dass der Autor keinen der Wind- oder Solarparks erwähnt, die vor allem nach 2012 entstanden sind und die er hätte passieren müssen. Letztendlich lese ich im Weser Kurier vom 28. Juli 2015: „Aktuell hat er eins über die Atacama in Arbeit, eine Wüste im Norden Chiles, wo er vor zweieinhalb Jahren war. Also 2012? Ist nicht schlimm, immer noch ein stolzes Alter. Aber beim Lesen möchte ich wissen, in welcher Zeit ich mich bewege.

Ein paar Seiten weiter bestellte ich mir dann doch das Buch von Ariel Dorfman „Das Gedächtnis der Wüste“. Immerhin behauptet unser Autor, er habe diese Reise geplant, nachdem er das Buch von Dorfman gelesen habe. Dessen Buch ist ein sehr persönliches Werk. Prägend für sein Leben waren die Jahre der Unidad Popular, die Schmerzen des Exils und das Wiedertreffen mit dem Nach-Pinochet-Chile. Für Dorfman finden sich im Norden Chiles alle Ursachen für das Werden der chilenischen Nation: das Erbe früherer Kulturen, die Bodenschätze an erster Stelle, der Salpeter (das „weiße Gold“), später und bis heute das Kupfer, die Ursache für immense Vermögen im In-, aber vor allem im Ausland, gleichzeitig Grund für die große soziale Ungleichheit, die bis heute herrscht. Eine Vielzahl stillgelegter Salpeterminen und Geisterstädte mit ihren verwahrlosten Friedhöfen. Und ehemalige Lager für politische Gefangene der Pinochet-Diktatur, die in der Wüste ermordet und verscharrt wurden. Manches überlebt als Museum. All diese Orte und einige mehr besuchte auch unser Autor mit seinem Fahrrad. Chapeau bei der Hitze, dem Gegenwind und dem Verkehr, es gibt bestimmt angenehmere Fahrradtouren. Dass es nicht ganz ungefährlich ist, davon zeugen die vielen Hinweise am Straßenrand auf Verunglückte (genannt animitas in Chile). „Ich halte, steige ab. Ein Kreuz, das x-te! Was ist los mit euch Chilenos! Bist du am Steuer eingeschlafen oder warst du betrunken?“ „EN NUESTROS OCHOS QUEDO TU SONRISA JUNTO A DIOS.“ Hinterbliebene sahen den Toten „mit Gott lächeln“. Zitat Ende. Wenn ich dann lese: „An einer weiteren Fassade entdecke ich revolutionäre Worte, jedoch sind sie nicht mehr zeitgemäß. Sie erinnern an die Kommunistische Partei Chiles, UNICA SOLUCION REVOLUTION, gefolgt von dem russischen Begriff für Frieden MIR“ (MIR heißt eigentlich Movimiento de Izquierda Revolucionaria, der Rezensent), denke ich: Bin ich zu pingelig, wenn mich diese ganzen Fehler stören? Wenn er bei dem Ort Chiu Chiu permanent „Chiu Chui“ schreibt, die Posada los Pacharitos mit ch schreibt, das Begrüßungsschild „UNIQUE EN EL MUNDO“ statt UNICO. Es gibt Bücher, die ohne Lektorat auskommen, und obwohl dieses sein 13. Buch ist, hätte es dringend eines gebraucht, vor allem für das Spanische. Scheinbar reicht sein Spanisch auch nicht aus, um sich mit den Menschen länger zu unterhalten. Manches finde ich aufgebauscht. Er tut so, als ob die Atacama auf ihn „allein“ gewartet hätte, um endlich ihre Geheimnisse auszusprechen. In Chuquicamata, dem größten Kupfertagebau der Welt, verzichtet er auf eine geführte Tour, schleicht sich hinein und ist sich sicher, dass er „der erste Fremde (ist), der Zeuge eines unglaublichen Umweltfrevels geworden ist“. Ist aber alles schon längst bekannt. Heutzutage ist die ganze Welt schon abgegrast worden. Wenn etwas nicht gesehen wird, dann nur deshalb, weil wir es nicht sehen wollen.

Wer mehr über die Geschichte der Orte und der Menschen erfahren möchte, die in und um die Atacama-Wüste leben, arbeiten oder gearbeitet haben, der oder die ist besser bedient mit dem Original, sprich mit dem Buch von Ariel Dorfman. Aber dass ich dessen Buch gelesen und mich mit dem Norden Chiles beschäftigt habe, verdanke ich Christian Hannig. Es lohnt sich. Die Atacama-Wüste.

P.S.: Achtung Biker*innen (also Fahrradfahrer*innen): Nicht alles ist abgegrast. Aconcagua herunterfahren war schon, aber es fehlt noch eine kurze Strecke, etwa 110 km, zwischen Panama und Kolumbien, der Darien-Gap (Tapón del Darién). Sollte aber bald mit der richtigen Mischung aus Gravel- und Mountainbike und der Finanzierung durch Red Bull geschlossen werden. Nicht, dass Christian Hannig mit seinen 80 Jahren jetzt auf dumme Gedanken kommt.