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Wer die Proteste unterstützt, wird zur Zielscheibe

Interview mit Clemencia Correa über die internationale Misión S.O.S. Colombia

Vom 3. bis 12. Juli 2021 bereiste die 41-köpfige internationale Misión S.O.S. Colombia elf Landesregionen, um Zeugenberichte aufzunehmen und sich einen direkten Einblick in die Lage in Kolumbien zu verschaffen. Die Delegationsmitglieder kamen aus Nord-, Mittel- und Südamerika sowie mehreren europäischen Staaten. Gerold Schmidt sprach Mitte August mit Clemencia Correa, Delegationsteilnehmerin und Direktorin der mexikanischen Nichtregierungsorganisation Aluna, über die Erfahrungen vor Ort. Correa selbst musste vor knapp 20 Jahren aus Kolumbien ins mexikanische Exil fliehen.

Gerold Schmidt

Was war der konkrete Anlass für die Misión S.O.S. Colombia im Juli? Proteste und Repression gegen diese Proteste gab es bereits seit Ende April.

Die Lage in Kolumbien kam immer mehr ans Limit. Einige kolumbianische Organisationen wandten sich an ihre Kontakte im Ausland mit der Bitte, eine internationale Beobachter*innenmission zusammenzustellen. Sie baten um eine interdisziplinäre Zusammensetzung. Neben Menschenrechtler*innen, Jurist*innen, Journalist*innen, Kirchenvertreter*innen nahmen auch Soziolog*innen und Anthropolog*innen teil. Diese Vielfalt unterschied die Mission von vorherigen Besuchen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) sowie Delegationen aus Argentinien und Katalonien. Unsere Delegation mit Teilnehmer*innen aus insgesamt zwölf Ländern sollte komplementär zu diesen sein. Die Aufteilung auf elf verschiedene Regionen und Städte erlaubte uns, bestimmte Muster festzustellen und einen Überblick über die Situation landesweit zu bekommen, auch wenn wir nicht alle Regionen abdecken konnten. Wir waren unter anderem in Nariño, in Pasto, in verschiedenen Cauca-Regionen, in Popayán, ich selbst verbracht viel Zeit in Cali. Wir waren in Santa Marta, Barranquilla, Pereira, Manizales. Auch im Norden, in Santander, in Barranca, Bucaramanga, in Bogotá. Häufig kamen Personen, die von der Delegation hörten, aus den umliegenden Zonen, damit wir ihre Berichte aufnehmen konnten. Wir schafften das nicht in jedem Fall, so viele waren es.

Du sagtest, die Situation in Kolumbien käme immer mehr ans Limit. Wie drückt sich das konkret aus?

Der Hintergrund der derzeitigen Situation sind die 2016 unterschriebenen Friedensabkommen. Sie wurden nicht umgesetzt. Wir sprechen zudem von zahlreichen seitdem ermordeten sozialen Führungspersönlichkeiten und früheren Guerillakämpfer*innen in verschiedenen Landesteilen und vielen gewalttätigen Aktionen der Regierung. Allein in diesem Jahr hat es mindestens 56 Massaker in Kolumbien gegeben.

Kannst du kurz erklären, wie ein Massaker definiert wird?

Ein Massaker liegt vor, wenn mehr als vier Personen zur selben Zeit am selben Ort ermordet werden. Einige Organisationen argumentieren, ein Massaker liegt ebenso vor, wenn die Morde in einer bestimmten Zone stattfinden, mehr oder weniger simultan geschehen, von denselben Täter*innen begangen werden. Wir erleben derzeit vor allem die Morde an Jugendlichen in Kolumbien.

Die Morde sind die extremste Form der Repression. Welche verschiedenen Formen der Repression hat die Delegation vorgefunden?

Allgemein möchte ich die exzessive, unverhältnismäßige und auch zynische Gewaltanwendung erwähnen. Das Verprügeln der Jugendlichen, und zwar nicht nur der jugendlichen Demonstrant*innen. Die Festnahmen von Personen, die Fotos machen. Die Mischung aus selektiver und willkürlicher Repression. Ich spreche da von einer Terrorstrategie. Die bewaffneten öffentlichen Kräfte sind nur ein Bestandteil davon. Ein anderer Teil besteht aus psychologischem Terror sowie dem Gebaren der Massenmedien.

Einige konkrete Beispiele: Ein Jugendlicher wird vom ESMAD, dem Sonderkommando für die Aufruhrbekämpfung, gepackt. Sie nehmen ihn mit sich, drücken ihm die Luft ab, schlagen ihn. Wenn er schon eine Wunde hat, schlagen sie absichtlich darauf, bis sie vollständig aufplatzt. Es geht nicht darum, ihn einfach zu verhaften, sondern ihm tiefgehenden Schaden zuzufügen.

Waffen werden mit nicht erlaubten Munitionen eingesetzt, um möglichst brutal zu wirken. So schießt das angeblich nicht tödliche Venom-Dispositiv spezielle Gummigeschosse ab. Wenn es direkt auf die Menge gerichtet oder mit anderer Munition versehen wird, sind die Folgen dennoch oft tödlich. Ich selbst habe eine Zeugenaussage über mit Nägeln versetzte Geschosse gehört. Nägel infizieren und entzünden deinen Körper. Das ist nicht nur eine physische, sondern auch eine psychologische Botschaft. Oder es wird eine Art Murmelgeschosse verwendet. Sie haben einen anderen Effekt, zerstören innere Organe. Wir haben auch Aussagen gehört, dass Geschosse teilweise mit Fäkalien versetzt waren.

Oder es wird direkt auf die Augen abgefeuert. Das geschieht nicht zufällig, es wird auf die Sehkraft, auf die konkrete Verletzung abgezielt. Wieder ist die Botschaft klar. Das zeigt sich, wenn 20 Jugendliche zusammen sind und allen ein Auge fehlt. Es geht um eine kollektive Verletzung.

Dann sind da die Hubschrauber, die die Demonstrant*innen während und nach den Demonstrationen mit Infrarotstrahlen markieren und sie zur Zielscheibe für Scharfschützen machen. Hier geht es um direkte Tötung.

Ein weiteres Element: Nach den Protesten dringen die Sicherheitskräfte gewaltsam in Gebäude und Wohnungen ein und decken sie mit Tränengas ein.

Als Unterdrückungsstrategie möchte ich auch den Hassdiskurs erwähnen. Ein Narrativ, das unter anderem Massenmedien wie Caracol Radio, der Fernsehsender RCN, die Mediengruppe Semana schaffen. Es sind große Unternehmen, die mit ihrem Diskurs nicht nur polarisieren, sondern Repression und Tote legitimieren. Dieser Diskurs zielt darauf ab, die Vernichtung der anderen, einer ganzen jungen Generation zu rechtfertigen. „Vandalen“, „Terroristen“, „Rote“. Eine Generation wird als Vandalen bezeichnet, weil sie um das Recht zu essen bittet. Das gilt schon fast als Terrorismus in diesem extremen Diskurs. Genauso wie die Bitte um Würde.

Wer unterstützt, wird selber zur Zielscheibe. Die methodistische Kirche in Cali hat zu den solidarischen Kirchen gehört. Sie hat den Jugendlichen Essen gegeben, ihre Zeugnisse gehört. Jetzt ist ihr Pastor bedroht. Ohne die Solidarität der Mütter, ohne andere Personen aus den Stadtvierteln, die die Gemeinschaftsküchen organisierten, wäre der Protest gar nicht möglich gewesen. Viele der Mütter mussten sich deswegen verstecken. Uns liegen zwei Aussagen von sexueller Folter an ihnen vor.

Die Proteste hätten ebensowenig ohne die Gesundheits­brigaden durchgehalten. Diese werden hauptsächlich von Universitätsstudent*innen und Krankenpfleger*innen und solidarischen Sanitäter*innen gebildet, wir haben mit den Brigaden gesprochen. Die Mehrheit von ihnen wird bedroht. Wir haben zwei Aussagen, dass ihnen Material zerstört wurde, während sie die Leute behandelten. Es wurden Behelfslazarette eingerichtet, auch gegen diese gab es Drohungen. Dies vor dem Hintergrund, dass im Cauca-Tal und anderen Regionen die jungen verwundeten Leute in öffentlichen Krankenhäusern von der Polizei aufgespürt und verhört wurden.

Uns treibt die Sorge um die Menschenrechtsorganisationen um. Auch alternative Medien werden ständig bedroht, in Cali der lokale Fernsehsender Canal 2. Ohne ihre Arbeit gäbe es keine Vorstellung von dem, was vor sich geht. Die Mitarbeiter*innen riskieren ihr Leben.

Was kannst du über Folterpraktiken sagen?

In Buga attackierte das ESMAD die Demonstrant*innen, dahinter kam die Armee. Das ESMAD schoss, es gab Tote. Die Demonstrant*innen versteckten sich teilweise in umliegenden Zuckerrohrfeldern. Doch die Armee umstellte sie, kesselte sie bis zu zwei Tagen ein. Es gibt Berichte, allerdings nicht uns direkt gegenüber, dass junge Mädchen in den Feldern mehrfach vergewaltigt wurden. Die sexuelle Gewalt wird in ihren verschiedenen Formen als Terrorstrategie gegen die Frauen angewandt. Überall, wo wir waren, haben wir davon gehört. In Popayán wurde der Fall der jungen Frau Alison bekannt, die Fotos von einer Demonstration machte. Auf einem Video ist zu sehen, wie vier Polizisten sie ergreifen, ihr die Hose herunterziehen und sie zur Polizeistation schleppen. Es ist unklar, was sie genau mit ihr machten. Sie kommt schwer zugerichtet nach Hause und begeht Selbstmord. Dieser Vorfall hat große Aufmerksamkeit erregt. Viele Fälle sind bisher nicht angezeigt worden, über das Thema sexuelle Gewalt wird oft geschwiegen.

Zu der Repressionsstrategie gehören auch willkürliche Verhaftungen. Die Zeug*innen, die wir hörten, erwähnten Haftzentren, die keine Gefängnisse sind. Einige sind Folterorte. Das Ausmaß können wir noch nicht richtig dimensionieren. In Kolumbien gibt es die Rechtsfigur der Vorbeugehaft, ein ironischer Name. Die Jugendlichen werden vorbeugend verhaftet und nach ihren vielstimmigen Aussagen auf verschiedene Art gefoltert.

Stimmt es, dass ein großer Teil der Oberschicht die Repression mitträgt?

Wir haben den Fall der „feinen Leute“ im Cauca-Tal. Dort lebt eine gut gestellte elitäre Klasse, die sich für etwas Besseres hält. Als die in der Minga organisierten Indígenas nach Cali kamen, um die Proteste zu unterstützen, gingen einige Angehörige dieser Elite auf die Straße und schossen um sich. Sie sagten den „zerlumpten Indios“, sie sollten in ihre Dörfer zurückgehen. An helllichtem Tag verletzten sie sieben Indigene einfach so, ohne dass die Polizei eingriff. Es gibt das Bild einer zivilen Person, die, von der Polizei geschützt, auf eine Demonstration schießt. Und die öffentliche Justiz stellt sich noch hinter diesen Diskurs von der „Selbstverteidigung“. Ein Ding ist, darüber zu lesen oder zu hören. Etwas anderes, direkt mit den Zeug*innen zu sprechen. In dem Konflikt wird auch die Diskriminierung von Afro-Kolumbianer*innen und Indígenas überdeutlich.Viele Indigene können sich nicht mehr mit ihren rot-grünen Halstüchern der Minga zeigen, ohne Todesdrohungen zu erhalten.

Die Repression scheint sich massiv gegen die jungen Leute zu richten, die der primera línea angehören. Zerstört der Staat damit nicht die neuen Generationen, seine Zukunft?

Welche Zukunft? Wenn die Jugendlichen in der Gegenwart keine Lebensgrundlage haben, können wir nicht von einer Zukunft sprechen. Wir sprechen von Jugendlichen, die nicht der Oberschicht angehören, die keine ökonomischen Möglichkeiten haben, an die Universität zu kommen und ihren Beitrag zum Kapitalismus zu leisten. Die von der Elite und der Regierung gedachte Zukunft ist kapitalistisch und unternehmerisch. Für sie handelt es sich bei der neuen Generation um „unproduktive“ Jugendliche. Der Begriff der „sozialen Säuberung“ wird in Kolumbien wieder im Mund geführt. Der frühere Präsident Álvaro Uribe erklärte: „Wir müssen das Land gegen diese Vandalen militarisieren.“ Im März 2022 sind Wahlen, und die Eliten haben große Angst, die Macht zu verlieren. Diese Angst macht sie aggressiver als je zuvor.

Wie schaffen es die Demonstrant*innen, so lange durchzuhalten?

Das haben wir uns in der Delegation angesichts der Repression immer wieder gefragt. Erstmals gehen in Kolumbien die Jugendlichen der unteren Volksschichten auf die Straße. Das ist ein Meilenstein. Diese jungen Leute gehen auf die Straße, weil sie nichts mehr zu verlieren haben. Ich habe das wortwörtlich gehört: „Ich habe nichts zu verlieren, wenn sie mich umbringen, bin ich schon tot.“ Oder: „Ich habe nichts zu essen, keine Gesundheitsversorgung, kann meine Familie nicht ernähren, also setze ich mein Leben auf‘s Spiel.“ So kommt es zum Phänomen der primera línea.

Sie setzt sich der bisher brutalsten Unterdrückung aus, die es in Kolumbien gegen Proteste gegeben hat.

Helfen Kunst und Musik, die Symbole, diesen Konflikt auszuhalten?

Ich glaube, wir Kolumbianer*innen sind sehr kreativ, diese Kreativität entsteht auch in Grenzsituationen. Die Kunst, die Feier, die Musik sind eine Widerstandsform in Kolumbien gewesen, beispielsweise der Rap, die Cumbia, der Vallenato. Auf vielen Fotos kannst du sehen, wie die Straßenwände bemalt werden. In einem symbolischen Akt stürzte die Bevölkerung in verschiedenen Orten Denkmäler der Personen vom Sockel, die politische und ökonomische Macht einer Klasse bedeuteten. Am Heldenplatz in Bogotá schrieben die Jugendlichen auf das Denkmal von Bolívar die Namen der falsos positivos, der vom Militär als angebliche Guerrilleros ermordeten Menschen. In Cali, aber soweit ich weiß auch in Popayán oder in Pasto, gibt es kleine Polizeistationen in einigen Stadtvierteln, die sogenannten CAI. Während die Polizei in Cali gegen die Demonstrationen vorging, besetzten die Jugendlichen eines dieser Zentren, bemalten es wunderbar und machten eine Bibliothek daraus, sie nennen es ihren „Büchergarten“. Kinder und Jugendliche kamen, um zu malen und zu lesen, es entwickelte sich zu einem Kulturzentrum, das eine Lücke füllte. In Cali entstand im Mai und Juni das Denkmal für den Widerstand. Der Staat übermalt, säubert, was nicht mit seinem Projekt und seiner Ansicht von Leben übereinstimmt.

Wie kann sich etwas ändern?

Die große Gefahr ist, dass die internationale Gemeinschaft nicht reagiert. Wir konnten mit einigen Botschaften sprechen und sehen beispielsweise mit großer Sorge, dass es keine einheitliche Antwort der Europäischen Union gibt. Mit der Logik der Nicht-Intervention weichen die Mitgliedsländer aus. Es herrscht Schweigen, ich weiß nicht, ob ich so weit gehen soll, es als komplizenhaftes Schweigen zu bezeichnen. Die CIDH war da, doch die Regierung hat sie nicht beachtet. Es gibt Erklärungen der UNO, die Regierung schlägt sie ebenfalls in den Wind, genauso wie Äußerungen von Amnesty International. Es existiert kein wirklicher Druck auf die kolumbianische Regierung.

Der vorläufige Bericht der Misión S.O.S. Colombia ist unter anderem unter dem Link https://coeuropa.org.co/mision-sos-colombia-informe-preliminar/ abrufbar. Der endgültige Bericht wird voraussichtlich in der zweiten Septemberhälfte erscheinen.