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Wir kämpfen, bis die Wahrheit ans Licht kommt

Daniel Stiven Sánchez – eines der vielen Opfer der Polizeigewalt in Cali

Es sind Aufnahmen wie aus einem Horrorstreifen. Gefilmt mit verwackeltem Handy. Ein Jugendlicher liegt mit in die Luft gestreckten steifen Gliedmaßen auf einem Gehweg. Er trägt hochgekrempelte Jeans, Socken und weiße Sneaker. Sein Oberkörper ist von einem langärmeligen T-Shirt bedeckt. Schuhe von zahlreichen Personen sind zu erkennen, die um den toten Körper herumstehen. Eine Männerstimme ist zu hören: „29. Mai 2021, DollarCity in Siloé, einer der Jungen, die tot aufgefunden wurden“. Die Menschen haben im Laufe der Proteste in Cali gelernt, Horrorszenarien wie diese zu dokumentieren und festzuhalten, wann und wo etwas passiert ist. Nicht selten sind diese Handyvideos später ein wichtiges Beweismittel, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Am selben Tag kursiert ein weiteres Video von dem Toten. Finger zeigen auf blaue Flecken und Verletzungen am Körper. Handschuhe rücken die Perlenkette am Hals des Toten zurecht, um die Leiche zu identifizieren. Während des Streiks wurden zahlreiche Leichen durch Veröffentlichungen in sozialen Netzwerken aufgrund ihrer Tattoos oder Schmuck von Familienangehörigen identifiziert. So auch in diesem Fall.

Gabriel Engelbart

Der Tote heißt Daniel Stiven Sánchez Quiceno, 16 Jahre alt, wohnhaft im Viertel El Cortijo in der Comuna 20 von Cali. Er ist einer von zehn verifizierten Toten am Blockadepunkt in Siloé, die unmittelbar im Zusammenhang mit dem Generalstreik gestorben sind. Wahrscheinlich sind es noch weit mehr, denn noch immer wird nach Verschwundenen gesucht. Oft werden sie noch Wochen nach der Aufhebung der Blockadepunkte tot aufgefunden. Die Comuna 20 liegt am Hang an den Ausläufern der Berge, die sich im Westen über der Stadt erheben. Die Häuser stapeln sich den steilen Hügel entlang, verbunden durch Treppen und Gassen. Die Viertel genießen keinen guten Ruf: Armut, Banden und Drogenkriminalität sind für die meisten Bewohner*innen Alltag. Doch das soziale Netzwerk ist dicht und die Leute kennen sich, trotz aller Spannungen. 16 verschiedene Combos aus dem Viertel hatten sich auf unterschiedliche Straßensperren verteilt. „Zum ersten Mal stehe ich morgens auf und weiß, was ich zu tun habe. Noch nie wurde mir so oft auf die Schulter geklopft“, sagt Carlos. Er steht für eine junge Generation, die das Gefühl hat, für die Gesellschaft überflüssig zu sein. Für eine Zeit waren die unsichtbaren Grenzen im Viertel aufgehoben und die Auseinandersetzungen zwischen Banden an den Barrikaden ausgesetzt.

Im Viertel selbst wurden alle Polizeistationen abgefackelt, aus Rache. In einer Horrornacht am 3. Mai – wenige Tage nach Beginn des Generalstreiks –, als Bewohner*innen Kerzen in Gedenken an zwei verstorbene Jugendliche angezündet hatten, wurde scharf geschossen. Die Energie- und Wasserversorgung im Viertel wurde abgestellt, Telefon- und Internetverbindung gekappt. Eine Strategie, die sich in anderen Vierteln wiederholte, um die Bevölkerung zu terrorisieren und Beweise zu vertuschen. In einem sozialen Netzwerk postete ein Polizist unter einem Foto in Siloé „Cali of Duty“ (nach dem Videospiel „Call of Duty“). Allein in dieser Nacht sind drei junge Menschen dieser Art von ‚Kriegsspiel‘ zum Opfer gefallen. Der nächtliche Terror staatlicher Sicherheitskräfte erreichte paradoxerweise, was die Ausgangssperren während der Pandemie nie so ganz durchsetzen konnten: den allabendlichen Einschluss der Caleños in ihren Häusern.

Doch die Proteste hielten in Cali wochenlang an und legten die komplette Stadt lahm. Zwischenzeitlich kam es zu Lebensmittelknappheit und Engpässen bei der Benzin- und Gasversorgung. Auch am 28. Mai gingen die Leute massenhaft auf die Straße, um einen Monat Generalstreik zu feiern. Eine der Großdemonstrationen begann am Kreisverkehr in Siloé, denn der Blockadepunkt galt symbolisch als eines der wichtigsten Widerstandsnester gegen die Polizeigewalt – trotz der zahlreichen Toten. Eine schwarzgekleidete Frau mit Schutzbrille und Basecap trägt ein selbstgemaltes Transparent: „Heute muss man sich nicht in weiß kleiden, denn mein Land ist in Trauer.“ Als hätte sie geahnt, was ein paar Stunden später passieren würde.

An der Militärkaserne leiten zahlreiche Menschenrechtsbeobachter*innen und Aktivist*innen der sogenannten Ersten Reihe den Protestzug auf die gegenüberliegende Straßenseite, um zu deeskalieren. Eine junge Frau posiert mit einem Plakat vor den Militärs am Haupteingang: „Nos siguen matando“ (Sie bringen uns weiter um). Die Menschenmasse schlängelt sich an den halbgeöffneten Barrikaden vorbei, die in fünfzig Meter Abstand hintereinander am Blockadepunkt Meléndez in der Nähe der öffentlichen Universität stehen. In den ausgebrannten Bushaltestellen befinden sich ein DJ-Pult, eine Bibliothek und ein Garten mit Kräutern. An hohen Bäumen hängen Künstler*innen an langen Stoffbahnen. Auf der riesigen Straßenkreuzung spielen Bands, die Töpfe der Volksküche brodeln und eine Capoeira-Gruppe führt zu brasilianischer Musik ihre Akrobatikkünste vor. Das Ende des Protestzuges hat fast Volksfestcharakter. Vor einer umfunktionierten Tischdecke mit Luftballons am Maschendrahtzaun und der Zahl 30 lassen sich Protestierende zum Jubiläum des Generalstreiks fotografieren. An dem Tag ist zu spüren, dass die Blockaden auch die nächsten Wochen weitergehen werden.

Als Teile der Protestierenden dann nach Siloé zurückkehren wollen, drehen sie plötzlich panisch um und schreien: „Es wird scharf geschossen.“ Sie lügen nicht. Wieder einmal belegen Handyvideos das Unfassbare. Aus einer nahegelegenen Polizeistation schießen Polizist*innen mit scharfer Munition wahllos auf Menschen am Blockadepunkt des Kreisverkehrs. Scheinbar nutzten sie die Gunst der Stunde und die Abwesenheit der Ersten Reihe, die sich am Protestzug beteiligt hatte. Der Beschuss setzt sich bis in die Abendstunden fort, auch Gasgranaten werden immer wieder abgefeuert. Ein Räumpanzer steht nur einen Straßenzug vom Kreisverkehr in Siloé entfernt, zum Schutz der Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD nahe des Kaufhauses DollarCity. Das Kaufhaus wurde bereits mehrmals geplündert, viel war hier nicht mehr zu holen. Die mittlerweile zurückgekehrte Erste Reihe von Siloé verteidigte an diesem Abend den Blockadepunkt. Einige Zeugen sagen später aus, dass sich auf dem Dach des Kaufhauses vermummte Personen befanden, die nicht zu ihnen gehörten. Es kommt zu Straßenschlachten. Verletzte bleiben auf der Straße liegen. Die selbstorganisierten Gesundheitsbrigaden versuchen, sich den Opfern zu nähern und Erste Hilfe zu leisten. Doch der Beschuss zwingt sie zum Rückzug, wie Sanitäter*innen später zu Protokoll geben. Sie hatten auch versucht, Daniel Stiven zu versorgen, der aufgrund von Verletzungen nicht mehr davonlaufen konnte. Sie bezeugen, dass der Verletzte von Polizist*innen in den Räumpanzer gezerrt wurde. In derselben Nacht geht das Kaufhaus in Flammen auf und wird erst in den Morgenstunden von der Feuerwehr gelöscht. In ihrem Einsatzprotokoll tauchen weder Tote noch Verletzte auf. Zu keinem Zeitpunkt seien sie von der Polizei darüber informiert worden, dass Plünderungen stattgefunden hätten oder dass Menschen im Kaufhaus eingeschlossen gewesen seien. Nichtsdestotrotz barg die Feuerwehr am nächsten Tag, dem 29. Mai, Daniel Stiven. Der Bericht der Gerichtspolizei nach ersten ärztlichen Untersuchungen leugnet Schussverletzungen oder Spuren von Gewaltanwendung.

Er wird kurz darauf in die Gerichtsmedizin gebracht. Tagelang versucht seine Familie, Sohn und Bruder zu sehen und zu identifizieren, doch ohne Erfolg. Im Verlauf der Untersuchung des Körpers seien keine Besuche gestattet, heißt es. Laut offiziellen Stellen habe es sich bei Daniel Stiven um einen Vandalen gehandelt, der das Kaufhaus plündern wollte und es in Brand gesteckt habe. Die Familie bestreitet diese Version von Beginn an. Daniel Stiven sei von der Arbeit in einer Schweißerwerkstatt auf dem Weg nach Hause gewesen und zufällig in die Auseinandersetzungen geraten. Er habe weder protestiert, noch sei er Teil der Ersten Reihe gewesen. Im Gegenteil, er habe Angst gehabt, an den Protesten teilzunehmen. Auf einer Gedenkveranstaltung zwei Tage nach dem Tod macht sie staatliche Sicherheitskräfte für den Tod des Jungen verantwortlich. Sie glaubt der Version der Zeug*innen, dass er in den Räumpanzer gezerrt, gefoltert und getötet wurde. Erst danach habe man ihn ins Kaufhaus verschleppt. Diese Version versucht die Familie zu belegen und hat zahlreiche Beweise gesammelt.

Tatsächlich weist der Fall Ungereimtheiten auf. Laut Gerichtsmedizin sei Daniel Stiven an einer Rauchvergiftung erstickt. Die Folterspuren auf den Fotos werden an keiner Stelle erwähnt. Außerdem verdächtig: Die Leiche hätte beim Ausmaß des Brandes vollkommen verkohlt sein und von der Feuerwehr aufgefunden werden müssen. Die Schwester Crisol kämpft mit ihrer Anwältin auch drei Monate nach dem Tod von Daniel Stiven um die chemischen Proben der Kleidung und weitere Details der gerichtsmedizinischen Untersuchungen. Sie werden zwischen Staatsanwalt und Gerichtsmedizin hin- und hergeschickt, vergebens. Beide berichten, dass der Körper beim Eintreffen im Bestattungsinstitut vollkommen entstellt gewesen sei. Die Gerichtsmediziner*innen hätten ganze Körperfragmente entfernt, just an den Stellen, wo die Familie und Anwälte Beweise für Folterspuren vermuten. Das Gebiss war entfernt. Die Löcher im Körper seien notdürftig mit Plastiksäcken ausgestopft worden. Eine Demütigung und infame Verletzung der Trauer der Opfer, so die Anwältin. Auch die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft gehen schleppend bis gar nicht voran. Drei Monate nach dem Tod zuckt der verantwortliche Staatsanwalt nur mit den Schultern, bittet die Opfer um Fotos und Videos, die Nennung von Zeugen. „Wer leitet eigentlich die Untersuchung und muss Beweise für verschiedene Hypothesen vorlegen?“, fragt die Anwältin den Staatsanwalt.

Die Beweisführung und öffentliche Anklage staatlicher Sicherheitskräfte ist in Kolumbien gefährlich. Magaly von der Gesundheitsbrigade habe mittlerweile alle Videos und die Chat-Gruppe gelöscht. Staatlichen Stellen traue sie nicht, erst recht nicht der Staatsanwaltschaft. „Der Staat hat auf uns geschossen und uns umgebracht. Wo soll ich mich also nun hinwenden?“, fragt sie. Sie ist eingeschüchtert, nachdem sich ihr im Einkaufszentrum ein Mann genähert und ihrer Tochter mit dem Tod gedroht habe, wenn sie weiter die Erste Reihe und Erste Hilfe unterstütze. Ähnlich ergeht es der Familie von Daniel Stiven. Bereits vier Tage nach der öffentlichen Anklage in verschiedenen Medien erhielten sie Morddrohungen und mussten ihr Haus in El Cortijo verlassen. Crisol berichtet, sie seien bereits viermal umgezogen, die Mutter und die Schwestern verließen aus Angst das Haus nicht. Immer wieder seien bewaffnete Männer vor ihrem Haus aufgetaucht und hätten Fotos gemacht. Seitdem kämpft die Familie um ein Schutzprogramm für Opfer. Crisol bereut mittlerweile ihr öffentliches Auftreten nach dem Tod ihres Bruders. „Normalerweise bin ich eher zurückhaltend, doch aufgrund der Trauer, der Wut über die infamen Behauptungen der offiziellen Stellen und der Ohnmacht gegenüber dem Staat haben wir unvernünftig reagiert“, sagt sie. Sie wisse, dass die Täter in Kolumbien nicht zur Verantwortung gezogen werden würden, aber sie wolle zumindest wissen, was genau mit ihrem Bruder passiert sei. Das allein sei Grund genug, um weiter für die Wahrheit zu kämpfen.